Mikronährstoffe

Zytostatika (Cisplatin, Ifosfamid) und L-Carnitin

L -Carnitin ist eine körpereigene quartäre Ammoniumverbindung, die in der Leber und den Nieren aus den essenziellen Aminosäuren L -Lysin und L -Methionin gebildet wird. Für die endogene Synthese ist der Organismus auf eine adäquate Verfügbarkeit der Cofaktoren Eisen, Vitamin C, Pyridoxin und Niacin angewiesen. Als Speicherkompartiment dient hauptsächlich die Skelettmuskulatur. Aus Sicht der Evolution zählen die L-Carnitin-abhängigen Stoffwechselwege neben der Glykolyse zu den ältesten.
L -Carnitin

Im menschlichen Organismus übernimmt L‑Carnitin eine zentrale Rolle bei der mitochondrialen Energiegewinnung aus dem oxidativen Abbau langkettiger Fettsäuren (Abb. 1). Daneben übt L‑Carnitin eine Reihe weiterer essenzieller Funktionen im Stoffwechsel aus, die oft weniger beachtet werden (s. Kasten). L‑Carnitin und L‑Carnitin-Acyltransferasen beeinflussen die Verfügbarkeit von Fettsäuren und/oder Acyl-Coenzym-A-Estern, die Differenzierung und Apoptose von Zellen, die Adipogenese, die Glykolyse und die Gluconeogenese. Eine steigende Anzahl von Untersuchungen belegt zudem, dass L‑Carnitin die Expression zahlreicher Gene auf der Transkriptionsebene reguliert.

Wichtige physiologische Funktionen von L‑Carnitin (Auswahl)

  • Fettsäurentransport: Carnitin-abhängiger Transport von Fettsäuren in die Mitochondrien, wo sie oxidativ abgebaut werden (β-Oxidation), um ATP zu bilden (Abb. 1)
  • Entgiftungsfunktion: Mitochondriale Entgiftung toxischer Stoffwechselprodukte
  • Intermediärstoffwechsel: L‑Carnitin regeneriert Coenzym A aus Acyl-CoA-Estern, das für zahlreiche Stoffwechselprozesse benötigt wird, und reguliert dessen Verfügbarkeit (Abb. 1)
  • Immunsystem: Steigerung der Lymphozytenproliferation, der Phagozytoseaktivität der Granulozyten und Monozyten sowie der Aktivität der natürlichen Killerzellen
  • Glucoseverwertung: Stimulierung der Glucose- und Pyruvat-Utilisation über die Pyruvat-Dehydrogenase (PDH)
  • Differenzierung und Apoptose von Zellen, Genregulierung auf der Ebene von Transkriptionsfaktoren
  • Stabilisierung von Biomembranen (z. B. Erythrozyten)

Bedarf und Mangel

Der tägliche Bedarf eines Erwachsenen wird auf 50 bis 300 mg L‑Carnitin geschätzt. Davon werden nur etwa 10% über die Eigensynthese gedeckt, der Rest muss über die Nahrung zugeführt werden. Besonders reich an L‑Carnitin sind Schaf-, Ziegen- und Lammfleisch. Pflanzliche Nahrungsmittel enthalten dagegen nur sehr geringe Mengen des Vitaminoids. Neu- und Frühgeborene, Schwangere und Stillende haben einen erhöhten Bedarf.

Ein 70 kg schwerer Erwachsener verfügt über einen Gesamt-Carnitinpool von 15 bis 20 g, von dem etwa 95% in der Herz- und Skelettmuskulatur, 2 bis 3% in der Leber und Niere und nur 0,1 bis 1% in extrazellulären Flüssigkeiten lokalisiert sind. Besonders bei katabolen Stoffwechselsituationen, die bei zahlreichen chronischen systemischen Erkrankungen auftreten (z. B. Krebs), können die Carnitinspeicher durch die Mobilisierung von Muskelprotein entleert werden.

Mangelerscheinungen sekundärer Art sind bekannt bei malignen Erkrankungen, Niereninsuffizienz, Morbus Alzheimer, Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz) und bei längerer parenteraler Ernährung ohne eine Supplementierung von L‑Carnitin. Es ist auch belegt, dass mit zunehmendem Alter die Carnitinspiegel im Gewebe abnehmen, während jene im Blut unverändert, häufig sogar höher sind. Carnitinmangel betrifft im Wesentlichen den Stoffwechsel von Geweben, die den größten Teil ihrer aeroben Energiegewinnung aus der β-Oxidation von Fettsäuren beziehen. Dazu gehören die Skelettmuskulatur und ganz wesentlich der Herzmuskel.

