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Todeszeitbestimmung mithilfe von Proteinen

Die quantitative Bestimmung bestimmter Proteine in Leichnamen ist eine neue gerichtsmedizinische Methode, um den Zeitpunkt des Todes festzustellen. Als Marker eignen sich Proteine, die in allen Menschen in gleichen Konzentrationen vorkommen und in den Leichen in etwa der gleichen Geschwindigkeit abgebaut werden.

Typische Merkmale von Leichen

Den Zeitpunkt des Todes eines Menschen festzustellen, ist vor allem dann sehr schwierig, wenn die Leiche erst nach längerer Liegezeit gefunden wird. Bei ungeklärten Todesfällen und bei Mordopfern kann der genaue Todeszeitpunkt entscheidende Bedeutung für die Aufklärung haben. In solchen Fällen sind die Gerichtsmediziner gefragt. Bei Liegezeiten bis zu zwei Tagen stehen ihnen standardisierte Methoden der Todeszeitbestimmung zur Verfügung. Indizien sind die Totenflecken, die in der Regel etwa eine halbe Stunde nach dem Tod durch das Absinken des Blutes entstehen, die Körpertemperatur und das Ausmaß der Todesstarre, der Verhärtung der Muskulatur.

Nach einigen Tagen verschwinden diese Merkmale jedoch wieder, und es wird schwieriger, den Todeszeitpunkt zu bestimmen. Erfahrung und Schätzungsvermögen der Mediziner werden mit jedem verstrichenen Tag wichtiger, da die individuellen Umstände und die Umgebung immer stärker einwirken. Für Fäulnis und Verwesung gilt im Allgemeinen – aber nicht bei extremen Temperaturen – die van ‘t Hoffsche Regel, eine Faustregel der Physiologie und organischen Chemie. Sie besagt, dass sich die Geschwindigkeit biologischer Reaktionen verdoppelt, wenn die Temperatur um 10° C erhöht wird (Reaktionsgeschwindigkeit-Temperatur-Regel, RGT-Regel).

Nach der Casper-Regel entspricht die Liegezeit von einer Woche an der Luft etwa zwei Wochen im Wasser oder acht Wochen im Erdgrab. Faktoren wie die Todesursache, die Körpertemperatur zum Todeszeitpunkt, eventuelle Krankheiten, Keimbesiedlung, Liegeort, Umgebungstemperatur, Sonneneinstrahlung, Belüftung, Feuchtigkeit und Tierfraß oder Verschleppung haben jedoch individuell einen entscheidenden Einfluss auf die Veränderungen des Leichnams. Je länger die Liegezeit, umso wichtiger sind heute entomologische Kenntnisse. Denn anhand des Insektenbesatzes einer Leiche kann oft der Zeitpunkt des Todes ermittelt werden (siehe "Maden verraten den Täter" in DAZ 2004 Nr. 4, S. 84).


Was ist eine Leiche?

Als menschliche Leiche (Leichnam) gilt der Körper eines Verstorbenen, solange der gewebliche Zusammenhang noch nicht durch Fäulnis aufgehoben ist. Skelette und Skelettteile gelten nicht mehr als Leichnam. Als Leichnam gilt ferner jedes Lebendgeborene unabhängig vom Geburtsgewicht, wenn nach der Trennung vom Mutterleib mindestens eines der Lebenszeichen vorgelegen hat: Herzschlag, Pulsieren der Nabelschnur, natürliche Lungenatmung.

Insulin als Marker

Frank Wehner, Gerichtsmediziner am Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Tübingen, hat nun mit der Färbung bestimmter Proteine ein weiteres Verfahren entwickelt, indem er das Ausmaß der Zersetzung bestimmter körpereigener Proteine im Gewebe bestimmt (immunhistochemisches Verfahren).

Als erste Testsubstanz wählte Wehner das in jedem Menschen – natürlich oder durch Substitution – vorhandene Insulin. Das ergab sich folgendermaßen: Bei einem Doppelmord, den Wehner aufzuklären hatte, war Insulin das Mordgift gewesen. Er konnte rings um die gefundenen Spritzeneinstichstellen an den Leichnamen eine überhöhte Insulinkonzentration feststellen. Die sich anschließende Frage, wie lange Insulin im Körper nachzuweisen ist, war dann der Auslöser für die Idee, mithilfe von Insulin den Todeszeitpunkt zu bestimmen.

