Ernährung aktuell

Bulimia Nervosa – die versteckte Essstörung

Schönheitsideale, die weit unter dem Normalgewicht liegen, und die übermäßige Beschäftigung mit dem Essen und dem eigenen Körper sind in unserer Gesellschaft stark verbreitet. Bereits im Kindes- und Jugendalter werden die ersten Diäterfahrungen gemacht. Besonders bei jungen Frauen in der Pubertät können Auffälligkeiten und Störungen des Essverhaltens beobachtet werden. Dazu zählen die in der letzten Folge unserer Serie vorgestellte Anorexia Nervosa, die Binge Eating Disorder (Episoden von Fressanfällen ohne gewichtsregulierende Gegenmaßnahmen) und Bulimia Nervosa, mit der sich nun diese Folge beschäftigt.

Der Name Bulimia leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet soviel wie "Ochsenhunger" (Bous = Stier, Ochse, Limos = Hunger). Die Bezeichnung beschreibt das Hauptmerkmal dieser Essstörung: wiederholtes Auftreten von Essanfällen, bei denen unter Kontrollverlust große Nahrungsmengen in sehr kurzer Zeit verschlungen werden. Das im Kasten aufgeführte Fallbeispiel versucht das Krankheitsbild einführend zu beschreiben [1].

Fallbeispiel

Aus einem Bericht einer Patientin mit Bulimia Nervosa

Ich bin alleine zu Hause und langweile mich. Ich bin unruhig, angespannt, nervös. Plötzlich kommt diese unendliche Gier über mich, ich habe keine Kontrolle, es ist einfach nicht aufzuhalten. Ich bin in der Küche. Zuerst esse ich die Tomatensoße, damit ich später weiß, wann alles wieder draußen ist. Dann stopfe ich mir wahllos alles in den Mund. Die Reste von gestern, koche mir Nudeln, esse dabei die Packung Fleischsalat, löffle Marmelade und Nugatcreme, esse Cornflakes mit Milch, Babybrei – der kommt auch gut wieder raus. Eine Packung Eiscreme. Ich schlinge nur noch, stopfe alles in mich hinein. Meine Anspannung und der Druck vom Tag weichen allmählich. Nun bin ich ganz bei mir, spüre mich. Mein Magen beginnt zu schmerzen, ich kann mich kaum noch bewegen. Das Zeug muss raus, sofort, sonst werde ich fett. Ganz automatisch steuere ich zur Toilette. Ich brauche nichts mehr in den Hals zu stecken. Ich stehe neben mir, sehe, was ich tue, wie alles wieder herauskommt. Es ist anstrengend. Die Tränen stehen mir in den Augen, mein Hals brennt. Ganz kurz fühle ich mich gut und erleichtert. Aber nur ganz kurz. Dann übermannen mich Ekel, Scham und Schuldgefühle.

Quelle: [1]

 

Vor allem junge Frauen sind betroffen

Es gibt verschiedene Kriterien, nach denen die Bulimia Nervosa heute definiert wird (s. Kasten ICD-10, Tab. 1 und Kasten Spezifizierung). Beschrieben wurde die Krankheit erstmals im Jahr 1979. Besonders betroffen sind junge Frauen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren [2; 3]. Die Prävalenzrate liegt bei ca. 1%; das Verhältnis von betroffenen Frauen zu Männern bei 20:1.

Tab. 1: Diagnostische Kriterien für Bulimia Nervosa (nach DSM-IV)
KriteriumSymptome
A

Wiederholte Episoden von Fressattacken. Eine Fressattackenepisode ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale:

Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraumes von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist, als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.

Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, weder mit dem Essen aufhören zu können noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).

BWiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen, z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung.
CDie Fressattacken« und das unangemessene Kompensationsverhalten kommen drei Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor.
DFigur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
EDie Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia Nervosa auf.
Quelle: [1]

 

Erst essen, dann brechen

Von Bulimia Nervosa betroffene Patienten beschreiben das Gefühl, dass sie mit dem Essen nicht aufhören sowie Art und Menge der Lebensmittel nicht mehr kontrollieren können. Empirischen Studien zufolge beträgt die Kalorienaufnahme pro Essanfall im Mittel 2000 kcal. Die Spannweite liegt jedoch zwischen 680 und 8500 kcal [1]. Häufig finden die Essanfälle heimlich statt. Dabei werden vor allem hochkalorische, unzubereitete und weiche Nahrungsmittel verzehrt [2]. Außerhalb der Essanfälle zeichnen sich die Betroffenen durch häufiges Diäthalten bzw. durch ein stark gezügeltes Essverhalten aus. So setzen sie sich tägliche Kalorienlimits, lassen Mahlzeiten aus oder verzichten auf Vorspeisen und/oder Desserts [1]. Wahrscheinlich begünstigen die dadurch entstehenden hypoglykämischen Zustände auch den Heißhunger, der schließlich durch die Essattacken durchbrochen wird [2]. Auf psychologischer Ebene ist festzustellen, dass die Beschäftigung mit dem eigenen Körpergewicht übertrieben ist und eine besondere Rolle für die Qualität des Selbstwertgefühls hat. Mehrmals tägliches Wiegen stellt keine Seltenheit dar [2]. In der Regel sind die Patienten normal- bis leicht untergewichtig, werden jedoch ständig von der Furcht begleitet, Gewicht zuzunehmen [1]. Mit einer Reihe von Maßnahmen wird versucht, dem entgegenzuwirken. Etwa 70 bis 90% der Bulimie-Kranken erbrechen daher unmittelbar nach einem Essanfall. Nach einiger Zeit funktioniert dies sogar fast automatisiert, z. T. werden aber auch mechanische Hilfsmittel verwendet wie Holzstäbe, die in den Hals gesteckt werden. Um sicherzugehen, dass sie alle im Rahmen des Essanfalls verzehrten Lebensmitteln wieder erbrechen, verzehren viele Patienten zu Beginn des Essanfalls farbige Lebensmittel zur Markierung. Dann erbrechen sie so lange, bis die Farbe wieder auftaucht. Zudem nimmt rund ein Fünftel regelmäßig Abführmittel in größeren Mengen ein. Entweder erfolgt die Einnahme unmittelbar nach dem Essanfall oder aber routinemäßig jeden Tag mit der Hoffnung, die Resorption von Nährstoffen zu reduzieren und dadurch an Gewicht zu verlieren bzw. nicht zuzunehmen. Auch werden gelegentlich Appetitzügler oder Diuretika zur Gewichtskontrolle eingesetzt. Exzessive körperliche Aktivität ist auch ein typisches Merkmal für Bulimie-Kranke, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie es bei der Anorexia Nervosa zu beobachten ist. Eine Besonderheit bei gleichzeitigem Auftreten von Diabetes ist das Unterdosieren von Insulin.

ICD-10-Kriterien für Bulimia Nervosa

  • Andauernde Beschäftigung mit Essen und Heißhungerattacken, bei denen große Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden
  • Versuche, den dick machenden Effekt des Essens durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern, z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Laxanzienabusus, restriktive Diät etc.
  • Krankhafte Furcht, dick zu werden
  • Häufig Anorexia Nervosa in der Vorgeschichte

Quelle: [2]

 

Spezifizierung der Bulimia Nervsoa nach 2 Subtypen

Purging-Typus

Die Person induziert während der aktuellen Episode der Bulimia Nervosa regelmäßig Erbrechen oder missbraucht Laxanzien, Diuretika oder Klistiere.

Nichtpurging-Typus

Die Person zeigt während der aktuellen Episode der Bulimia Nervosa unangemessene, einer Gewichtszunahme gegensteuernde Maßnahmen, z. B. Fasten oder übermäßige körperliche Bestätigung, erbricht aber nicht regelmäßig oder missbraucht Laxanzien, Diuretika oder Klistiere.

