Downsizing

Die Lage an den Finanzmärkten hat sich zwischenzeitlich dramatisch zugespitzt. Die Regierungen müssen die Sparer beruhigen und weit reichende Garantien abgeben – Garantien, die sie angesichts der Schuldenbeträge auf der einen und der als "Verteilungsmasse" bedrohten Einlagen und Geldvermögen der Bevölkerung auf der anderen Seite gar nicht einlösen könnten, sollte es tatsächlich zum Schlimmsten kommen. Dann wäre in der Tat nur noch ein drastischer Kapitalschnitt möglich.

Lehren aus der Finanzkrise – Teil 2

Doch soweit wird es wohl erst einmal nicht kommen – wahrscheinlich zumindest. Dazu währt die Krise schon zu lange. Mit einer Politik der weiteren Verschuldung und einer exorbitanten Ausweitung der Geldmenge wird der Motor am Laufen gehalten, koste es, was es wolle. Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach gelingen. Doch wie konnte dieser Motor so ins Stottern kommen, wo er noch bis vor kurzem mit Höchstdrehzahl lief? Und welche Parallelen finden wir zu unserer Branche?

Der "Wirtschaftsmotor" ist über die Jahre zu einer sprit- (sprich geld-) fressenden Monstermaschine hochgerüstet worden. Und nicht nur das: Vielmehr handelt es sich um ein hochkomplexes Gestrüpp von Leitungen, Steuerungen und Schläuchen, welches die Sicht auf die wirklich arbeitenden Kolben schon lange völlig verstellt hat. Kein Mechaniker traut sich an das Innere dieses Ungetüms mehr heran. So wird an der Peripherie ein wenig hier, ein wenig da herumgebastelt. Meist wird nur noch etwas drangesetzt und der Kasten nochmals komplizierter.

Zu abgehoben? Dann betrachten wir einmal einige willkürlich herausgegriffene Praxisbeispiele, was hinter dem Begriff "Wachstum" steht und wo das viele, zudem oft noch kreditfinanzierte Investitionskapital so hinfließt.

Ein Auto sollte man auch anno 2008 so bauen können, dass man schlicht Anfang und Ende überschauen kann. Aber, aber, so leicht wollen wir es doch nicht machen! Ein paar Argumente aus der Designabteilung, gute Gründe wie Fußgängerschutz oder Aerodynamik, und schon verkauft man Ihnen statt eines übersichtlichen Autos lieber ein komplexes Einparksystem für viele hundert Euro extra.

Das Thema Sicherheit ist eine besondere Fundgrube für einen Aufwandsgigantismus und aufgeblähte "Luftinvestitionen", denen kaum ein adäquater Nutzen gegenübersteht. Die vielen Beispiele aus dem täglichen Leben könnten ganze Bücher füllen. Angst um das eigene Leben oder, noch wirksamer, die "nationale Sicherheit" genügen, um die Spendierlaune ins Groteske zu steigern. Richtig brisant wird es, wenn diese unvorstellbar hohen Investitionen, Rüstungsausgaben und Kriegskosten auf Pump finanziert werden (wie in den USA). Apropos USA: Hier wird inzwischen mehr für Anwälte und Schadensersatzklagen ausgegeben als für die gesamte Forschung und Entwicklung. Das Ganze bei einer Gesamtverschuldung jenseits bereits vorsichtig geschätzter 40 Billionen (!) Dollar. Man merkt es – nicht nur am Fernsehprogramm. Auch hierzulande hat sich die Zahl der Anwälte seit Anfang der 1990er Jahre mehr als verdoppelt – sind die Menschen wirklich doppelt so streitlustig geworden?

Ich verzichte hier darauf, über den Sinn oder Unsinn von 2216 Handymodellen oder Ibuprofen in Hunderten an Aufmachungen von 59 verschiedenen Anbietern zu philosophieren. Doch hinter allen stehen eigene Entwicklungsabteilungen, Marketing- und Vertriebsorganisationen, Logistikketten.