L‑Carnitin in der Onkologie

Ein Mangel an L‑Carnitin wird bei zahlreichen chronischen Erkrankungen beschrieben, vor allem bei Tumorerkrankungen. Studien zufolge weisen bis zu 80% der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen einen generellen L‑Carnitin-Mangel auf, der vom Organismus nicht ausgeglichen werden kann. Wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang mit Symptomen wie Fatigue, Malnutrition und Depression. Die bisher bekannten Gründe für einen Mangel an L‑Carnitin bei Krebskranken sind vielfältig:

  • Nutritiver Mangel (z. B. Mangel an L-Methionin, Eisen)
  • Interaktion von Zytostatika (z. B. Anthracyclinen) mit dem Carnitintransporter OCTN2 und Carnitin-abhängigen Enzymen (z. B. Carnitin-Palmitoyl-Transferase I, CPT I, s. Abb. 1)
  • Cisplatin steigert die renale Exkretion von Carnitin (s. u.)
  • Ifosfamid bildet abnorme Carnitin-Ester und erhöht die renale Exkretion (s. u.)

L‑Carnitin stabilisiert die Membranen von Erythroyzten, Immunzellen und Zellorganellen (z. B. Mitochondrien). Darüber hinaus wurde in einer jüngeren Publikation ein proapoptotischer Effekt auf Tumorzellen beschrieben, der auf einer Steigerung der β-Oxidation in der Tumorzelle zu beruhen scheint. Dadurch entsteht eine für die Tumorzelle relativ hohe Exposition mit Sauerstoffradikalen, die zur Apoptose führen kann. Ähnliche proapoptotische Effekte sind für weitere "Mitochondrials" wie α-Liponsäure beschrieben.

Hinweis

Die L‑Carnitin-Spiegel in den Geweben sind bis zu 200-fach höher als im Plasma. Da L‑Carnitin seine essenziellen Funktionen im zellulären Stoffwechsel ausübt, und seine zelluläre Konzentration von der Funktion der Transportproteine (hier: organic cation transporter OCTN2) abhängt, lassen die Plasmaspiegel keine Rückschlüsse seine Verfügbarkeit zu.

 

L‑Carnitin-Mangel durch Cisplatin und Ifosfamid

In der Onkologie kommt es bei der Applikation von Cisplatin und Ifosfamid zu einem Mangel an L‑Carnitin. Cisplatin wirkt nephrotoxisch, hemmt die renale Rückresorption von L‑Carnitin und kann dessen Exkretion mit dem Urin bei Tumorpatienten um das Zehnfache steigern.

Auch Ifosfamid führt zu erheblichen renalen Carnitinverlusten. Sein Metabolit Chloracetaldehyd kann zu Chloressigsäure oxidiert werden und freies Coenzym A (CoA) binden (Abb. 2). Dadurch werden CoA-abhängige, energieliefernde Stoffwechselwege in den Mitochondrien blockiert (vgl. Abb. 1). L‑Carnitin übernimmt die Chloracetyl-Gruppe vom CoA und transportiert sie aus den Mitochondrien und der Zelle hinaus. Da Chloracetyl‑Carnitin in der Niere schlechter rückresorbiert wird als freies Carnitin, kommt es infolge erhöhter Ausscheidung zu einem sekundären Carnitinmangel.

Cisplatin, Ifosfamid und L ‑Carnitin

Mechanismus der Wechselwirkung:

 

Cisplatin: Hemmung der renalen Rückresorption von L ‑Carnitin, dadurch starke Erhöhung der renalen Exkretion Ifosfamid: Bildung von Chloracetyl-Carnitin, dadurch starke Erhöhung der renalen Exkretion

Folgen: 

 

L ‑Carnitin: Depletion (sekundäres Defizit im Blut und Gewebe), Abfall der Plasmaspiegel (freies L ‑Carnitin < 30 µmol/l), Störung der mitochondrialen ATP-Produktion und Erythropoese Risiko für: Fatigue und Tumoranämie sowie Cisplatin- bzw. Ifosfamid-assoziierte neuro- und kardiotoxische Nebenwirkungen

Hinweis: Die intravenöse Prämedikation mit L ‑Carnitin bei einer Chemotherapie (z. B. 2000 mg L ‑Carnitin in 250 ml 0,9% NaCl i.v., 45 – 60 min vor der Gabe von Cisplatin oder Ifosfamid) wirkt einem sekundären Carnitindefizit entgegen und kann das Ausmaß einer Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie signifikant reduzieren.

