Kopf oder Zahl?

Kollektives Abtauchen und Verleugnen der wirtschaftlichen Realitäten – das politische Gebot der Stunde? Foto: Herzog

Mit der neuen Bundesregierung ist ein altes Thema wieder auf die Agenda gelangt: Die einkommensunabhängige Gesundheitsprämie, auch burschikos "Kopfpauschale" genannt.

Der politische Streit tobt schon lange. Die "Gesundheitsprämie" steht dabei gegen die "Bürgerversicherung" mit streng einkommensabhängigen Beiträgen und einer verbreiterten Bemessungsgrundlage. Gut in Erinnerung sind die zahlreichen Diskussionen, in denen Argumente wie diese die Runde machten: "Bei der Gesundheitsprämie zahlt dann ja die Sekretärin genauso viel Beitrag wie ihr Chef ...". Interessanterweise ist niemand aufgestanden und hat ergänzt: " na und, es ist ja schließlich auch für die gleiche Leistung!". Das wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf das Land der "Dichter und Denker", zwischenzeitlich eher Ersteres, allerdings auf Gassen-Goethe-Niveau.

Bei näherem Hinsehen ist die Sachlage jedoch nicht ganz so einfach. Es ist wie mit einer Jacke, die man von vornherein falsch zugeknöpft hat. Mit dem Auf- und Zuknöpfen eines einzelnen Knopfes ist es nicht mehr getan. Der Kittel sitzt schief.

Zur Erinnerung: Immer noch gut 90% der Einnahmen der GKV speisen sich aus Arbeitseinkommen bzw. Renten. Die Tendenz ist fallend aufgrund der steigenden Steuerzuschüsse, in 2010 werden das voraussichtlich knapp 16 Mrd. € (etwa 9% des Fondsvolumens) sein. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze von monatlich 3750 € in 2010 werden prozentuale, kasseneinheitliche Beiträge in Höhe von 14,9% erhoben – allerdings schon heute nicht mehr paritätisch. 0,9% zahlen die Arbeitnehmer komplett aus eigener Tasche, und eventuelle Zusatzbeiträge der einzelnen Krankenkassen werden auch vom Arbeitnehmer allein getragen. Bei der Pflegeversicherung zahlen Kinderlose ebenfalls unparitätisch 0,25%-Punkte mehr. Der Krankenkassen-Höchstbeitrag beträgt damit rund 560 €, zuzüglich Pflegeversicherung. Der dagegen tatsächlich geleistete Durchschnittsbeitrag eines Mitgliedes beträgt zurzeit in der GKV gut 260 € monatlich, einschließlich Arbeitgeberanteil. Das markiert die Größenordnung für die "Kopfprämie". Die GKV umfasst heute etwa 50 Millionen zahlende Mitglieder (ggf. über Transfer geleistet wie bei Hartz IV) und rund 70 Millionen Versicherte (diese höhere Zahl erklärt sich durch beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige).

Interessanterweise bleiben alle Einkünfte oberhalb dieser Bemessungsgrenzen unangetastet, hier schweigt das soziale Gewissen beharrlich seit Jahrzehnten.

Ein undurchsichtiges System von Zusatzversicherungen verkompliziert das Ganze weiter. Allein die Privatversicherungen haben über 20 Millionen Zusatzverträge laufen, und die GKV mischt in diesem Markt ja inzwischen ebenfalls kräftig mit. Die paritätische Finanzierung eines allumfassenden Gesundheitsschutzes ist damit schon heute Illusion und einem Dickicht von schwer verständlichen Sonderregeln und der Berücksichtigung zahlreicher Partikularinteressen gewichen.

Im Grunde wäre es längst Zeit, diesen Dschungel zu lichten und eine einheitliche Gesundheitsprämie einzuführen. Fakt ist, dass ja auch die Leistung dieselbe wäre. Jeder zahlt für die gleiche Leistung denselben Beitrag, und es verwundert, dass bereits solche einfachen Zusammenhänge nicht verständlich zu machen sind. Mit den Argumenten der Anhänger lohnabhängiger Beiträge hingegen müsste man im Grunde auch einkommensgestaffelte Tarife an der Ladenkasse oder Tankstelle verlangen. Dann kostet das "Sozialbrötchen" eben 10 Cent, die Variante "Ackermann" 10 €. Da würden die meisten jedoch nur den Kopf schütteln

Interessanterweise sind es übrigens nicht selten die gleichen Sozialpolitiker, die andernorts aufgrund von "Sachzwängen" Vergünstigungen wie Sozialtickets für Bus und Bahn, reduzierte Eintrittspreise und anderes mehr konsequent abbauen.

Ein gern angeführtes Argument ist der bürokratische Aufwand, der durch eine Kopfpauschale ausgelöst würde. Schließlich sollen diejenigen, die heute weniger bezahlen als diese Prämie ausmachen würde, nicht schlechter gestellt werden. Für diesen Personenkreis müsste damit eine Art "fiktiver Beitragssatz" fortbestehen. Die Formel lautete also nicht "x € Prämie ohne Ansehen von Person und Lohn", sondern "y%, der Rest bis zu x € Kopfpauschale ist ggf. Zuschuss aus der Staatskasse".

