Arzneimittel und Therapie

Multiple Sklerose

Erstes orales MS-Präparat in der Entwicklung

Cladribin stammt ursprünglich aus der onkologischen Forschung und Entwicklung und wird seit 1997 zur Behandlung der Haarzell-Leukämie eingesetzt. Die relativ selektive Depletion von B- und T-Lymphozyten lässt die Substanz auch für die Therapie der multiplen Sklerose sinnvoll erscheinen. Insbesondere die Möglichkeit einer oralen Applikation erhöht die Attraktivität des neuen Behandlungsansatzes.

Bei Cladribin handelt es sich um ein Purinanalogon. Gegenüber dem körpereigenen Nukleosid Deoxyadenosin ist an einem Kohlenstoffring ein Wasserstoff- gegen ein Chloratom ausgetauscht. Als Prodrug muss Cladribin erst durch Phosphorylierung in seine aktive Form überführt werden. Dies geschieht bevorzugt in Lymphozyten und Monozyten, da sie eine hohe Phosphorylierungsrate aufweisen. Zugleich ist in diesen Immunzellen der Abbau von Phosphorverbindungen vermindert. Beides sichert die relative Selektivität des Wirkstoffes. Die aktiven Cladribin-Phosphorverbindungen reichern sich in den Immunzellen an, beeinflussen deren DNA-Synthese und behindern letztlich ihre Zellteilung. Da die aktivierte Substanz zudem in ruhenden Lymphozyten DNA-Reparaturmechanismen unterbindet, beschleunigt sie darüber hinaus auch die Apoptoserate ausgereifter Lymphozyten. Auf diese Weise werden nicht nur neue Lymphozyten an ihrer Entstehung behindert, sondern auch die vorhandenen Populationen dezimiert. Dabei scheint der Effekt auf CD4-positive T-Zellen wesentlich ausgeprägter zu sein als auf CD8-positive T-Zellen. Da einem großen CD4/CD8-Verhältnis eine hohe MS-Krankheitsaktivität nachgesagt wird, besteht in einer Minderung dieses Verhältnisses ein sinnvoller Therapieansatz für die Behandlung der multiplen Sklerose. Denn CD4-positive T-Zellen spielen durch Ausschüttung von proinflammatorischen Zytokinen eine Schlüsselrolle in der Aktivierung zerstörerischer Immunprozesse bei der multiplen Sklerose.

In Phase-II-Studien und experimentellen Untersuchungen stellte sich heraus, dass mit Cladribin die Anzahl CD4-positiver T-Zellen viermal stärker abgesenkt werden kann als die Masse CD8-positiver T-Zellen. Hierfür ist keine Dauerbehandlung nötig, sondern nur eine initiale Gabe des Präparates. In niedriger Dosierung wird eine generalisierte Immunsuppression vermieden. Obwohl die antiinflammatorischen Effekte von Cladribin über Monate erhalten bleiben, können sich Lymphozyten und andere Blutzellen relativ rasch wieder erholen. Rote Blutzellen und Thrombozyten werden unter niedrigen kumulativen Dosen nicht wesentlich tangiert. Opportunistische Infektionen wurden, abgesehen von wenigen Herpes Zoster-Fällen unter höherer akkumulativer Cladribin-Dosierung, nicht beobachtet.

In Dosisfindungs-Studien wurden im Rahmen des Phase-II-Studienprogramms Cladribin-Dosierungen von 0,7 mg/kg Körpergewicht, 2,1 mg/kg Körpergewicht und 2,8 mg/kg Körpergewicht auf ihre klinische Wirksamkeit hin getestet. Nach zwölf Monaten konnte unter der niedrigsten Dosierung eine Reduktion der Gadolinium anreichernden Läsionen im MRT um bis zu 92% beobachtet werden. Dieses Resultat erschien umso bedeutsamer, als es sich hier um ansonsten schwer zu behandelnde Patienten mit sekundär progredienter MS handelte. Patienten mit schubförmigem MS-Verlauf profitierten mit einem von unter 20 auf knapp 40% gestiegenem Anteil an Schubfreiheit.

Cladribin wird derzeit in einem umfassenden Phase-III-Studienprogramm geprüft, um als erstes orales MS-Präparat die Zulassung zu erlangen. Die größte Studie stellt mit 1348 Patienten die Clarity-Studie dar, in der die Wirksamkeit und Sicherheit der Substanz bei Patienten mit schubförmig verlaufender multipler Sklerose gegenüber Placebo getestet wird. Clarity steht für Cladribine tablets in treating MS orally. In der zweiarmigen Verumgruppe soll insbesondere auch die Frage geklärt werden, ob eine viermalige Cladribingabe zu Anfang des ersten Behandlungsjahres gegenüber einer zweimaligen Gabe einen therapeutischen Zusatznutzen bringt. Die letzten Probanden wurden im Januar 2007 eingeschlossen. Ergebnisse der Studie sind nicht vor Anfang 2009 zu erwarten.

In der Onward-Studie (Oral cladribine added on to Rebif® New Formulation in patients With Active Relapsing Disease) soll darüber hinaus geklärt werden, inwieweit die neue orale Therapieoption eine sinnvolle Ergänzung der Standardtherapie mit Interferon beta 1a darstellen könnte.

Quelle

Prof. Dr. Patrick Vermersch, Lille (Frankreich); Prof. Dr. Thomas Leist, Philadelphia (USA); Prof. Dr. Peter Rieckmann, Vancouver (Kanada): "Advances in oral MS therapies", Prag, 12. Oktober 2007, veranstaltet von der Merck KGaA, Darmstadt.

Martin Wiehl, freier Medizinjournalist
Cladribin, ein als Antimetabolit wirksames Purinnukleosidanalogon, steht in parenteraler Form bereits für die Behandlung von Haarzell-Leukämie zur Verfügung (Leustatin® , Litak®). Cladribin unterscheidet sich von dem natürlich vorkommenden Nukleosid, dem 2-Desoxyadenosin, dadurch, dass das Wasserstoffatom der Position 2 durch ein Chloratom substituiert wurde, wodurch das Molekül einer Desaminierung durch die Adenosindesaminase nicht mehr zugänglich ist.

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