Kongresse

Kongress für Versorgungsforschung

Prävention und Versorgungsforschung im Überblick

Vom 24. bis 27. Oktober fand im Deutschen Hygienemuseum in Dresden der 6. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung in Verbindung mit dem 2. Nationalen Präventionskongress statt. Die Tagung wurde vom Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhalt in Kooperation mit dem Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung und dem Deutschen Verband für Gesundheitswissenschaften und Public Health veranstaltet.

Um die Arzneimitteltherapie älterer Patienten ging es im Workshop "Wer soll das alles schlucken? Herausforderungen an eine rationale Arzneimitteltherapie im Alter". Nach Einschätzung von Dr. Guido Schmiemann, Hannover, beruht die Polypharmazie bei hausärztlichen Verordnungen vielfach auf irrationalen Vorgehensweisen. Größere gesundheitliche Probleme der Patienten bieten Gelegenheiten, solche gewohnten Medikationen zu ändern.

Dr. Katrin Janhsen, Bremen, stellte Listen mit Kriterien für die Ermittlung unangemessener Arzneitherapien vor. Angeregt durch die 1991 für die USA aufgestellte Beers-Liste, wurden ähnliche Listen für andere Länder entwickelt, die die wissenschaftliche Arbeit unterstützen und die Transparenz verbessern könnten, aber keine Patentlösungen für den Alltag bieten.

In der Diskussion wurde angemerkt, dass die Einhaltung von Therapieleitlinien die Polypharmazie fördere und dass manchmal bereits die leitliniengerechte Behandlung nur einer Krankheit zur Verordnung von fünf oder mehr Arzneimitteln führe. Ärzte, die die Medikation auf eine praktikable Zahl von Arzneimitteln reduzieren, laufen Gefahr, wegen Unterversorgung kritisiert zu werden. Dies dürfe nicht mit Sparsamkeit verwechselt werden. Dr. Christoph Friedrich, Bochum, erklärte, dass die meisten Leitlinien und Nutzenbewertungen auf Daten über junge Patienten beruhen, aber auf ältere Patienten angewendet werden. Er empfahl, vorzugsweise die dominierenden Gesundheitsstörungen konsequent zu behandeln anstatt alle Probleme halbherzig anzugehen.

Diskrepanzen bei der Nutzenbewertung

In etlichen Vorträgen und Diskussionen wurden die anhaltenden Meinungsunterschiede über die Rolle randomisierter kontrollierter klinischer Studien als Grundlage für Nutzenbewertungen von Therapieverfahren oder Arzneimitteln deutlich. Aus Sicht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und der meisten Betrachter auf Seiten der gesetzlichen Krankenversicherungen sind solche Studien aufgrund ihrer großen Aussagekraft praktisch uneingeschränkt zu fordern. Doch ist der Gegenstand der Versorgungsforschung gerade die Versorgung unter realen Bedingungen, während die geforderten Studien ihre Aussagekraft aus der Gestaltung idealisierter Rahmenbedingungen und der Beschränkung auf ausgewählte Patienten gewinnen.

Mehrere Referenten von Krankenkassen forderten auf der Tagung, sich nicht an der besten verfügbaren, sondern an der besten erreichbaren Evidenz zu orientieren, womit noch weniger Studien berücksichtigt werden könnten. Doch erinnerte Prof. Dr. Franz Porzsolt, Ulm, an die Erkenntnis, dass die Abwesenheit von Evidenz nicht die Evidenz der Abwesenheit bedeutet.

Prof. Dr. Matthias Schrappe, Frankfurt, verwies auf das Gutachten des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen von 2002, wonach der Mangel an Versorgungsforschung wesentlich zur Überbewertung der Evidenzgrade der evidenzbasierten Medizin beitrage. Gemäß dem Gutachten von 2007 sei es eine wesentliche Aufgabe der Versorgungsforschung, angemessene und wirksame Behandlungsverfahren zu identifizieren, um zu einer vorteilhaften Ressourcenallokation beizutragen.