Eine zentrale Frage ist zudem die der beitragsfreien Mitversicherung. Mit der Vorfestlegung, Kinder weiterhin beitragsfrei zu stellen, ergibt sich ein Betrag von rund 15 Mrd. € (so viel kosten die Kinder in etwa), der schon einmal vorweg aus der Staatskasse zu bestreiten ist. Das ist allgemeiner Konsens, ob dies tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist, sei dahingestellt. In der Schweiz beispielsweise kosten Kinder ebenfalls eine – allerdings deutlich erniedrigte – Prämie.

Schwieriger ist die Frage nach der beitragsfreien Mitversicherung der Ehepartner. Obwohl auch dieses Prinzip durch zahlreiche Sonderregeln schon ausgehöhlt wurde, steht hier ein zweistelliger Milliardenbetrag zur Disposition.

Schlussendlich 30 bis über 40 Millionen "Unterstützungsbedürftige" werden bei dem Systemansatz der Gesundheitsprämie in den Raum gestellt. Die genaue Zahl hängt natürlich ganz maßgeblich von der Höhe der "Kopfpauschale" und der jeweiligen Lohnverteilung ab. Je höher die Pauschale angesetzt wird, umso mehr werden bedürftig. In der Tat kann das natürlich zu allerlei Kuriositäten führen. Jede Lohnkürzung (wie Stundenkürzungen oder der Wegfall von Zulagen z. B. bei der Akkord- oder Schichtarbeit) kann von einem Monat auf den anderen Unterstützungsansprüche auslösen. Andererseits ist dies im Zeitalter der heutigen EDV im Wesentlichen ein technisches Problem. Rutscht jemand bei der monatlichen Lohnmeldung unter die kritische Grenze, wird die Differenz auf ein "Zuschusskonto" gebucht, welches von Staats wegen ausgeglichen wird. Wenn man sich die komplizierten Berechnungsmodalitäten beim Arbeitslosengeld oder der Rente anschaut, dann sollte dies ein kleines Problem sein.

Freilich würden umgekehrt alle, die heute mehr als diese künftige Kopfpauschale bezahlen, natürlich profitieren, und zwar deutlich. Am meisten würde sich dies bei freiwillig Versicherten auswirken, insbesondere den Selbstständigen, auf denen die volle Last des Höchstbeitrages ruht. Da die Profiteure aber nach heutiger Systematik die höher Verdienenden sind, liegt hier der Hase im Pfeffer. Diese Kröte wollen die Sozialromantiker nicht schlucken.

Die Dramatik, die hinter dem Ganzen steckt, ist jedoch eine ganz andere: Die nüchternen Zahlen zeigen, dass wir uns ein Gesundheitssystem leisten, welches nicht dem Wertschöpfungsanteil eines großen Teiles der Bevölkerung entspricht. Wir haben also einen erschreckend hohen Anteil an Umverteilungsprofiteuren – Tendenz steigend mit Blick auf die Niedriglohn- und Hartz IV-Problematik. Rund 25% der Arbeitnehmer bewegen sich zwischenzeitlich im Niedriglohnbereich, 7 Millionen Bürger sind direkt oder indirekt als Familienangehörige Hartz IV-Empfänger, fast die Hälfte der Rentner bewegen sich im Bereich von 1000 € Monatsrente oder weniger – das ergibt eine explosive Mischung, vor der alle Politiker zurückschrecken.

Beim Blick auf die Einkommensverteilungen dürfte manch ein Leser große Augen bekommen. Nach der letztverfügbaren Einkommensteuerstatistik 2004 (die Steuerdaten hinken immer deutlich hinterher, aber viel hat sich an der grundsätzlichen Lage nicht geändert) hatten rund 28% der Steuerpflichtigen Einkünfte von maximal 10.000 € pro Jahr! 62% kamen nicht über 30.000 € hinaus. Die Marke von 50.000 € überschritten noch rund 16%, über 125.000 € kamen nur knapp 2% hinaus. Sogenannte Verlustfälle sind hier übrigens noch gar nicht erfasst. Zwar entspricht der hier erfasste Gesamtbetrag der Einkünfte nicht exakt dem beitragspflichtigen Einkommen, aber die Zahlen deuten schon die Malaise an.

Nehmen wir eine angestrebte Belastung von maximal rund 8% des Einkommens auf Arbeitnehmerseite an, und eine Pauschale von etwa 130 € monatlich (Arbeitnehmeranteil), dann liegt die Bruttolohngrenze, ab welcher der Betreffende zuschussberechtigt würde, bei 1625 €. Bei lediglich 100 € Prämie wären es 1250 € Monatslohn, bei 150 € Prämie bereits 1875 €. Die Höhe der Prämie ließe sich im Sinne einer Mischfinanzierung durch den Steuerzuschuss steuern. Schaut man auf die oben dargestellte Einkommensverteilung, dann werden jedoch die hohen Fallzahlen für eine Bezuschussung verständlich.