Quelle: [1]

 

Der Körper leidet

Bulimia Nervosa geht mit verschiedenen körperlichen Veränderungen einher (Tab. 2). So sind Bulimikerinnen häufig von Zyklusschwankungen betroffen. Liegt eine Hypokaliämie mit Erhöhung des Serumbicarbonats vor, weist dies auf häufiges Erbrechen oder die Einnahme von Diuretika hin. Eine metabolische Azidose ist dagegen ein Hinweis auf einen Laxanzienabusus [2]. Weiterhin können auch bei normalgewichtigen Bulimiepatienten infolge des gezügelten Essverhaltens Anzeichen einer Mangelernährung auftreten wie erniedrigte Glucosespiegel und erhöhte Konzentrationen freier Fettsäuren. Es werden auch Störungen bei Neurotransmittern, etwa von Noradrenalin und Serotonin, beobachtet, die als Folge des pathologischen Essverhaltens auftreten können. Bei einer Normalisierung des Essverhaltens in Bezug auf die Kalorienzufuhr, die Makronährstoffzusammensetzung und die zeitliche Struktur, sind diese Störungen reversibel. Durch das häufige Erbrechen treten Zahnschädigungen auf. Zudem kommt es durch den erbrochenen Magensaft zur Ansäuerung der Mundhöhle. Dabei schwellen die Speicheldrüsen an und entzünden sich und die Konzentration des Enzyms Amylase steigt. Beachtet werden muss, dass dies auch ein Symptom für eine Pankreatitis sein kann. Diese tritt oft nach Essanfällen auf und geht mit schwersten abdominalen Schmerzen, Fieber und Tachykardie einher. In 10% der Fälle verläuft die Pankreatitis tödlich. Die beschriebene Hypokaliämie macht sich klinisch durch Herzmuskelschwäche und Rhythmusstörungen bemerkbar. Daneben treten Verwirrtheit, Muskelschwäche, Krämpfe, Parästhesien, Polyurie und Obstipation auf. Besonders kompliziert wird ein Kaliummangel bei gleichzeitigem Magnesiummangel: Durch Laxanzienabusus kommt es zu Elektrolytverlusten, die zu lebensbedrohlichen Nierenschädigungen führen können. Daneben können Abführmittel zu rektalen Blutungen, Wasserverlust, Dehydratation und selten zu lebensgefährlichen Erschlaffungszuständen des Dickdarms führen. Infolge von Essanfällen und anschließendem Erbrechen treten gastrointestinale Störungen auf: Zunächst verzögert sich lediglich der Transport der Nahrungsmittel und die Magenentleerung. Daraus kann sich eine akute atonische Magenerweiterung entwickeln.

Tab. 2: Körperliche Veränderungen bei Bulimia Nervosa
UntersuchungVeränderungen
Inspektion

• Lanugobehaarung

• Haarausfall

• Speicheldrüsenschwellung

• Ausgeprägte Karies

• Schwielen an den Fingern oder Läsionen am Handrücken (durch wiederholtes manuelles Auslösen des Würgereflexes)

Labor

• Elektrolytstörungen

• Erhöhung von Transaminasen, Amylase und harnpflichtigen Substanzen

• Veränderungen im Lipidstoffwechsel

• Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin

• Zinkmangel

Endokrinologie

• Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (Erhöhung von CRF und Cortisol)

• Schilddrüsenachse (TSH und T4 normal bis erniedrigt, T3 erniedrigt)

• Gonadenachse (FSH, LH und Estradiol erniedrigt)

• Erhöhung des Wachstumshormons

• Erniedrigung von Leptin

Übrige

• CT-, MRT-Veränderungen (Pseudoatrophia cerebri)

• Ösophagitis

• EKG-Veränderungen, Bradykardie, Hypotonie

• Durch Laxanzienabusus induzierte Komplikationen (z.B. Osteomalazie, Malabsorptionssyndrome, schwere Obstipation, hypertrophe Osteoarthropathe)

• Osteoporose

Quelle: [2]

Die schwerste Komplikation ist die Magenruptur mit einer Letalität von 80%. Infolge von Erbrechen sind zudem Speiseröhrenrupturen mit einer sehr hohen Letalität beschrieben worden. Schließlich wurde bei 10 bis 30% der Bulimiepatienten trockene Haut und trockene brüchige Haare mit Haarausfall beobachtet. Bei jedem zweiten Betroffenen wurden außerdem morphologische Veränderungen des Gehirns, sog. Pseudoatrophien, beobachtet [1].

