Feuilleton

Arzneipflanze des Jahres 2008

Die Rosskastanie

Die Rosskastanie ist eine unserer populärsten Arzneipflanzen. Wenn ihre Früchte im Herbst herunterfallen, aufplatzen und die ein bis zwei glänzend braunen Samen hervorscheinen lassen, kann kaum ein Kind seine Sammelleidenschaft zügeln. Der für den Menschen ungenießbare Samen dient zahlreichen Tieren zur Nahrung und ist auch der offizinelle Teil der Rosskastanie.

Die Weiße oder Gewöhnliche Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) gilt hierzulande – im Gegensatz zu den asiatischen und nordamerikanischen Rosskastanien – nicht als Exot.

Der uns so vertraute Baum besitzt eine bewegte Vergangenheit. Ursprünglich über ganz Europa verbreitet, überlebte er die Eiszeiten nur in den Mittelgebirgen Griechenlands, Mazedoniens und Albaniens. Erst vor rund 450 Jahren kehrte er von dort nach Mittel- und Westeuropa zurück. Die Verbreitung erfolgte u. a. durch die Türken, die auf ihren Feldzügen Rosskastaniensamen als Pferdefutter und -medizin mit sich führten.

Später wurden Rosskastanien bevorzugt auf Bierkellern gepflanzt, wo sie im Sommer durch ihren Schatten für zusätzliche Kühlung bei der Reifung und Lagerung des Bieres sorgten. Weil es sich um einen Flachwurzler handelt, schädigten sie die Kellergewölbe nicht. Auch als Alleebaum erfreute sich die Rosskastanie großer Beliebtheit.

Seit 450 Jahren bekannt

Bemerkenswert ist die Rolle der Rosskastanie in der Medizingeschichte. Nachdem sie in den Kräuterbüchern aus der Mitte des 16. Jahrhunderts (Lonitzer, Matthioli) Erwähnung fand, wurde sie schnell zu einem festen Bestandteil der Tierheilkunde und der Humanmedizin. Dabei wurden und werden in der volkstümlichen Heilkunde mehrere Organe des Baumes eingesetzt: Rinde, Blätter, Blüten, Samen oder nur die braune Schale der Samen.

Aescin – ein Mittel gegen schwere Beine

Derzeit ist nur der Samen der Rosskastanie im Arzneibuch monographiert. Die wichtigste Wirkstoffgruppe in seinem Extrakt ist das Aescin (β-Aescin), ein Gemisch von Saponinen (Triterpenglykosiden). Aescin dient zur Standardisierung des Extraktes, oder es wird daraus isoliert und dient als Zutat zu anderen Zubereitungen. Rosskastaniensamenextrakt hilft bei Beschwerden der chronischen Veneninsuffizienz, also bei schweren Beinen, Schmerzen, Schwellungen, Juckreiz, nächtlichen Wadenkrämpfen und Spannungsgefühl. Dies ist insofern bedeutsam, als etwa sechs Millionen Bundesbürger unter der chronischen Veneninsuffizienz leiden.

Aescin ist in seiner Wirkung gut untersucht. Es dichtet die geschädigten Gefäßwände ab, sodass weniger Flüssigkeit aus den Venen in das Gewebe übertritt; die Bildung von Ödemen wird vermindert, und bestehende Ödeme in den Beinen bilden sich zurück. Im Zusammenspiel mit anderen Inhaltsstoffen wie Flavonoiden, Cumarinen (Aesculin) und Gerbstoffen wirkt Aescin venentonisierend und entzündungshemmend.

Blätter für Hustentee

Die volksmedizinische Verwendung weiterer Pflanzenteile der Rosskastanie ist aufgrund der Inhaltsstoffe nachvollziehbar. Es fehlen jedoch die naturwissenschaftlichen Wirkungsnachweise. Die Rinde ist reich an Gerbstoffen, die den Durchfall und hämorrhoidale Beschwerden wie Nässen und Juckreiz lindern können, und an Aesculin. Dieses wird isoliert und in Sonnenschutzcremes eingearbeitet. Die Blätter haben ein ähnliches Inhaltsstoffmuster wie die Rinde und wurden u. a. als Hustentee zubereitet. Heute finden sie sich, ebenso wie die Blüten, manchmal in Tees oder in Extraktpräparaten gegen Venenleiden. Die Blüten enthalten vor allem Aesculin und Flavonoide; sie wurden, teilweise zusammen mit der Rinde, bei Hämorrhoiden eingesetzt.