Auf Arbeitgeberseite stellt sich die Frage genauso. Würde dann beispielsweise bei einer 650 €-Arbeitskraft eine Arbeitgeberpauschale von ebenfalls etwa 130 € fällig, eine Belastung von immerhin 20% (gegenüber 7% heute)?

Der Staat kann nun seinerseits durch seinen Steuerzuschuss die Prämie niedrig halten und damit die Zahl der Bezuschussungsfälle reduzieren, oder aber er gibt das Geld breit in Form von Prämienverbilligungen (so heißt das beispielsweise in der Schweiz) aus.

Wie kann es zu solchen Verwerfungen kommen? Ursächlich ist eine schiefe Einkommensverteilung, und damit eine entsprechend unsymmetrische Beitragsverteilung. Vom Prämienmodell profitieren würden alle, die heute mehr als etwa 260 bis 270 € Kassenbeitrag (einschließlich Arbeitgeberanteil) zahlen. Das sind zahlenmäßig nicht allzu viele, aber es sind genug, um die Umverteilungslast zu schultern. Insbesondere diejenigen, die Höchstbeiträge zahlen.

Der Vollständigkeit halber sei angefügt, dass sich für die Pflegeversicherung im Grunde die gleichen Fragen stellen, nur mit anderen Zahlen.

Gleichzeitig wird auf der anderen Seite keine ehrliche Umverteilungsdebatte geführt, obwohl das private Geldvermögen rund 4500 Mrd. € beträgt, zuzüglich Immobilienbesitz in Höhe von ebenfalls einigen Billionen Euro. Es ist nicht so, dass nichts da ist. Die Diskussion hierüber kann gleichfalls nur als verlogen bezeichnet werden. Denn es gibt durchaus die Fälle, die sich beispielsweise trotz umfangreichen Immobilienbesitzes und diverser "Buchungstricks" in der GKV zum Mindestsatz versichern lassen – und selbstverständlich alle Leistungen einfordern. Ein solches System kann nicht nachhaltig funktionieren.

Ein überraschender Nebenaspekt der Diskussion wird gerne übersehen: Gerade die privaten Krankenversicherer wären von einer günstigen Kopfpauschale in der GKV außerordentlich negativ betroffen. Der heutige, finanzielle Vorteil in der privaten Vollversicherung würde ganz empfindlich schrumpfen, vielfach ins Negative verkehrt. Denn gerade die PKV ist der Hauptprofiteur von den prohibitiven Höchstbeiträgen in der GKV. Mit ziemlicher Sicherheit werden auch von dieser Seite die "Einflüsterer" gegen eine günstige Gesundheitsprämie "für alle" aktiv sein.

Sie sehen aus diesen Ausführungen, dass die Lage im Detail wesentlich komplizierter ist als gedacht. Begründet ist dies in der Tradition eines auf Umverteilung ausgelegten Systems. Faktisch ließe sich ein Systemwechsel nur mit erheblicher und bislang unbekannter Härte durchsetzen. So könnte man die Prämie schlicht zwangsweise einfordern und die Bezuschussung eben nicht an einer fiktiven, arbeitnehmerseitig maximal 8%igen Höchstbelastung vom Lohn festmachen. Wer nicht genug verdient, muss dann sehen, dass er eben mehr arbeitet. Nur der Grundfreibetrag – in etwa Hartz IV-Niveau – wäre befreit, und nur wer darunter rutscht, bekommt Zuschüsse.

Keine Partei würde unter heutigen Gegebenheiten einen solch radikalen Systemwechsel angesichts obiger Einkommensverteilung überleben. Obwohl, und das ist das Bizarre, nach logischem Menschenverstand eine angemessene, feste Prämie für jedermann das Logischste und Natürlichste der Welt wäre ...

Wer also durchgreifende Reformen im Gesundheitswesen erwartet, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit getäuscht sehen. Die Politik der kleinen Schritte unter gleichzeitiger Verkomplizierung und Vernebelung wird weitergehen. Dass damit die Lasten nur weiter in die Zukunft verschoben werden, wird billigend in Kauf genommen. Im Grunde weiß nämlich jeder, dass dermaßen verschachtelte und verwobene Systeme sich eines Tages nur durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch mit der dann unabweisbaren Notwendigkeit grundlegender Reformen überwinden lassen. Doch dazu lief es bisher viel zu gut, und genügend Geld war – und ist – noch vorhanden.

Das könnte sich möglicherweise schneller ändern, als gedacht. Sollte die zweite Flutwelle der Finanzkrise über die Welt schwappen – nachdem sich schon wieder rasend schnell neue Blasen gebildet haben und die alten noch nicht hinreichend aufgelöst wurden –, dürften tatsächlich die bisherigen Strukturen des Sozialstaats gehörig ins Wanken geraten. Dann wird anders gespielt! Und wir werden uns die Augen reiben, mit wie viel weniger es dann auch geht, weil es einfach gehen muss ...


Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, Philosophenweg 81, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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