Generell kommen für das immunhistochemische Verfahren nur solche Proteine in Frage, die in möglichst vielen Menschen nachweisbar sind und in ausreichender Menge in einem Organ vorkommen, das bei der Obduktion routinemäßig entnommen werden kann, wie zum Beispiel die Bauchspeicheldrüse oder die Schilddrüse. Zudem sollte bereits ein standardisierter Antikörpertest für das Protein vorliegen.


Tab. 1: Für die Todeszeitbestimmung relevante Merkmale und Methoden (p. m. = post mortem)
Merkmal/Methode
Anmerkung
Totenflecken (Livores)
Beginn 15 bis 30 Minuten p. m.
Totenstarre (Rigor mortis)
Beruht auf ATP-Verarmung; Beginn am Kiefergelenk zwei bis vier Stunden p. m.; nach sechs bis acht Stunden vollständig; Lösungsbeginn nach zwei bis vier Tagen, je nach Temperatur
Totenlaut
Seufzer vor oder nach Lösung des Rigor mortis durch Brustraumvergrößerung bei Tiefertreten der Abdominaleingeweide; ausgelöst durch Bewegen der Leiche
Temperaturabfall
Das Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm nach Henßge ist die beste Grundlage der Todeszeitbestimmung in den ersten acht Stunden p. m.; Messung rektal; Auswertung unter Berücksichtigung der Umgebungstemperatur
Pupillenreaktion
Weitung der Pupillen (Kontraktion der Irismuskulatur) mit Mydriatika wie Adrenalin, Tropicamid, Atropin, Acetylcholin; zehn bis 46 Stunden p. m. möglich
Idiomuskulärer Wulst
Entsteht durch mechanische oder elektrische Reizung der Skelettmuskulatur, insbesondere des Musculus biceps brachii; innerhalb von acht Stunden p. m. möglich
Nekrophage Insekten
Verschiedene Arten legen in einer festen zeitlichen Reihenfolge ihre Eier in Leichen ab; auf den Tag genaue Zeitbestimmung in den ersten Wochen p. m. (nicht in sauberen Wohnungen ohne Fliegen)
Immunhistochemischer Nachweis
Quantitativer Nachweis bestimmter Proteine; Abbau von Cystatin C in genau zwölf Tagen p. m.; Zeitbestimmung kann zwei bis drei Tage abweichen
Thanatochemie
(Oberbegriff für Autolyse, Fäulnis, Verwesung)
Bildung von Leichengiften, insbesondere Ptomainen; Proteolyse; Abbau der Glutaminsäure zu Aminobuttersäure und Aminovaleriansäure, die eine zentrale Rolle in der Fäulnis spielen
Fäulnis
Durch Eigen- und Fremdkeime; Anaerobier überwiegen und bauen die Substrate reduktiv unter Gasbildung ab (bzgl. Zeit RGT-Regel beachten); Farbfäulnis, Gasdunsung; Oberhaut, Haare, Nägel abkösbar, Blasen auf der Haut; Clostridien und Proteus -Arten bereits zehn Stunden p. m. in der Leber nachweisbar
Verwesung
Tritt auf, wenn Flüssigkeiten abgesintert werden; trockene oxidative Prozesse führen zu zundrigem Zerfall der Organe; aerobe bakterielle Prozesse mit stechend-muffigem Geruch; RGT-Regel beachten
Mumifizierung
Bei trockener Wärme und Luftentzug weitgehende Erhaltung der Strukturen
Fettwachs (Adipocire)
Weichteile können sich im feuchten alkalischen Milieu in Fettwachs umwandeln; kann Monate bis Jahre dauern
Skelettierung
Nach drei bis vier Jahren im Erdgrab abgeschlossen
Knochenentfettung
Frühestens nach zehn Jahren abgeschlossen
Radiocarbon-Bestimmung
Die C-14-Methode wurde bei "Ötzi" angewandt

Cystatin C

Um im Leichengewebe einen noch verlässlicheren Marker als Insulin zu finden, hat die Arbeitsgruppe um Wehner mehrere hundert Leichen untersucht, von denen der Todeszeitpunkt und die postmortale Liegezeit bekannt waren. Dabei wurden die Forscher auf das Cystatin C, das in der Nebenniere des Menschen gebildet wird, aufmerksam. Es ist ein Cysteinprotease-Inhibitor mit einer Molekularmasse von 13 kD, dessen physiologische Bedeutung noch nicht endgültig geklärt ist.

