Forschung

Oligosaccharide in der Wirkstoffforschung

Im Gegensatz zu Proteinen und Oligonukleotiden wurden Kohlenhydrate in der Wirkstoffforschung lange Zeit vernachlässigt. Bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Kohlenhydrat-Sequenzierung und in der Synthese verbessern unser Verständnis der Glycobiologie und führen damit zu neuartigen kohlenhydratbasierenden Wirkstoffen.

Genomics und Proteomics haben sich in den vergangenen Jahren zu wichtigen Gebieten der Grundlagen- und Wirkstoffforschung entwickelt und gaben den Anstoß zu einer Welle neuer Biotechnologieaktivitäten. Kohlenhydrate, die in den unterschiedlichsten Formen auf der Oberfläche von Zellen vorkommen, spielen in der Zell-Zell-Erkennung und Adhäsion eine wichtige Rolle. Dadurch sind Zucker auch für viele Krankheitsprozesse, wie Entzündungen, bakterielle und virale Infektionen, sowie die Krebsmetastasenbildung von fundamentaler Wichtigkeit. Spezifische Kohlenhydrate auf Krebszellen und Parasiten dienen als Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Impfstoffe auf Kohlenhydratbasis. Da die Isolierung von Kohlenhydraten schwierig ist und die Oligosaccharid-Biosynthese keiner direkten genetischen Kontrolle unterliegt, werden meist heterogene Gemische erhalten. Die chemische Synthese von Kohlenhydraten ist damit oft die einzige Alternative. Bioinformatik-Studien in globalen Datenbanken zeigen, dass 36 Bausteine ausreichen, um 75% aller bisher bekannten Säugetier-Oligosaccharide herzustellen.

Synthese von Oligosacchariden

Bis vor Kurzem wurden Kohlenhydratketten und verschiedene Glykokonjugate in langwieriger und kostspieliger Arbeit in Lösung synthetisiert. Die automatisierte Festphasensynthese, routinemäßig für die Synthese von DNA und Peptiden eingesetzt, beschleunigt die Oligosaccharidsynthese immens. Im Vergleich zur Synthese in Lösung können bei der Festphasensynthese die mit Überschuss eingesetzten Reagenzien durch Waschen des Trägers einfach und schnell vom Produkt getrennt werden. Daher ist eine Aufreinigung des Zielmoleküls erst nach vollendeter Synthese erforderlich.

Kohlenhydratchips

Kohlenhydratchips gehören zu den Standardwerkzeugen der Biologen, um die Rolle von Kohlenhydraten in biologischen Systemen aufzukären. Diese Microarrays bieten gegenüber den herkömmlich eingesetzten Methoden wie z. B. Enzyme-linked immunosorbent assays (ELISAs) den Vorteil, dass mit kleinsten Mengen Zucker und Ligand auf einem einzigen Objektträger einige tausend Kohlenhydrat-Ligand-Interaktionen gemessen werden können. Kohlenhydratchips wurden auch genutzt, um die Bindung von RNA an Aminoglycosidantibiotika zu untersuchen und Resistenzmechanismen dieser Wirkstoffe zu verstehen. Pathogene Bakterien konnten im Blut mit der Hilfe von Kohlenhydratarrays detektiert werden.

Oligosaccharide als Wirkstoffe

Erstaunlicherweise gibt es trotz der unglaublich großen Anzahl von biologischen Prozessen, in denen Kohlenhydrate eine entscheidende Rolle spielen, gegenwärtig nur sehr wenige, auf Kohlenhydraten basierende Wirkstoffe auf dem Markt. Hierzu gehört das Monosaccharid-Derivat Tamiflu (Oseltamivir Phosphate; Roche) und die Oligosaccharide Acarbose (Precose, Glycobay; Bayer) und Heparin. Aminoglycoside (natürlich vorkommende pseudo-Oligosaccharide) werden als Antibiotika bei einer Reihe von Infektionen zur Therapie eingesetzt, ausgelöst durch Gram-negative Bakterien, wobei sie die bakterielle Proteinsynthese durch Bindung an die Ribosomen inhibieren.

Heparin

Heparin ist ein hoch-sulfatiertes lineares Makromolekül, das seit mehr als 70 Jahren als Gerinnungshemmer eingesetzt wird. Die Wirkung als Antikoagulans beruht auf der Wechselwirkung von Heparin mit Antithrombin III. AT III wechselwirkt mit Thrombin und Faktor Xa, wobei ein Pentasaccharid als bindendes Motiv identifiziert wurde. Diese Pentasaccharidsequenz ist selten und kommt nur etwa in einem Drittel der Heparinketten vor. Nach mehr als zehn Jahren intensiver Forschung ist nun seit 2002 ein synthetisches Pentasaccharid, Arixtra (fondaparinux sodium; GlaxoSmithKline) auf dem Markt. Heparin bindet aber auch viele andere Proteine, wie Wachstumsfaktoren, Chemokine, und Selektine. Durch die chemische Komplexität und Heterogenität des Heparins sind jedoch die Struktur-Funktionsbeziehungen bis heute noch nicht geklärt. Fortschritte auf dem Gebiet der Heparinsequenzierung, der Synthese und der Heparin-Microarray-Technologie erlaubten die Identifikation bestimmter Heparinsequenzen oder Sequenzfamilien die an einer Vielzahl von physiologischen Vorgängen und Entwicklungsprozessen wie Zellproliferation, -differenzierung, -morphogenese und -angiogenese beteiligt sind.

