Feuilleton

Afrikanische Pfeilgift- und Arzneipflanzen

"Wenn ein Heilkundiger stirbt, wird eine ganze Bibliothek vernichtet", heißt es in Afrika. Längst wissen wir, dass die traditionelle afrikanische Heilkunde erhebliches Potenzial für die moderne Medizin und Pharmakologie birgt. Bei einem Besuch des Botanischen Gartens der Universität Leipzig kann man manche auf dem schwarzen Kontinent verwendete Pfeilgift- und Arzneipflanze entdecken.
Jungpflanzen einer Commiphora -Art. Die sukkulenten Stämmchen deuten auf die Heimat in aridem ­Klima hin.

Als der 17-jährige Brite Charles Henry Stevens sich 1897 auf einer Reise am Kap der Guten Hoffnung aufhielt, wurde bei ihm eine "Lungenschwäche" diagnostiziert. In seiner Not wandte er sich an einen einheimischen Heiler, der ihn in zwei Monaten mit dem Dekokt einer Wurzel heilte, das Stevens zweimal täglich trinken musste. Als Stevens gesund in seine Heimat zurückgekehrt war, wandte er das Mittel mit Erfolg bei anderen Lungenkranken an. 1907 gründete er die "C. H. Stevens Consumptive Cure Company", um das aus den Wurzeln von Pelargonium reniforme hergestellte Präparat zu vermarkten, womit er – trotz des Widerstands der Schulmediziner – einigen Erfolg hatte: 1942 starb er als wohlhabender Mann.

In den 1920er Jahren experimentierte auch der Genfer Missionsarzt Adrien Sechehaye mit der Kapland-Pelargonie. Nach erfolgreichen Versuchen in der Berliner Charité knapp zehn Jahre später begann das Regensburger JSO-Werk (jetzt: Fa. ISO-Arzneimittel in Ettlingen), die Arznei unter dem Namen Umckaloabo® herzustellen; heute ist sie eins der bekanntesten Phytopharmaka gegen Erkältungen.

"Umckaloabo" bedeutet in der Zulu-Sprache "schwerer Husten". Die Heilkundigen am Kap der Guten Hoffnung setzen den Extrakt aus Pelargonienwurzeln traditionell gegen Infekte unterschiedlichster Art ein. Mittlerweile wurde nachgewiesen, dass die Inhaltsstoffe antibakteriell und virustatisch wirken sowie das Immunsystem stimulieren.

Gel aus "echter" Aloe

Auch viele andere afrikanischen Pflanzenarten liefern Drogen für die pharmazeutische sowie die kosmetische Industrie. So zum Beispiel die Curaçao-Aloe (Aloe vera syn. A. barbadensis). Die Heimat dieser Sukkulenten reicht vom Kapland bis Arabien und Indien; bereits im 16. Jahrhundert wurde sie durch spanische Seefahrer auch in der Neuen Welt eingebürgert, wo sie nach den Karibik-Inseln Curaçao und Barbados benannt wurde.

Ende der 1950er Jahre entwickelte der texanische Apotheker Bill C. Coates ein Verfahren, den – von abführenden Anthracenderivaten freien – viskösen Saft ("Gel") des Blattmarks zu gewinnen und mithilfe der Vitamine C und E zu stabilisieren. Inzwischen haben Wissenschaftler in Aloe vera über 270 Inhaltsstoffe identifiziert, z. B. Acemannan, ein langkettiges Polysaccharid, das nach oraler Einnahme gut resorbiert wird und die Immunabwehr unterstützen soll; es wird auch als Kleber für Zahnprothesen verwendet. Für die äußerliche Anwendung wird das Aloe-Gel bei Hauterkrankungen einschließlich Neurodermitis, bei Prellungen und Sonnenbrand empfohlen. Die Behauptung, dass es auch bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Arteriosklerose und Angina pectoris wirke, konnte allerdings nicht bestätigt werden.

Die Kap-Aloe (Aloe ferox) enthält großenteils die gleichen Inhaltsstoffe wie die Curaçao-Aloe, doch sind die Abweichungen so relevant, dass die Drogen pharmazeutisch streng unterschieden werden (Monographien im Europäischen Arzneibuch).

Die Aloe -Arten bilden Blattrosetten direkt über dem Erdboden; während A. vera diese Wuchsform ihr Leben lang beibehält, wächst A. ferox zu einem bis vier Meter hohen Baum empor. Zudem ist A. ferox an ihren blaubereiften Blättern zu erkennen, deren Ränder und Unterseiten mit rötlich-braunen Stacheln besetzt sind.

Myrrhe – ein Antiseptikum aus biblischen Zeiten

Myrrhentinktur ist ein bewährtes Mittel zur Behandlung von Entzündungen im Rachenraum und von Prothesendruckstellen. Die alten Ägypter nahmen den gelb-braunen eingetrockneten Saft von Commiphora myrrha schon vor dreitausend Jahren als Zutat zur Einbalsamierung Verstorbener. Die Juden verwendeten Myrrhe (neben Aloe) bei Bestattungsritualen und für andere rituelle Salbungen. Wohl deswegen war sie eine der Kostbarkeiten, welche die drei Weisen aus dem Morgenland dem neugeborenen Christus – dem Gesalbten – überreichten.

In der klassischen Antike galt das leicht würzig-süß duftende Myrrhenöl als Aphrodisiakum. Wer ganz sicher gehen wollte, beträufelte damit sogar die Betten. Letzten Endes sollten die geheimen Kräfte auf die zyprische Königstochter Smyrna – das griechische Synonym für Myrrhe – zurückgehen, die sich laut griechischer Mythologie nach der Geburt ihres Sohnes Adonis in einen Myrrhestrauch verwandelte. Das dornige, sukkulente Gewächs ist von Ostafrika über die Arabische Halbinsel bis nach Indien verbreitet.