Häufiger Begleiter Angst

Viele Bulimiepatienten sind von psychiatrischen Erkrankungen betroffen. Etwa ein Drittel leidet unter Zwangsstörungen, zwischen 30 und 70% unter Angsterkrankungen. Im Vordergrund steht die soziale Phobie. So haben viele jugendliche Patienten Angst vor neuen Anforderungen und Situationen. Weiterhin können Impulskontrollstörungen (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung), affektive Störungen (Major Depression, Dysthymie) sowie Substanzmissbrauch und -abhängigkeit als Komorbidität bei Bulimiepatienten auftreten [1; 2].

Multifaktorielles Geschehen

Das Entstehen und Auftreten der Bulimia Nervosa ist wie die Anorexia Nervosa multifaktoriell bedingt. So zeigt sich bei den biologischen Faktoren, dass Angehörige von bulimischen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollstichproben häufiger an Essstörungen leiden [2]. Weiterhin stellt ein höheres Gewicht bei normaler Nahrungsaufnahme einen wesentlichen Risikofaktor dar: Um dem gängigen Schönheitsideal entsprechen zu können, muss die Kalorienzufuhr deutlich eingeschränkt werden. Empirisch wird diese Annahme durch die Beobachtung gestützt, dass Bulimiepatienten vor ihrer Erkrankung häufig leicht übergewichtig waren. Problematisch erweisen sich auch die irrationalen und verzerrten Denkprinzipien, die dem spezifisch nahrungsbezogenen Verhalten von essgestörten Patienten zugrunde liegen (Tab. 3) [1].

Tab. 3: Zugrunde liegende Denkprinzipien beim nahrungsbezogenen Verhalten essgestörter Patienten
DenkprinzipErläuterung, Beispiele
selektive AbstraktionEine Schlussfolgerung berücksichtigt nur isolierte Details und ignoriert gegenteilige Argumente, z. B. "Ich bin nur etwas Besonderes, wenn ich dünn bin."
ÜbergeneralisierungAbleitung von Regeln auf der Basis eines einzigen Ereignisses, z. B. "Früher habe ich Fleisch gegessen, und es hat mich fett gemacht. Deshalb darf ich jetzt kein Fleisch mehr essen."
ÜbertreibungDie Bedeutung von Ereignissen oder Tatsachen wird überschätzt, z. B. "Wenn ich zwei Pfund zunehme, kann ich keine Shorts mehr anziehen."
Dichotomes oder 
Alles-oder-Nichts-Denken
z. B. "Wenn ich einmal die Kontrolle über das Essen verliere, verliere ich sie für immer und werde fett."
Personalisierungz. B. "Jemand lachte, während ich an ihm vorbeiging. Sicher hat er sich über meine dicke Figur lustig gemacht."
Magisches Denkenz. B. "Wenn ich ein Stück Schokolade esse, verwandelt es sich sofort in Fettpolster."
Quelle: [1]

In Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur scheinen bulimische Patienten im Vergleich zu anorektischen Patienten weniger zäh und kontrolliert, frustrationsintoleranter, sexuell aktiver und extrovertierter zu sein. In Bezug auf psychobiologische Veränderung wird bei Bulimiepatienten angenommen, dass das gezügelte Essverhalten die Wahrscheinlichkeit für Essanfälle erhöht. Erbrechen und/oder Laxanzienabusus führen zu einer Löschung der Sättigungssignale und tragen auf diese Weise zu einer schrittweisen Inaktivierung der psychophysiologischen Regulation der Nahrungsaufnahme bei [2]. Weiterhin scheint für die Entwicklung einer Bulimie entscheidend zu sein, in welchem Ausmaß Essen als Ablenkung, Belohnung oder Entspannung genutzt wurde, z. B. um sich nicht mit unangenehmen Situationen konfrontieren zu müssen. Außerdem kann die von physiologischen Bedürfnissen abgekoppelte Nahrungsaufnahme zu einem Verlernen des normalen Hunger- und Sättigungsempfindens führen [1] Innerhalb der Familien von bulimischen Patienten fanden sich erhebliche Unterschiede: ein Zusammenhang zwischen Schwere der Essstörung und familiären Interaktionsschwierigkeiten konnten bislang nicht nachgewiesen werden. Allerdings wurden ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Kritik an der kranken Tochter und dem Verlauf der Essstörung nachgewiesen. Schließlich können sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauch als unspezifische Risikofaktoren betrachtet werden. Zudem beeinflussen soziokulturelle Determinanten die Entstehung von Essstörungen: So liegt in Industrienationen die Prävalenz deutlich höher als in anderen Kulturkreisen. Auch sind Personen, die in Industrienationen eingewandert sind, häufiger als ihre Landleute in den Heimatregionen betroffen. Gerade in den letzten Jahrzehnten stieg die Prävalenz besonders in der Mittel- und Oberschicht sowie bei Risikogruppen wie Sportlern oder Models. Wissenschaftler messen dem Fernsehen, Kino und Zeitschriften eine große Bedeutung bei, das Schönheitsideal der westlichen Gesellschaft zu etablieren, obwohl dies weit unter einem gesunden Körpergewicht liegt [2].