Impfstoffe auf Kohlenhydratbasis

Die Zelloberfläche von Bakterien, Parasiten und Viren weist eine Vielzahl von Oligosacchariden auf, die oft artspezifisch sind. Gewisse Glycoconjugate sind auf Tumorzellen viel stärker exprimiert als auf Oberflächen gesunder Zellen. Solche Zelloberflächen-Marker bilden die Basis für die Entwicklung von Diagnosesystemen und Impfstoffen. Auf Kapsel-Kohlenhydraten basierende Impfstoffe sind bereits gegen Neisseria meningitidis, Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenza type b (Hib) und Salmonella typhi erhältlich. Die Identifikation neuer Antigenkanditaten wird durch verbesserte Sequenzierungs-Methoden vereinfacht. Weiterhin tragen die verbesserten Lösungs- und Festphasensynthesen dazu bei, die entsprechenden Kohlenhydratketten in ausreichender Menge und hoher Reinheit bereitzustellen. Erst kürzlich wurde auf den Sporen des Anthrax-Erregers ein einzigartiges Tetrasaccharid-Antigen gefunden. Die synthetische Herstellung des Antigens erlaubte die Produktion monoklonaler Antikörper, die B. Anthracis selektiv erkennen, nicht aber den nächsten Verwandten Bacillus cereus. Dieses Antigen wird derzeit als Impfstoffkandidat getestet.

Malariaimpfstoff

Malaria (Plasmodium falciparum) infiziert 5 bis 10% der Menschheit und tötet mehr als zwei Millionen Menschen pro Jahr, hauptsächlich Kleinkinder in Afrika. Derzeit eingesetzte Wirkstoffe gegen Malaria eignen sich für den Einsatz in endemischen Gebieten nicht, und die zunehmende Resistenz der Erreger stellt ein großes Problem dar. Gleichzeitig gibt es immer noch keine Malariaimpfstoffe. Der Parasit hat große Mengen eines Glycosylphosphatidylinositol Ankers (GPI) auf seiner Oberfläche. Diese GPI sind in den toxischen Prozessen, unter anderem der Entzündungskaskade involviert, die zu Komplikationen und schließlich zum Tod führen. Um einen Impfstoff zu entwickeln, wurde das GPI-Hexasaccharid synthetisiert und an ein Protein gekoppelt. Ein solches GPI-Proteinkonjugat schützte Mäuse im Modellversuch vor dem sicheren Tod. Während alle nicht geimpften Tiere starben, überlebten 80 bis 90% der mit dem GPI-Impfstoff versorgten Tiere. Es konnte gezeigt werden, dass Menschen in endemischen Gebieten nach dem zweiten Lebensjahr eine Immunantwort gegen das GPI-Toxin aufbauen, welche zur Bildung von Antikörpern führt, die wiederum das Toxin binden und damit den Menschen schützen. Da Kleinkinder zwar nicht gegen Oligosaccharide, jedoch aber gegen Kohlenhydrat-Proteinkonjugate eine Immunantwort erzeugen können, wird ein GPI-Proteinkonjugatimpfstoff derzeit in vorklinischen Studien getestet. Durch den Einsatz der automatisierten Festphasensyntheseautomaten sollte es möglich sein, den Impfstoff in ausreichender Menge und zu einem Preis bereitzustellen, den sich die Menschen in Afrika auch leisten können.

Ausblick

Die biologische und medizinische Forschung sowie viele Bereiche der Wirkstoffentwicklung profitieren derzeit von Technologiesprüngen in der Glycomic. Viele Protein-Kohlenhydratwechselwirkungen sind für Signalübertragungsprozesse wichtig, aber nur wenige Liganden für Lektine (Kohlenhydratbindungsproteine) sind bisher bekannt. Kohlenhydratchips können nun schnell mit Oligosacchariden aus dem Synthesizer bestückt und im High-Throughput-Screening bei der Suche nach den Liganden eingesetzt werden. In der Wirkstoffforschung beginnen wir erst, das Potenzial der Glycomic auszunützen, viele wichtige Möglichkeiten ergeben sich nun.

 

Literatur:

Peter H. Seeberger; Daniel B. Werz; Nature, 2007, 446, 1046.


Anschrift der Verfasser

Arbeitsgruppe Professor Seeberger, 

Matthias Oberli, ETH Zürich, Laboratorium für Organische Chemie, HCI F 306

Wolfgang-Pauli-Str. 10, CH-8093 Zürich

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