Medizin

Was ist eigentlich ... das Tourette-Syndrom?

Oft sind es die Eltern, die bei ihren Kindern immer wiederkehrende Muskelzuckungen, teilweise auch seltsame Lautbildungen wie ständiges Räuspern oder Viepen feststellen. Hinter solchen Tics kann sich das sogenannte Tourette-Syndrom verbergen, eine bis heute rätselhafte Erkrankung, die mit einem hohen Leidensdruck für Betroffene und Angehörige verbunden ist.

Das Tourette-Syndrom ist eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung, Kernsymptome sind motorische und vokale Tics. Tics sind rasche, unwillkürliche und meist unkorrigierbar einschießende Muskelzuckungen und Lautäußerungen in wechselnder Häufigkeit, Art und Lokalisation. Zusätzlich können noch AD(H)S, Zwangshandlungen, Zwangsgedanken, Angst, Depression und Autoaggression auftreten. Die Erkrankung führt nicht zu einer Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit.

Ein wichtiges Diagnosekriterium für das "Tourette-Syndrom" ist ein Erkrankungsbeginn vor dem 18. Lebensjahr. Die meisten Bewegungs-Tics treten tatsächlich meistens erstmals im Kindesalter auf, in der Regel zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr. Vokale Tics folgen etwas später, durchschnittlich mit elf Jahren. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. In der Pubertät verstärken sich die Symptome, während sie zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr meistens wieder nachlassen. Bei rund 70 Prozent der Betroffenen kommt es im Laufe der Zeit zu einer Verbesserung. Besonders bei Menschen mit nur schwacher Symptomatik besteht die Chance, dass die Tics sogar vollständig und endgültig verschwinden. Das Tourette-Syndrom gehört zu den häufigsten Bewegungsstörungen, etwa 50 von 100.000 Personen sind betroffen. In zehn Prozent der Fälle tritt eine familiäre Häufung auf, wobei die Disposition zu erkranken, vererbt wird. Daneben existiert noch eine nicht vererbbare Form. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Bei vielen Menschen ist die Diagnose eben einfach noch nicht gestellt worden. Die Lebenserwartung ist normal.


Dr. med. Georges Gilles de la Tourette

Der französische Nervenarzt Dr. med. Georges Gilles de la Tourette (30.10.1857 - 22.05.1904) arbeitete in der Klinik "Salpêtrière" und forschte vor allem an der Tabes dorsalis (Rückenmarks-Schwindsucht durch Syphilis), dem Morbus Parkinson und anderen Erkrankungen. Aber auch neuropsychiatrische Erkrankungen mit Tics und ungewollten Lautäußerungen interessierten ihn. In den 1880er-Jahren wurde er von einer psychotischen Patientin durch einen Pistolenschuss schwer verletzt. Die Patientin glaubte, von Tourette gegen ihren Willen hypnotisiert worden zu sein.

Ursache noch ungeklärt

Nach wie vor ist die genaue Ursache noch nicht endgültig geklärt. Man geht heute davon aus, dass es sich um eine Störung des Zentralen Nervensystems handelt.

 

In den Basalganglien, welche entscheidend für die Bewegungskontrolle sind, wurden bei Tourette-Patienten Veränderungen gefunden. Auch ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin könnte möglicherweise für die Symptomatik verantwortlich sein.

 

Untersuchungen deuten einen autosomal-dominanten Vererbungsmechanismus an. Ein betroffener Elternteil vererbt dieses Gen mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit auf die Nachkommen. Das Geschlecht des Kindes beeinflusst, wie das Gen wirksam wird. Söhne tragen ein etwa vierfach hohes Risiko, dass durch ein vererbtes Gen entsprechende Symptome entwickelt werden. Nur etwa zehn Prozent der Kinder mit vererbtem Tourette-Gen erkranken an einer stark ausgeprägten Symptomatik. Nicht jede vererbte Tourette-Symptomatik ist gleich ausgeprägt. Wechselwirkungen des vererbten Gens mit anderen Faktoren (z. B. Infektionen) bestimmen die Verschiedenartigkeit der Symptome bei den einzelnen Familienmitgliedern.

 

Aber auch Entzündungen des Gehirns (Enzephalitis) werden als Ursache diskutiert. Das Tourette-Syndrom wird dabei als Antwort des Gehirns auf die Entzündung gesehen.

 

Auffällige Gesichts-Tics

Die Erkrankung macht sich zu Beginn durch Gesichts-Tics wie etwa Augenblinzeln, plötzliches, rasches Zusammenkneifen der Augen, Verziehen des Mundwinkels, plötzliches Mundöffnen oder Nase rümpfen auf sich aufmerksam. Aber auch unwillkürliche Lautäußerungen (beispielsweise Räuspern) oder Muskelzuckungen im Extremitätenbereich (zum Beispiel plötzliches Armbeugen) müssen als erste Zeichen angesehen werden.