Auslösende Ereignisse

Neben den prädisponierenden Faktoren sind auch auslösende Ereignisse entscheidend. Sowohl bei einer Bulimia Nervosa als auch bei Anorexia Nervosa gehen der Erkrankung häufig kritische Lebensereignisse voraus. Dazu gehören Trennungs- und Verlustereignisse, neue Anforderungen, Angst vor Leistungsversagen oder auch körperliche Erkrankungen [1].

Diagnose

Die Diagnose darf bei Bulimikern nicht nur auf psychologischer Ebene erfolgen. Auf diffenrentialdiagnotischer Ebene müssen Heißhungerattacken bei somatischen Erkrankungen ausgeschlossen werden. Dazu gehören z. B. ZNS-Tumoren und Schädel-Hirn-Trauma. Auch Diabetes mellitus kann mit einer Essstörung assoziiert sein. Weiterhin findet man Hinweise auf das Vorliegen einer Essstörung auch in der körperlichen Untersuchung und in Laborparametern (s. Tab. 2) [2]. Weiterhin sollte zur Erfassung von zentralen psychopathologischen Symptomkomplexen sowie möglicher komorbider Störungen ein strukturiertes Interview durchgeführt werden. In einem weiteren Schritt muss dann die spezifische Psychopathologie erfasst werden. Einzelne Symptombereiche können zusätzlich in einem Selbstbeurteilungsverfahren ermittelt werden [1].

Therapie auf vier Ebenen

Die Therapie der Bulimia Nervosa im Kindes- und Jugendalter erfolgt auf vier Ebenen (s. Kasten). Grundsätzlich sollten dabei eine Reihe von Zielen berücksichtigt werden. Insbesondere in der akuten Krankheitsphase müssen körperliche Komplikationen behandelt werden. Weiterhin muss das Gewicht soweit rehabilitiert sein, dass bei Mädchen die Menstruation wieder eintritt. Daneben ist es wichtig, dass sich das Essverhalten normalisiert. Dabei kann ein Ernährungstagebuch und die Erstellung eines Essensplans den Patienten unterstützen. Mittels psychoedukativer Maßnahmen können die dysfunktionalen Gedanken, die zur Aufrechterhaltung der Essstörung beitragen, verändert werden. Auch die Affektregulation sollte verbessert werden, um in Belastungssituationen nicht mehr mit Störungen des Essverhaltens zu reagieren. Daneben sollten begleitende psychische Probleme behandelt werden. Nicht zuletzt ist es wichtig, die Familie einzubeziehen, um intrafamiliäre Konflikte zu bewältigen. Eine stationäre Behandlung sollte eingeleitet werden, wenn die im Kasten beschriebenen Kriterien vorliegen. Bei einer hohen Frequenz von Essanfällen und nachfolgendem Erbrechen kann zusätzlich eine medikamentöse Therapie mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) indiziert sein. Derzeit weisen erste Studien mit wenigen Patienten darauf hin, dass die Rückfallrate dadurch möglicherweise gesenkt werden kann, weitere Untersuchungen sind jedoch notwendig. Es hat sich aber als sinnvoll erwiesen, SSRI zur Behandlung von komorbiden Zwangs-, Angst- und depressiven Erkrankungen einzusetzen. Zur Osteoporoseprophylaxe kann bislang nur die Substitutionen von Vitamin D und Calcium empfohlen werden, da die Wirkung einer Östrogensubstitution bislang noch nicht eindeutig überprüft wurde [2].