Die elektronische Gesundheitskarte passt hier ebenfalls bestens her. Ein Musterbeispiel von Komplexität (eines der weltweit größten IT-Projekte überhaupt), Pleiten, Pech und Pannen. Abgesehen von den ganzen technischen Problemen, die lösbar sein mögen, werden damit ungeheure, neue Abhängigkeiten geschaffen, der Mensch weiter entmündigt. Das elektronische Rezept ist gnadenlos, zumal wenn eine elektronische Kontrollbürokratie dahinter sitzt. Nichts mehr mit "eben mal was auf dem kleinen Dienstweg lösen". Ohne das Wohlwollen der entsprechenden IT-Anbieter geht auch nichts mehr. Und dass ohne Strom und Rechner kein Rezept mehr ordnungsgemäß zu beliefern ist, an dieser Schwelle bewegen wir uns heute schon. Auf dem Papier mag die eGK ja den einen oder anderen Vorteil haben – aber zu welchem Preis?

Klar ist dagegen: Es werden neue Fässer aufgemacht, neuer Bedarf entsteht an Dienstleistungen, von denen Sie heute noch gar nicht träumen. Die IT-Infrastrukturanbieter reiben sich die Hände – eine lange "Rente" winkt! Man kann so etwas auch Wachstum und Konjunktur nennen.

Ein Komplexitäts-Chaos

Das Gesundheitswesen ist von dieser Entkoppelung von Aufwand und Nutzen somit ebenfalls nicht frei. Es ließen sich genügend Beispiele anfügen. Ob zig Tausende an Stellen, die nur der überbordenden Verwaltung geschuldet sind, Präparate, deren Preise sich zwar vervielfachen, aber nur wenige Prozentpunkte mehr Wirkung versprechen, viele Behandlungen, die in Form einer Dauertherapie zwar einer Rente für die Anbieter gleichkommen, aber keine kausale Lösung des Leidens darstellen, der Evergreen "Demographie" als Wachstumsillusion – was sind das alles anderes als spekulative Übertreibungen?

In der Apotheke wird ebenfalls immer weiter draufgesattelt, und politisch maßgebliche Kolleginnen und Kollegen stricken leider an diesem Prozess munter mit. Der Preis könnte schon bald zu hoch werden, die Lasten von vielen Apotheken nicht mehr geschultert werden können. Es müssen daher alle Verantwortlichen dringend gewarnt werden, diese Komplexitäts- und Regulierungsfalle immer weiter zuzuziehen. Gerade Kleinbetriebe brauchen Luft zum Atmen, Freiheit und kreativen Entfaltungsspielraum. Großkonzerne kommen dagegen mit einem teuren Regulierungs- und Bürokratiedickicht viel besser klar. Kraft ihrer Finanzmittel und Ressourcen sind solche überbordenden Systeme sogar ein handfester Wettbewerbsvorteil für sie. Ein Blick in die Pharmaindustrie zeigt das eindrucksvoll.

Das Perfide an diesem System ist: Ein jeder hat so gute Argumente für seine Position! Im Einzelgespräch möchte man vielem zustimmen. In der Summe wird es zum Komplexitäts-Chaos.

Gleichzeitig kommt der größte Teil unserer Kleider, Schuhe, Unterhaltungselektronik, viele Nahrungsmittel, selbst große Anteile der generischen Arzneiwirkstoffe aus ärmeren Ländern. Wir können im Wolkenkuckucksheim leben, weil es noch viele Menschen auf der Welt gibt, welche die ungeliebte "Schmutzarbeit" für wenig Geld verrichten. Keiner hat noch die Folgen auf der Rechnung, falls sie das eines Tages nicht mehr so billig tun ... In einem Satz: Die Wirtschaft der Industrieländer hat die Bodenhaftung verloren, ist zu großen Teilen "entkernt", drehte sich bislang aber munter im Höchsttempo, notfalls auf Kredit ...