Cystatin C wird in allen kernhaltigen Zellen in konstanter Rate synthetisiert und in den Extrazellularraum sezerniert. Das ändert sich auch durch entzündliche Prozesse und andere pathologische Zustände nicht; lediglich bei Autoimmunerkrankungen scheint die Konzentration anzusteigen. Cystatin C bindet an kein anderes Protein. Die Serumkonzentration hängt von der glomerulären Filtrationsleistung der Niere ab; sie ist unabhängig vom Geschlecht, von der Muskelmasse oder der Proteinaufnahme. In Leichnamen wird Cystatin C in genau zwölf Tagen abgebaut.

Gerichtsmedizinisch lässt sich Cystatin C aus einem Gewebeschnitt der Nebenniere durch eine Antigen-Antikörper-Reaktion und Anfärbung im Durchlichtmikroskop detektieren. Ist Cystatin C im Präparat enthalten, lässt sich der Todeszeitpunkt mit einer Abweichung von höchstens zwei bis drei Tagen bestimmen; ist es nicht nachweisbar, muss der Tod vor mindestens 13 Tagen eingetreten sein. Übrigens sind immunhistochemische Präparate dauerhaft lagerfähig.

Gewebespezifische Proteinogramme

Die Arbeitsgruppe um Wehner hat neben dem Insulin und Cystatin C noch weitere Proteine untersucht und typische Zeitverläufe für die histochemische Anfärbbarkeit von Thyreoglobulin, Calcitonin, α1 -Antitrypsin und Glucagon, dem Gegenspieler des Insulins im Glucosestoffwechsel, gefunden. Je mehr Proteine in die Analyse einbezogen werden, umso exakter lässt sich der Todeszeitpunkt bestimmen. Deshalb wird nach weiteren geeigneten Markern gesucht. So könnten zeitabhängige proteolytische Veränderungen der unterschiedlichen Gewebe, vom Herzmuskel bis zur Milz, als Proteinogramme dargestellt werden.

Daneben ist auch die Magnetresonanzspektroskopie zur Bestimmung postmortaler Stoffumwandlungsprozesse geeignet.

Todesfallstatistik

Für das Jahr 1999 werden in der deutschen Todesfallstatistik 846.330 Sterbefälle angegeben, darunter 33.853 oder 4 Prozent nicht-natürliche Sterbefälle. Die polizeiliche Kriminalstatistik wies 1005 vollendete Fälle von Mord und Totschlag aus. Die Dunkelziffer wurde nach einer multizentrischen Studie auf die gleiche Höhe geschätzt. Dies relativiert die hohe Aufklärungsquote von 93 Prozent.

Quelle: Schneider, 2004

 

Grenzen der Anwendung

Wie bei anderen Verfahren auch, gibt es Einschränkungen bei der Anwendung des immunhistochemischen Verfahrens. Zum Beispiel versagt es bei Leichen, die in der Tiefkühltruhe aufbewahrt wurden. Das hat Wehner an Gletscherleichen überprüft, die ein bis zwei Jahre im Eis gelegen hatten – in ihnen waren die Proteine noch vorhanden.

Doch ist auch die etablierte Methode der Bestimmung von nekrophagen Insekten, die ihre Eier in Leiche ablegen, ist nicht immer anwendbar: Manche Wohnungen sind so sauber, dass in ihnen keine Fliegen – und deshalb in den Leichen keine Maden – zu finden sind. In solchen Fällen ist die Gerichtsmedizin auf den immunhistochemischen Nachweis angewiesen.

 

Literatur

Ingeborg Claßen: Eingrenzung der Leichenliegezeit mittels immunhistochemischem Nachweis von Cystatin C in der Nebenniere. Diss. Tübingen, 2006.

Volkmar Schneider: Leichenschau. Internist 6, 1-15 (2004).

Bernd Karger et. al.: Handbuch gerichtliche Medizin. Springer, Berlin 2004.

 

 


Dr. Uwe Schulte
Händelstraße 10, 71640 Ludwigsburg
schulte.uwe@t-online.de

 

 

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