Therapie der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz

1. Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie

2. Individuelle psychotherapeutische Behandlung

3. Einbeziehung der Familie

4. Behandlung der Komorbidität und ggf. medikamentöse Behandlung, in erster Linie bei Bulimia Nervosa

Quelle: [4]

 

Indikationen für eine stationäre Behandlung

  • Somatische Komplikationen (z. B. Elektrolytstörungen)
  • Sehr häufige Essattacken
  • Weitere Störungen der Impulskontrolle (z. B. Drogenmissbrauch)
  • Schwerwiegende Selbstverletzungen

Quelle: [2]

 

Genesung, Rückfall und Chronifizierung

Die Remissionsrate (Remission = Abwesenheit von Essanfällen) beträgt nach 6 bis 12 Monaten Therapie ca. 30 bis 50%. Längerfristig (9 bis 12 Jahre) wurde in Untersuchungen eine Remissionrate von 70% beobachtet. Dabei ist in den meisten Fällen die Verbesserung der Symptomatik mit einer lang andauernden Therapie verbunden. Eine zeitliche Stabilität der Symptomverbesserung kann erst nach 5 bis 6 Jahren beobachtet werden. Bei vielen Patienten bleiben auch nach der Behandlung noch ernsthafte Essstörungssymptome bestehen. Neben pathologischen Essmustern sind auch kognitive Denkschemata von Bedeutung, die bei ca. einem Fünftel der Fälle auch noch 10 Jahre nach der Diagnose feststellbar sind. In einer Zeitspanne von 6 Jahren ereignet sich bei etwa 30% ein Rückfall. Da bislang keine Längsschnittuntersuchungen vorliegen, kann nicht zwischen einem chronischen Verlauf ohne längere Remission und konkret umrissenen Rückfallepisoden unterschieden werden [3].

Selbstkontrollprogramm

Es wird ein Kontrakt geschlossen mit folgenden Vereinbarungen:

  • Gewichtskontrollen erfolgen zweimal wöchentlich.
  • Das Gewicht darf nicht unter das Aufnahmegewicht absinken.
  • Pro Woche soll eine Gewichtszunahme von mindestens 700 g erfolgen; ein Maximum von 3000 g soll nicht überschritten werden.
  • Es gibt keine spezielle Diät. Der Patient soll möglichst normale Mahlzeiten zu sich nehmen.
  • In der Klinik wird ohne Beobachtung oder Kontrolle durch therapeutisches Personal gegessen.
  • Falls der Patient möchte, kann er seine Nahrungsaufnahme in Essprotokollen dokumentieren und diese mit seinem Therapeuten besprechen.
  • Zusätzlich können mit dem Patienten für das Erreichen der wöchentlichen Gewichtssteigerung Belohnungen vereinbart werden, die als positive Verstärkung wirken.

Quelle: [1]

Literatur 

[1] Laessle, Reinhold G.; Kim, Johann (2009): Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa. In: Schneider, S. & Margraf, J.: Lehrbuch der Verhaltenstherapie, 3. Auflage, Springer Berlin Heidelberg, S. 281–299.

 [2] Holtkamp, K.; Herpertz-Dahlmann, B. (2002): Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter. In: Monatsschrift Kinderheilkunde, Jg. 150, H. 2, S. 164–171.

 [3] Quadflieg, Norbert; Fichter, Manfred M. (2008): Verlauf der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung. In: Herpertz, S.; de Zwaan, M; Zipfel, S. Handbuch Essstörungen und Adipositas, S. 48–53.

 [4] Herpertz-Dahlmann, Beate (2008): Behandlung der Essstörungen in Kindheit und Adoleszenz.In: Herpertz, S.; de Zwaan, M; Zipfel, S. (2008): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Mit 21 Tabellen. Heidelberg: Springer Medizin, S. 176 –181.

 

 

 

Autorin 

Katja Aue, 
M. Sc. (Ökotrophologie) 
katja_aue@web.de

 

 

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