Klimawende

Ein Gespenst geht um in Europa. Nein, nicht mehr der Kommunismus. Er bleibt tot. Aber auch das neue Gespenst stellt unangenehme Fragen: unangenehm jedenfalls für eine große Zahl von Bankern, Finanzpolitikern, Wirtschaftswissenschaftlern, die im letzten Jahrzehnt mit ihrer Wiederbelebung eines überwunden geglaubten "Laisser-faire-laisser-passer-Liberalismus" die Welt in eine beispiellose Finanzkrise jongliert haben – eine Krise, die vielen viel sauer verdientes Geld gekostet hat und die dabei ist, eine weltweite Rezession zu provozieren. Wozu brauchen wir den Staat, er soll sich raushalten, Deregulierung ist angesagt, Freiheit, Wettbewerb, Entbürokratisierung – das waren die Parolen. Der Chor der Wirtschaftspresse hat sie verstärkt. Wo war der Widerstand? Widerstand hätte eigentlich auch von den Verfechtern des Ordo- oder Neoliberalismus kommen müssen. Sie werden jetzt mit den Anarchokapitalisten in einen Sack gesteckt. Obwohl die Erhardts, Eukens, Röpkes, Müller-Armacks doch immer die ordnende Rolle des Staates betont haben, der Regeln und Rahmen für den Wettbewerb setzen muss, damit er nicht in unüberschaubarer Vermachtung, Oligo- und schließlich Monopolen endet.

Das Klima hat sich gründlich geändert. Die Anarcholiberalisierer von gestern rufen heute auf einmal nach dem Staat. Er soll jetzt retten, was noch zu retten ist.

Was lernen wir aus dem Desaster der Finanzmärkte für das Gesundheitswesen? Auch im Gesundheitswesen sollten wir genau hinsehen, wenn der Ruf nach Liberalisierung, mehr Wettbewerb, Entbürokratisierung erschallt. Welche Absichten, welche Interessen verstecken sich dahinter? Welche Konsequenzen lauern z. B. hinter der Ecke, wenn man die freien Berufe in Europa – wie die EU-Kommission es offensichtlich will – anonymen Kapitalgesellschaften zum Fraß vorwirft? Wenn jedermann Apotheken oder Anwaltskanzleien oder Arztpraxen betreiben darf – wo überall muss man nach "Liberalisierungen" dieser Art nachregulieren, um die schlimmsten Auswüchse abzumildern? Die Gemengelage ist kaum zu durchschauen. In jedem Land der EU sind andere Antworten nötig: ein Grund mehr für die Richter am EuGH, die Organisation des Gesundheitswesens auch zukünftig der ordnenden Hand der Nationalstaaten zu überlassen – so wie es der Vertrag über die Europäische Union (Art. 152, Abs. 5) vorsieht.

Ob auch in der EU-Kommission, die – fremdgetrieben – Apothekenketten so vehement befürwortet, irgendwann die Botschaft der Finanzkrise ankommt?

Klaus G. Brauer

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