Prisma

Nachbarschaftshilfe füt arbeitslose Nervenzellen

Es ist ein Naturgesetz: Freie Flächen bleiben nicht lange frei. Sei es das Blumenbeet, das im Nu von Unkraut überwuchert wird, oder die freie Stelle im Terminkalender, die gerne von Kollegen mit einer Besprechung gefüllt wird. Was manchmal ärgerlich ist, gibt Neurobiologen nun Anlass zum Staunen. Denn auch im Gehirn werden Nervenzellen, die keine Informationen mehr von ihren ursprünglichen Partnerzellen bekommen, von benachbarten Zellen in Beschlag genommen.

Das menschliche Gehirn besteht aus rund hundert Milliarden Nervenzellen. Jede dieser Zellen ist über 10.000 bis 20.000 Kontakte mit ihren Nachbarzellen verbunden. Erst dieses hochkomplexe Netzwerk ermöglicht es, Eindrücke und Empfindungen aufzunehmen und zu verarbeiten. Doch was passiert im Gehirn, wenn plötzlich Informationen aus einem Sinnesorgan fehlen? Wenn z. B. ein Unfall Tastsinneszellen der Haut zerstört, wenn Haarzellen im Ohr ausfallen oder wenn die Netzhaut des Auges beschädigt wird? In all diesen Fällen erhalten die Nervenzellen im Gehirn, die für den beschädigten Bereich zuständig sind, keine Informationen mehr – sie sind arbeitslos. Verkümmern diese Zellen daher? Keinesfalls, wie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und der Ruhr Universität Bochum nun zeigen konnten. Denn auch im Gehirn gilt: Freie Kapazitäten werden nicht verschwendet. Erstaunlich war für die Wissenschaftler, wie gründlich die Nervenzellen dieses Prinzip beherzigen. So fand im Versuch z. B. nach einer kleinen punktförmigen Netzhautläsion eine komplette "Neuverdrahtung" der zuvor für diesen Bereich zuständigen Nervenzellen statt. Bereits nach wenigen Tagen bildeten die Nervenzellen, die nun keine Informationen mehr von ihren Netzhautzellen bekamen, dreimal so viele Fortsätze aus wie nicht betroffene Nachbarzellen. Durch solche Fortsätze finden und identifizieren Nervenzellen Nachbarzellen, die sich für eine Kontaktaufnahme zum Datenaustausch eignen. Das Ergebnis dieser gesteigerten Aktivität konnten die Wissenschaftler nach knapp zwei Monaten bestaunen: Die Nervenzellen hatten ihre vorherigen Kontakte, die durch die Läsion nutzlos geworden waren, nahezu vollständig durch neue Kontakte ersetzt. "Dass junge Gehirne anpassungsfähig sind, ist ja bekannt", sagt Tara Keck zu ihren Ergebnissen. "Doch dass eine Neuverdrahtung in diesem Ausmaß auch im erwachsenen Gehirn stattfindet, hat alle überrascht." ral

Quelle: Keck, T. et al.: Nature Neurosci. Online-Vorabpublikation, DOI: 10.1038/nn.2181

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