Immer noch bekannt ist die Verwendung der Rosskastanie als Amulett gegen "Gicht", wobei sie entweder in der Hosentasche getragen oder unter die Bettmatratze gelegt wird.

Mit der Esskastanie nicht verwandt

Die Rosskastanie ist mit der Esskastanie (Castanea sativa), die zu den Buchengewächsen gehört, nicht verwandt, sondern steht den Ahorngewächsen nahe. Sie wird höchstens 300 Jahre alt, und ihr Holz ist wenig dauerhaft.

Den botanischen Namen "Aesculus" übernahm Carl von Linné von antiken Schriftstellern wie Horaz und Plinius, die mit ihm allerdings eine Eichenart mit essbaren Früchten bezeichnet hatten. Der Artname "hippocastanum" entspricht der deutschen Bezeichnung "Rosskastanie" und beruht, was den hinteren Wortbestandteil betrifft, auf der Ähnlichkeit der Früchte mit denen der Esskastanie. Der vordere Wortbestandteil "hippo" bzw. "Ross" weist darauf hin, dass der – im Gegensatz zur Esskastanie – für den Menschen ungenießbare Samen als Rossarznei (gegen Dämpfigkeit und Husten) und Pferdefutter verwendet wurde.

Ihre Funktion als Schattenspender (durchaus auch ein medizinischer Aspekt) erfüllt die Rosskastanie meistens nur noch in eingeschränktem Maße. Der Grund ist die Rosskastanien-Miniermotte (Cameraria ohridella), die vermutlich aus Nordamerika stammt, 1984 in Mazedonien entdeckt wurde und sich von dort in Europa, seit 1990 auch in Deutschland ausgebreitet hat. Ihre Larven ernähren sich ausschließlich von Blättern der Rosskastanie und lichten dementsprechend die Laubkronen der Bäume.

Johannes G. Mayer, Ralf Windhaber, Franz-Christian Czygan
Jahres-Arzneipflanzen
Der Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg wählt seit 1999 die Arzneipflanze des Jahres. Es waren:
1999 der Buchweizen; 2001 die Arnika; 2002 der Stechende Mäusedorn; 2003 die Artischocke; 2004 die Pfefferminze; 2005 der Arzneikürbis; 2006 der Thymian; 2007 der Hopfen; 2008 die Rosskastanie.
Schwarzschattende Kastanie
Schwarzschattende Kastanie
Mein windgeregtes Sommerzelt,
Du senkst zur Flut dein weit Geäst
Dein Laub es durstet und es trinkt,
Schwarzschattende Kastanie!
Im Porte badet junge Brut
Mit Hader oder Lustgeschrei
Und Kinder schwimmen leuchtend weiß
Im Gitter deines Blätterwerks,
Schwarzschattende Kastanie!
Und dämmern See und Ufer ein
Und rauscht vorbei das Abendboot,
So zuckt aus roter Schiffslatern
Ein Blitz und wandert auf dem Schwung
Der Flut, gebrochnen Lettern gleich,
Bis unter deinem Laub erlischt
Die rätselhafte Flammenschrift,
Schwarzschattende Kastanie!
Conrad Ferdinand Meyer
Unverwechselbare Rosskastanie: gefingertes Blatt, stachelige Frucht und "kastanienbrauner" Samen.
Foto: Klosterfrau
Blätter und Blüten zieren die Rosskastanie gleichermaßen. Sie zählt deshalb zu unseren beliebtesten Parkbäumen.
Foto: Maja Dumat/Pixelio.de
Grundstruktur des β-Aescins.

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