Umgekehrt gelingt es der kleinen Hufeisen-Fledermaus, einer seltenen Molchart oder dem kleinschnäbligen Graspieper bei uns ohne Weiteres, eine 100 Mio. Euro-Investition nachhaltig zu lähmen – Welt verrückt.

Was ist eine passende Antwort?

Nun, die Technik macht es vor. Galt bis vor kurzem noch "immer größer, immer schneller, immer schwerer" als Nonplusultra, beginnt die Autoindustrie umzudenken. "Downsizing" ist das beherrschende Thema.

Ähnliches steht der gesamten Gesellschaft bevor, will sie nicht die Probleme nur immer weiter verschieben.

Das fängt bei den Ansprüchen an. Die Wohlstandsgesellschaft hat sich vielfach schon ad absurdum geführt. 20% der Weltbevölkerung geben mehr für die Folgen ihrer Überernährung aus, als die restlichen 80% der Menschen überhaupt zum Leben haben. Bedeutende Teile dieser 80% sind hingegen immer noch darauf erpicht, es uns irgendwann gleichzutun.

Es geht weiter mit einer Orientierung am Sinnvollen, am Nötigen, am Beständigen. Das "Zinseszins-Märchen", hohe Renditen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag für alle (Stichwort Altersversorgung), geht nicht auf. So paradox es klingt: Global besteht unser Problem in viel zu viel, nicht zu wenig Geld (die Verteilungsfrage ist ein ganz anderes Thema)! Und dieses viele Geld wird verrückterweise noch weiter aufgebläht – mit exorbitanten Krediten, Finanzkunstprodukten und Termingeschäften in einer Höhe, die ein Vielfaches der Sachwerte und des Humankapitals ausmachen.

Und wir werden um sehr unangenehme Themen nicht herumkommen: Wie weit können wir den Sicherheitswahn noch treiben? Können wir die bevorstehenden, exorbitanten Kosten z. B. für im globalen Maßstab weitgehend wirkungslose "Klimaschutzpakete" wirklich noch schultern, oder muss man da nicht noch mal genauer rechnen? Können wir die Standards immer höher schrauben? Wie schätzen wir den Wert eines Lebens ein? Vergessen wir nicht: Dieser Wert sinkt fast ins Bodenlose, sollte es tatsächlich zum Crash und zur Herrschaft des Faustrechtes kommen. Unselige Zeiten der Vergangenheit lassen grüßen. Vielleicht machen wir deshalb lieber jetzt vernünftige Abstriche.

Neubewertung des Handelns

Der sinnvollste Weg bestünde in einer Neubewertung unseres Handelns, einer "Neuskalierung" von Kapazitäten, Angeboten und Ansprüchen, auf allen Ebenen und in allen Branchen. Das kann sehr wohl zu Wohlstandsverlust führen. Mit immer neuen Regulierungen, wie jetzt wieder gefordert, zementieren wir hingegen nur den instabilen Status quo.

Aber was ist Wohlstand? Der materielle Reichtum allein macht die Menschen nicht glücklicher. Das zeigt ein Blick in die hiesigen Gesichter im Vergleich zu viel ärmeren Ländern. In einer solchen Neubewertung liegen große Chancen, nämlich in einer Renaissance nicht-materieller Werte, wie Vertrauen und Liberalität nicht im Sinne von Gier, sondern bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung. Da dies aber recht märchenhaft klingt, wird es wohl nicht so kommen. Sehen wir also der nächsten Blase gespannt entgegen. Der kluge Mensch weiß damit, was er langfristig vom Geldwert zu halten hat ….

Anschrift des Verfassers:

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, Philosophenweg 81, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de
Dreiteilige Serie
Teil 1: Schreibt die Hälfte aller Apotheken schon rote Zahlen? (AZ Nr. 42 vom 13. Oktober 2008)
Teil 3: Die Lehren aus der Krise: Die Politik als Retter? (in Kürze)

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