 

Bei den motorischen Tics handelt es sich um plötzlich auftretende, meist heftige Bewegungen, die einzeln oder wiederholt auftreten können. Beispielsweise kann es sich um das plötzliche Strecken oder Beugen des Armes, Drehungen der Hand, Zuckungen der Schulter, Augenblinzeln, Kopfrucken etc. handeln. Aber auch komplexere Bewegungen wie Grimassieren, Zunge heraus strecken, dauerndes Blinzeln, Selbstberührungen und so weiter können auftreten. Unter Umständen sind die Tics so stark, dass sich die Patienten selbst verletzen. Selten werden zwanghafte obszöne Gesten ausgeführt (Kopropraxie).

 

Koprolalie: wenn vokale Tics obszön werden

Vokale Tics können als leichte oder schwere Form auftreten. Räuspern, schniefen, schnüffeln, schnalzen mit der Zunge sind leichte Formen vokaler Tics. Die schweren Formen treten häufig mit obszönen Worten wie "Scheiße, Ficken, Arsch lecken, Votze" etc. auf (Koprolalie). Männer sind signifikant häufiger von der Koprolalie betroffen als Frauen. Sie ist bei schätzungsweise jedem fünften Tourette-Kranken anzutreffen. Möglich ist auch das Nachsprechen eben gehörter Sätze oder Wörter (Echolalie) oder die Wiederholung von eigenen Wörtern oder Sätzen (Palilalie).

 

Anzahl, Häufigkeit, Ausprägung und Art der Tics sind unterschiedlich. Manchmal verschwinden die Symptome für Wochen oder Monate, um plötzlich wieder aufzutreten, vermehrt bei psychischer Anspannung und Aufregung. Aber auch entspannte Situationen sind keine Garantie für eine Anfallsfreiheit. Muss sich der Patient auf andere Tätigkeiten konzentrieren, nehmen oftmals die Tics ab. Häufig können zusätzliche Symptome und Verhaltensweisen auftreten: zwanghafter Perfektionismus, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsprobleme, leichte Ablenkbarkeit, Schlafstörungen, verminderte Impulskontrolle, Autoaggressivität, Lernschwierigkeiten und Depressivität.

 

Tics im Rahmen des Tourette-Syndroms

 

Motorische Tics

Augenblinzeln, Kopfrucken oder -werfen, Schulterrucken oder -zucken, Grimassieren, Naserümpfen, Mundzuckungen usw.

Komplexe motorische Tics

Berühren von Personen oder Gegenständen, Zurechtzupfen der Kleidung, Spielen mit den Haaren, Springen, Stampfen, wildes Grimassieren, Nachahmung der Bewegung von anderen, schnüffelndes Riechen, Verdrehen des Körpers oder in die Hocke gehen, Zeigen obszöner Gesten (Kopropraxie), manchmal sogar selbst verletzendes Verhalten wie sich schlagen, kneifen, Kopf anschlagen und anderes.

Vokale Tics

Räuspern, Hüsteln, Fiepen, Quieken, Grunzen, Schnüffeln, Zungenschnalzen sowie die Nachahmung von Vogelstimmen oder anderen Tiergeräuschen etc.

Komplexe vokale Tics

Herausschleudern von Worten in kurzen Sätzen, die nicht im logischen Zusammenhang mit dem Gesprächsthema stehen; Ausstoßen sinnloser, beschimpfender, schmutziger, unflätiger, obszöner oder blasphemischer Worte (Koprolalie); Wiederholung von Lauten bzw. Wortfetzen, die gerade gehört wurden (Echolalie); Wiederholung von gerade selbst gesprochenen Worten (Palilalie) usw.

Quelle: www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/tourette.html

Medikamentöse Behandlungsversuche ...

Eine medikamentöse Behandlung sollte erfolgen, wenn Tics stark ausgeprägt und sehr störend sind oder Komplikationen drohen, beispielsweise durch Selbstverletzungen. Aber auch bei deutlicher subjektiver Belastung (zum Beispiel mit beruflichen Nachteilen) ist eine Behandlung indiziert.

