Erdbeben

Kein Zweifel: Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist in der Lage, ein apothekenpolitisches Erdbeben auf der nach oben offenen Richter-Skala auszulösen. Mit ihm können flächendeckend in Drogeriemärkten, aber auch anderswo (z. B. in Postämtern oder Tankstellen) Arzneimittelabgabestellen eingerichtet werden, die mit im Hintergrund agierenden (ausländischen) Versandapotheken zusammenarbeiten. Selbst Rezeptsammel- und Arzneimittelabgabestellen in Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen o. ä. könnten bis auf Weiteres zulässig sein, wenn man – wie es das Bundesverwaltungsgericht zu tun scheint – die bestehenden Regelungen zur Errichtung und Unterhaltung von Rezeptsammelstellen für obsolet hält. Es wird immer klarer: Mit der Einführung des Versandhandels mit Arzneimitteln hat der Gesetzgeber eine Büchse der Pandora geöffnet. Sie zeigt rechtliche Folgen, die – glaubt man der Politik – so nicht gewollt waren. Dabei geht es schon lange nicht mehr um den Versandhandel in engerem Sinne, der nach wie vor nur einen bescheidenen Anteil am Arzneimittelumsatz aufweist. Nein, seit Donnerstag vergangener Woche stehen die Grundfesten der Arzneimittelversorgung in Deutschland zur Disposition. Wie immer man zur sprachlichen Rabulistik unserer Verwaltungsrichter steht ("dynamischer Versandhandelsbegriff"): Die Politik muss zur Kenntnis nehmen, dass sie es selbst war, die mit ihren gesetzlichen Regelungen zum Versandhandel die begriffliche Steilvorlage und den rechtlichen Vergleichsmaßstab für das höchstrichterliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts geliefert hat. Sie muss jetzt davon überzeugt werden, schnell zu handeln, um einen hoch gefährlichen Flächenbrand bei der Arzneimitteldistribution zu verhindern. Die ABDA scheint dabei immer noch ausschließlich auf die "große Lösung" der Initiative des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministers Karl-Josef Laumann zum Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu setzen. Aber: Ist es überhaupt realistisch, dass der CDU-Politiker hierfür eine Mehrheit zustande bringt? Daran kann gezweifelt werden. Selbst mehrere seiner Parteikolleginnen und Parteikollegen – von der baden-württembergischen Sozialministerin bis zu den jungen Wilden der Union – haben sich schon gegen eine "Rolle rückwärts" beim Versandhandel ausgesprochen. Von der FDP (auch in Nordrhein-Westfalen) ganz zu schweigen. Im Übrigen stellte die Umsetzung der Laumann-Initiative auch nur – und allenfalls – eine halbherzige Lösung des Problems dar: Abgabestellen à la dm und Schlecker (oder Shell und Aral?) für apotheken-, aber nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel wären nämlich weiterhin möglich. Nein, nunmehr müssen schnell realistisch umsetzbare Maßnahmen vorgeschlagen und ergriffen werden: Naheliegend ist in diesem Zusammenhang, dass der Gesetzgeber den Begriff des Versandhandels mit Arzneimitteln im Arzneimittelgesetz so definiert, dass Versandhandelsformen ausgeschlossen sind, die auf dem Geschäftsprinzip der Abholung bestellter Arzneimittel bei apothekenfremden Gewerbebetrieben beruhen. Selbst das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner mündlichen Urteilsbegründung darauf hingewiesen, dass es arzneimittelpolitisch verheerend wäre, wenn Drogeriemärkte etc. beim Verbraucher den Eindruck von (Ersatz-)Apotheken erweckten. Der Banalisierung von Arzneimitteln und Erosion des Verbraucherschutzes bei der Abgabe von Arzneimitteln kann nur entgegengewirkt werden, wenn der weiteren institutionellen Aufspaltung von Rezeptsammlung, Arzneimittelbestellung, Arzneimittelberatung und Arzneimittelabgabe entgegengewirkt wird. Die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung gehört in eine Hand – in die Hand der Apotheke. Frau Gesundheitsministerin, übernehmen Sie!

Christian Rotta

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