Myrrhe besteht größtenteils aus Gummi und Harzen sowie Triterpensäuren und ätherischem Öl. Sie wirkt desinfizierend, desodorierend, granulationsfördernd und auch etwas analgetisch.

Strophanthus: Die Dosis macht das Gift

Viele in der afrikanischen Heilkunde genutzte Pflanzenextrakte stammen von Giftpflanzen. Sie dienen zugleich als Pfeilgifte für die Jagd – früher auch in Stammeskriegen – oder werden bei Gottesurteilen mit potenziell tödlichem Ausgang eingesetzt. Dabei besteht nur ein schmaler Grat zwischen therapeutischer und letaler Wirkung.

Während südamerikanische Indianer für die Jagd beinahe ausschließlich Nervengifte, die die Muskeln lähmen, verwendeten, haben in Afrika Cardenolidglykosid-haltige Drogen absolute Präferenz. Giftkundige Personen sammeln sie selbst und halten ihre Rezepturen streng geheim. Ebenso wenig geben die Heiler ihr durch langjährige Erfahrung erworbenes Wissen über die therapeutisch wirksamen Dosierungen preis.

Glykoside und Alkaloide

Im späten 19. Jahrhundert begannen europäische Forscher, die Geheimnisse der afrikanischen Gifte zu lüften und therapeutisch zu nutzen. Insbesondere wurden g-Strophanthin und k‑Strophanthin – Glykoside aus Strophanthus -Arten – zur Behandlung der Herzinsuffizienz eingesetzt. Das aus den Samen von Physostigma venenosum gewonnene Indolalkaloid Physostigmin war ein Mittel gegen das Alkoholentzugsdelir und ist heute noch ein Antidot beim anticholinergen Syndrom.

Die Hakenlilie – nur eine von über hundert Arten der von den Tropen bis zu den subtropischen Zonen Afrikas und Asiens verbreiteten Gattung Crinum (Amaryllidaceae) – ist hierzulande wegen ihres attraktiven Flors eine beliebte Kübelpflanze.

Für Wissenschaftler ist sie wegen ihres Alkaloidgehalts interessant. Bei der Untersuchung einzelner Arten werden sogar noch neue Alkaloide entdeckt. Nicht minder prächtig sind die Blüten der ebenfalls hierzulande in sommerlichen Gärten präsenten Gloriosa rothschildiana und ihrer Verwandten; die klimmenden, in Afrika und Asien heimischen Zeitlosengewächse werden wegen ihres Colchicin-Gehalts kommerziell angebaut.

Rauvolfia – fast eine Universalarzneidroge

Reserpin wirkt blutdrucksenkend und psychotrop; Ajmalin ist ein Antiarrhythmikum. Beide Wirkstoffe sind Indolalkaloide, die aus den Wurzeln von Rauvolfia -Arten (Apocynaceae) gewonnen werden. Sie sind mit – je nach Nomenklatur – 60 bis 110 Arten in Asien, Afrika und der Neuen Welt verbreitet.

Rauvolfia vomitoria kommt im tropischen Afrika von Senegal bis Uganda, Angola und Mosambik vor. Die vier bis fünf Meter hohen Bäume enthalten einen bitter schmeckenden Milchsaft und sind nur an den Infloreszenzen belaubt. Die Alkaloide finden sich nur in geringem Maße in den oberirdischen Pflanzenteilen und konzentrieren sich in den Wurzeln. Heilkundige Afrikaner bereiten daraus Dekokte zur Linderung von Krämpfen, behandeln damit aber auch Lepra, Gonorrhö und Gelbsucht; übererregte Geisteskranke versetzen die Heiler durch Verabreichung des Suds in einen mehrstündigen Tiefschlaf. Ein Stamm an der Elfenbeinküste soll das Dekokt sogar als Klistier anwenden, um die Libido zu steigern. Eine auf die Haut aufzutragende Paste aus der mazerierten Wurzel soll Läuse und anderes Ungeziefer vertreiben.

Material für die moderne Forschung

Es ist zwar nicht üblich, die Wirksamkeit ethnomedizinischer Heilverfahren klinisch zu prüfen; die dabei eingesetzten Arzneimittel können aber der Pharmakologie wertvolle Anregungen geben. So wurde im kalifornischen Palo Alto unlängst ein Patent für einen antidiabetischen Extrakt registriert, der aus Rauvolfia vomitoria und Citrus aurantium gewonnen wird; was seine pharmakologische und klinische Prüfung ergeben wird, ist aber noch völlig ungewiss.

Reinhard Wylegalla

Literaturtipp


Eine afrikanische Ethnopharmakologie und Ethnobotanik
Das Buch ist eine Fundgrube und Anregung für die weitere Erforschung pflanzlicher Wirkstoffe und darüber hinaus ein für jeden an diesem Thema interessierten Pharmazeuten, Arzt und Naturwissenschaftler außerordentlich anregender Schatz an hochinteressanten Fakten aus der Natur- und Wirkstoffforschung mit ethnologischem und kulturgeschichtlichem Hintergrund. Die trockene Aufzählung, die in vielen Handbüchern dieser Art abschreckt, wird hier durch viele ausführlicher dargestellte Details aufgelockert und außergewöhnlich lesenswert gemacht.
Neuwinger, Hans Dieter
Afrikanische Arzneipflanzen und Jagdgifte
Chemie, Pharmakologie, Toxikologie

2. Aufl., XVI, 960 S., 370 s/w Abb., 100 farb. Abb. auf 12 Farbtafeln, geb. 91,– Euro
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1998 ISBN 978-3-8047-1550-9
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