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Indien – Aufbruch oder Untergang?

(daz/ts). Die Wirtschaft in Indien pulsiert einerseits, andererseits leben von 1,2 Milliarden Indern rund 400 Millionen unter der absoluten Armutsgrenze. Sie nehmen nicht am wirtschaftlichen Aufschwung teil und sind, gerade wenn sie krank werden, auf Hilfe von außen angewiesen. Der selbstständige Apotheker Tino Schumann war freiwillig für einige Monate im Namen der Hilfsorganisation Calcutta Rescue Deutschland e.V. in Kalkutta (Kolkata) und berichtet hier über seine Erfahrungen:
Fachlicher Austausch Apotheker Schumann erklärt seinen Mitarbeitern die korrekte Handhabung eines Insulinpens.
Fotos: Tino Schumann

"Was will ein Apotheker für Calcutta Rescue eigentlich tun, wenn die Lage so aussichtslos scheint", fragen sich vielleicht einige. Eine Frage, die jeder dort Tätige für sich beantworten sollte. Im Fall von "Calcutta Rescue" ist der Rahmen klar gesteckt. Im Wesentlichen betreiben wir in Kalkutta vier Kliniken, zwei Schulen sowie Berufsausbildungseinrichtungen. Unter den Kliniken darf man sich kein deutsches Krankenhaus vorstellen, es sind einfache Tageskliniken und die Chitpur-Klinik (spezialisiert auf Leprakranke) befindet sich tatsächlich in einem Zelt, das jeden Tag in einem bemerkenswerten Tempo auf- und abgebaut wird! Die medizinische Behandlung und die Medikamente sind von Spenden finanziert und für die Patienten kostenfrei. Die Patienten kommen ausschließlich aus den ärmsten Vierteln dieser Stadt. Es bekommt jeder, der sich an uns wendet, die Chance, behandelt zu werden, unabhängig von Religion, Rasse, Kaste oder sonstigen "Schubladen", die man ziehen könnte.

Apotheke einmal anders

Als Apotheker war ich, wie sollte es anders sein, für die pharmazeutische Versorgung aller unserer Einrichtungen verantwortlich. Die organisationseigene Apotheke ist dafür das Herzstück und für mich etwas ganz Besonderes. Sie war für Monate das Zentrum meiner Arbeit und für mich eine der besten Informationsquellen über indische Gepflogenheiten. Meine indischen Mitarbeiter schafften es, durch ihre freundliche Art, mir das Eintauchen in diese für mich ungewohnte Kultur zu erleichtern. Dieser "Medikamentenumschlagplatz" wurde für mich zur Zufluchtstätte, wenn Kalkutta schon morgens wieder zu brodeln anfing, seinen Lärmpegel unerträglich hochfuhr und die konzentrierten Ausdünstungen des indischen Großstadtlebens die sensorischen Fähigkeiten meiner Nase zu überfordern drohten. Hier konnte ich in der Nische zwischen den zum Bersten gefüllten Regalen unter einem Ventilator erst einmal wieder tief Luft holen und den mir mit einem Lächeln und ein paar bengalischen Worten angebotenen Tee schlürfen. Die mit der Zeit immer gewohnter werdende Umgebung ließ in meinem Gefühlsgemenge ein "zu Hause sein" durchschimmern. Das war nicht von Anfang an so – dieses Gefühl kam erst mit der Zeit. In den ersten Tagen in dieser Apotheke habe ich immer nur die Enge bestaunt. Ein ausgeleierter Drehstuhl und ein Hocker waren die einzigen Sitzgelegenheiten und wurden immer dem gereicht, der gerade mit irgendwelchen Belegen in der Hand sich zum Schreiben niedersetzen wollte. Die Medikamente waren in den offenen Metallgestellen irgendwie (nach Lust und Laune schien es mir anfangs) verfrachtet worden und in einer Ecke war mir nicht sofort klar, ob es sich um Verpackungsmaterial oder Abfall handelte. Vergleiche mit einer nur halbherzig aufgeräumten Garage drängten sich auf.

Das, was ich vor dem Antritt meiner Mission vermutete, wurde lebendig bestätigt: Vergiss die Organisationsstrukturen in deiner Apotheke zu Hause und verlasse dich auf dein Improvisationstalent. Vergiss das Generalalphabet, verwalte den Zufall. Freudig entdeckten meine Augen einen Computer, einen Kühlschrank und ein Telefon. Technik, die meine Gehversuche im neuartigen Terrain beschleunigen könnten? Mehr und mehr durfte ich lernen: Was wie Chaos aussieht, muss nicht immer eines sein. Hier existiert auch ein System, nur eben ein etwas anderes. Eines, was sich mir nicht gleich von Anfang an erschloss. Neben groben Indikationsstrukturen gibt es Regale mit flüssigen Arzneiformen und Kartons mit Arzneimitteln aus Spenden. Ich bewunderte meine indischen Mitarbeiter, wie sie in Sekundenschnelle alles fanden. Ich war stolz auf mich, als ich nach drei Wochen ein paar Antibiotika für die Lieferung an die Talapark-Klinik aus eigener Kraft finden konnte.