 

Adjuvante Gabe bei Krebspatienten

Durch die adjuvante Gabe von L‑Carnitin konnte der Gewichtsverlust bei Krebspatienten signifikant verringert werden (Lohninger). Die körperliche und mentale Verfassung von Krebspatienten verbesserte sich, was unter anderem auf die Optimierung der mitochondrialen Fettverbrennung, aber auch durch den günstigen Einfluss des L‑Carnitins auf die Glucose-Utilisation und den Zytokinstoffwechsel zurückzuführen ist.

Für den Einsatz von L‑Carnitin in der komplementären und supportiven Onkologie (siehe Tab.) sprechen die gute Verträglichkeit, die immunstabilisierende Wirkung, die potenzielle zytoprotektive Wirkung unter zytostatischer Therapie (z. B. Herzmuskelprotektion bei Anthracyclin-haltiger Chemotherapie) sowie die fehlende Beeinträchtigung des erwünschten zytotoxischen Effektes der Chemotherapeutika.

Tab.: Anwendung von L -Carnitin in der komplementären und supportiven Onkologie
AnwendungsgebieteDosierung/Applikation
Cisplatin
Prävention von L -Carnitin-Mangel

oral: 2–4 g L -Carnitin/d, Beginn: 3–4 Tage vor der Chemotherapie

i.v.: 1–2 g L -Carnitin als Kurzinfusion in 100–250 ml 0,9% NaCl (1 h vor Cisplatin-Applikation)

Prävention von Neuropathien

oral: 2–4 g L -Carnitin/d

i.v.: 2 g L -Carnitin als Kurzinfusion in 250 ml 0,9% NaCl (z. B. 2–3 x/Woche)

Ifosfamid
Prävention von L -Carnitin-Mangel

oral: 2-4 g L -Carnitin/d

i.v.: 1-2 g L -Carnitin als Kurzinfusion in 100-250 ml 0,9% NaCl (1 h vor Ifosfamid-Applikation)

Anthracycline (z. B. Epirubicin)
Verringerung der Kardiotoxizität/
Kardiomyopathie

oral: 2–4 g L -Carnitin/d, Beginn: 3–4 Tage vor der Chemotherapie

i.v.: 2 g L -Carnitin als Kurzinfusion in 250 ml 0,9% NaCl (1 h vor Anthracyclin-Applikation)

Fatigue, Tumoranämie
Adjuvante Therapie

oral: 2–4 g L -Carnitin/d

i.v.: 2 g L -Carnitin als Kurzinfusion in 250 ml 0,9% NaCl (z. B. 2–3 x/Woche)

Literatur

Gröber U. Zytostatika in: Arzneimittel und Mikronährstoffe. Medikationsorientierte Supplementierung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2007.

Gröber U. Antioxidants and other micronutrients in complementary oncology. Breast Care 2009;4:13–20.

 Gröber U. Interaktionen: Arzneimittel und Mikronährstoffe. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2009.

 

 

Anschrift des Verfassers: 

Uwe Gröber, 
Akademie & Zentrum für Mikronährstoffmedizin, 
Zweigertstraße 55, 
45130 Essen

 

 

Abb. 1: Carnitin-abhängige Prozesse in den Mitochondrien. Die Fettsäuren gelangen in Form von Acylcarnitin (links) in das Zentrum der Mitochondrien und werden dort in Acyl-CoA umgewandelt, das ADP zu ATP oxidiert (Mitte). Das bei der β-Oxidation entstehende Acetyl-CoA wird teilweise in Acetylcarnitin ungewandelt, das im Tausch gegen Carnitin das Zentrum der Mitochondrien verlässt (rechts).
Abb. 2: Induktion eines Carnitinmangels durch Ifosfamid.
Uwe Gröber
Arzneimittel und ­Mikronährstoffe – Medikationsorientierte Supplementierung
XX, 280 S., 23 Abb., 54 Tab., geb. 42,– Euro
Wissenschaftliche Verlags­gesellschaft, Stuttgart 2007
ISBN 978-3-8047-2261-3
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