 

Neuroleptika

Substanzen 1. Wahl sind verschiedene Neuroleptika wie beispielsweise Tiaprid, Pimozid, Risperidon oder Haloperidol. Welches Neuroleptikum am effektivsten beziehungsweise am nebenwirkungsärmsten ist, muss ausprobiert werden. Haloperidol gilt als wirksam, hat jedoch viele Nebenwirkungen. Sulpirid reduziert gut die Tics, zusätzlich wirkt es sich günstig auf andere Symptome wie Zwang, Aggression und depressive Verstimmung aus. Tiaprid wird gerne bei Kindern eingesetzt. Das atypische Neuroleptikum Risperidon hat auch eine günstige Auswirkung auf Tics. Seit einigen Jahren ist das atypische Neuroleptikum Olanzapin auf dem Markt. Neben einer guten Wirkung scheinen die Nebenwirkungen auch deutlich geringer als bei anderen Medikamenten.

 

Neuroleptika wirken bei jedem einzelnen Patienten anders. Während es bei einigen wenigen Erkrankten zu keiner Verminderung der Tics kommt, werden in Einzelfällen sogar Verschlechterungen beobachtet. Bei fehlender Wirkung oder Unverträglichkeit kann das eine Neuroleptikum durch ein zweites oder gar drittes Medikament ersetzt werden.

 

Suche nach Alternativen

Nicht selten sind die Behandlungsergebnisse unbefriedigend. Derzeit werden andere Substanzen erforscht. Zum Teil handelt es sich hierbei um Medikamente, die in der Behandlung anderer Erkrankungen etabliert sind. Zu diesen Substanzen zählen GABAerge Substanzen, Botulinumtoxin, Dopaminagonisten, Opiatantagonisten, Nicotin, und Antibiotika.

 

GABA (Gamma-Amino-Buttersäure) ist der am stärksten hemmend wirkende Botenstoff des Gehirns. GABAerge Medikamente wie Diazepam oder Clonazepam fördern dieses System. Diazepam besitzt ein hohes Abhängigkeitsrisiko und kann deshalb nicht empfohlen werden, Clonazepam verbessert verschiedene Symptome des Tourette-Syndroms einschließlich Tics. Häufigste Nebenwirkungen sind Müdigkeit und Schwindel.

 

Botulinumtoxin erwies sich in kleineren Untersuchungen als wirksam in der Behandlung von Tics. Es muss in den jeweiligen Muskel injiziert werden. Deshalb eignet es sich nur zur Behandlung umschriebener Tics, vor allem im Gesichts- und Kopfbereich. Die Wirkung hält etwa ein Vierteljahr an, danach muss die Injektion wiederholt werden.

 

Einige wenige Studien zeigten erstaunlicherweise, dass der Dopaminagonist Pergolid (wird normalerweise in der Parkinsontherapie eingesetzt) ebenfalls effektiv in der Tic-Behandlung ist. Auch wurde über einen positiven Behandlungseffekt durch L-Dopa berichtet. Kleinere Untersuchungen zeigten eine Tic-Verminderung und Reduktion des autoaggressiven Verhaltens bei der Verabreichung des Opiatantagonisten Naloxon. Ferner gibt es Hinweise, dass Nicotin (als Pflaster oder als Kaugummi) zu einer Tic-Reduktion führt. Rauchen führt jedoch zu keiner Tic-Reduktion.

 

In letzter Zeit wird untersucht, ob bei einigen Tourette-Patienten Infektionen mit Bakterien (vor allem Streptokokken) und Viren beziehungsweise daraus resultierende Immunvorgänge krankheitsauslösend oder -unterhaltend sind. Aus dieser Vermutung resultieren Therapieansätze mit Antibiotika und verschiedenen in das Immunsystem eingreifenden Substanzen.

 

Operative Therapien spielen bei der Tourette-Behandlung nur eine ganz kleine Rolle. Sie werden durchgeführt, um schwerste, medikamentös nicht beeinflussbare Tics und andere Symptome der Erkrankung zu vermindern.

 

Nichtmedikamentöse Behandlungen sind zur Therapie der Tics ungeeignet. Tics haben eine organische, nicht psychogene Ursache. Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation sind allenfalls für eine kurz anhaltende Symptomreduktion geeignet.

 

Internetlinks

 


www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/tourette.html – Wissenschaftliche Beschreibung von Tics und dem Tourette-Syndrom

 

 • www.tourette.de – "Tourette-Syndrom Homepage für Deutschland"

Literatur

Brunnhuber S, Frauenknecht S, Lieb K: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer Verlag 2004

Masuhr KF, Neumann M: Neurologie (Duale Reihe). Thieme Verlag Stuttgart 2007.

Poeck K, Hacke W: Neurologie. Für Studium, Klinik und Praxis. Springer Verlag 2006.

 


Dr. med. Ingo Blank, Gärtringen

 

 

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