Die Warenwirtschaft

Bestellungen gehen aus den vier Kliniken täglich ein. Gelegentlich kommen noch Anforderungen aus weiteren Projekten wie Street-Medicine und den DOTS (engl.: directly observed treatment short course; Zentren zur Tuberkulosebehandlung in ausgewählten Dörfern außerhalb Kalkuttas). Alles wird in ziemlich zerbeulten Metallkisten zusammengestellt. Es geht dabei nicht nach Packungen, es wird nach Stückzahl beliefert. Blister werden zerschnipselt, um dass genau hinzubekommen! Dieses Tagesgeschäft beherrschen die zwei indischen Mitarbeiter perfekt. Für mich war es eine gute Gelegenheit, das System in der Apotheke zu verstehen und Brennpunkte bei der Arbeit mit den Großhändlern zu erfassen. Zum Beispiel hat noch kein Händler das Vollsortiment für sich entdeckt, die Preise können sehr flexibel sein und Arzneimittelfälschungen haben auf dem Subkontinent nach WHO-Statistiken einen stolzen Marktanteil von 25 Prozent. Außerdem bekam ich bei dieser Arbeit allmählich ein Gefühl für die hierarchiedominierten Entscheidungswege in der indischen Gesellschaft. Das waren hilfreiche Erfahrungen bei meinen weiteren Aufgaben als Apotheker hier in Kalkutta.

Arbeit im "Office"

Im Office, der Zentrale der Organisation hier vor Ort, saß ich oft und kitzelte dem Computersystem so manche Statistik heraus. Angefordert vom Management und wichtig für optimierte Therapien und Kosten. Hier laufen letztendlich alle Fäden zusammen. Dort half ich gemeinsam mit Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Hebammen, Lehrern, Administratoren aus verschiedenen europäischen Ländern. Gemeinsam mit den indischen Angestellten setzen wir unsere Erfahrung und Fachkompetenz ein, um mit begrenzten Mitteln die Hilfe für die Benachteiligten dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Als Apotheker ist man hier Mitglied verschiedener Komitees, welche regelmäßig tagen. Es werden zum Beispiel spezielle medizinische Fälle diskutiert, Dosierungen besprochen und wichtige Neuheiten ausgetauscht. Nachdem ich als neugieriger Einsteiger angefangen hatte, habe ich es mit der Zeit geschafft, einigermaßen den Überblick zu bekommen und mich gezielt einzusetzen.

Nachhaltigkeit

Bei "Calcutta Rescue" sind wir uns natürlich darüber im Klaren, dass wir nicht allen helfen können. Um ehrlich zu sein, manchmal befürchtete ich auch, dass meine eingebrachte Energie und die ausgegebenen Mittel schnell im Sumpf des Slumalltags versickern. Aber individuelle und für mich emotionale Erlebnisse zeigen mir, was wir alle gemeinsam, Spender und Menschen vor Ort, wirklich bewirken können: Ein Junge, der nach unserer Schule eine Tischlerlehre besucht; drei Mutige, die gemeinsam eine Schneiderwerkstatt betreiben; die leprakranke Frau, die nach der langwierigen aber professionellen Wundversorgung wieder durch ihre Straßen laufen kann; ein Zwillingspaar, das zu Hause jetzt seine Mutter "unterrichtet"; ein alter Mann, der nach durchgestandener Tuberkulose jetzt wieder mit seiner Rikscha etwas Geld verdienen kann; das kleine Mädchen, das davon träumt zu studieren – im Ausland versteht sich! Und viele weitere Schicksale.

Wir schaffen es doch, einigen Menschen zu helfen und ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, sich mit an die Bahnsteigkante zu stellen und aufzuspringen, wenn der indische Wirtschaftswunderzug einfährt – eine Chance, die diese Menschen sonst keinesfalls hätten!

Neben Geldspenden und Schulpatenschaften suchen wir regelmäßig Apotheker, die bereit sind, für sechs bis neun Monate in Calcutta mitzuarbeiten. Die Kontaktadresse:
Calcutta Rescue Deutschland e.V.
Aurbacherstraße 4
81541 München
Ordnung auf Indisch Was für unsere Augen wie das absolute Chaos erscheint, wird von den indischen Mitarbeitern von Calcutta Rescue problemlos überblickt.
Arbeiten und leben unter un­ge­wohnten Bedinungen: Apotheker ­Tino Schumann .

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