Dr. Ulf Maywald, AOK Sachsen, konstatierte einen Wandel in der Rolle des IQWiG. Vor der (im Mai 2008 zu erwartenden) Veröffentlichung des Methodenpapiers für die künftigen Kosten-Nutzen-Bewertungen veranstaltet das Institut Workshops, in denen mit den Betroffenen über die Ziele der Bewertungen diskutiert wird. Für den Umgang mit pharmakoökonomischen Modellen sei eine gemeinsame Evaluationskultur nötig. Von den neuen Kosten-Nutzen-Bewertungen seien interessante Auswirkungen zu erwarten, weil sie die patentgeschützten Arzneimittel betreffen. Dagegen haben die jüngsten Regelungen im Generikabereich "viel verbrannte Erde hinterlassen" und wenig bewirkt.

Nach Einschätzung von Prof. Dr. Franz Porzsolt, Ulm, muss der Wert von Gesundheitsleistungen bestimmt werden, um über die Verteilung knapper Mittel der Solidargemeinschaft entscheiden zu können. Dafür werden dringend mehr Daten aus der Versorgungsforschung benötigt. Er beklagte, dass die Anreize für die Handelnden im Gesundheitswesen überwiegend auf das Sparen ausgerichtet sind, während keine Anreize für das Erfüllen der gesundheitlichen Ziele der Patienten bestehen.

Porzsolt machte die Vielfalt der Ansätze zur Nutzenbewertung und die daraus resultierenden Probleme deutlich. So sind krankheitsspezifische Lebensqualitätsinstrumente nötig, um Details der Lebensqualität zu erfassen, für Allokationsentscheidungen werden aber allgemein anwendbare Indexinstrumente benötigt. Pharmakoökonomische Standardmethoden wie das Standardspiel und der Time-trade-off sind für Gesunde angemessen, für die Bewertung von Behandlungen nach seiner Einschätzung aber ungeeignet. Aufgrund psychologischer Erfahrungen gilt es bei allen Bewertungen auch die "gefühlte Sicherheit" zu betrachten, womit er die Frage aufwarf, inwieweit die Gesellschaft dafür zahlen soll. Für die Prävention mahnte Porzsolt an, das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens bei zusätzlichen Maßnahmen für ein gemeinsames Ziel zu beachten. Die erste Maßnahme habe stets den größten Grenznutzen.

Umfassende oder begrenzte Nutzenerfassung

Prof. Dr. Eberhard Wille, Mannheim, Vorsitzender des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen, betonte die herausragende Stellung des subjektiven Bedarfs für ökonomische Betrachtungen. In der Ökonomie soll stets der Betroffene eine Situation bewerten. Für Ökonomen ist es daher ein problematischer Paternalismus, wenn man einen objektiven Bedarf an Gesundheitsleistungen festlegen will; in Hinblick auf die gemeinschaftliche Finanzierung der Leistungen ist dies aber zu rechtfertigen. Außerdem gehen über die Gesundheitszufriedenheit auch subjektive Aspekte in die Betrachtung ein, was aber problematisch ist, weil die Zufriedenheit auch durch das Anspruchsverhalten beeinflusst wird. Wille forderte, bei der Nutzenbewertung keine Aspekte wegzulassen. Intangible, also nicht messbare (quantitativ erfassbare) Nutzenaspekte seien zumindest zu benennen. Außerdem sei die angemessene Reichweite der einzubeziehenden Nutzen- und Kostenaspekte zu klären.

Wille schlug vor, das IQWiG solle möglichst alle Aspekte erfassen, während der Gemeinsame Bundesausschuss die Perspektive einengen könne. Es sollte nicht nur die Krankenversicherung, sondern möglichst die ganze Sozialversicherung einbezogen werden. Letztlich könne aber jede Nutzenbewertung immer nur eine Informationsgrundlage für eine Entscheidung sein, die noch weitere Aspekte berücksichtigen müsse. Eine Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit könne nicht allein anhand eines Schwellenwertes für einen Geldbetrag pro QALY erfolgen.

Im Anschluss an die Ausführungen Willes stellten Prof. Dr. Jürgen Windeler, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, Essen, und Hardy Müller, Techniker Krankenkasse, Hamburg, die Nutzenbewertung aus sozialrechtlicher Sicht beziehungsweise aus der Perspektive der GKV dar. Dabei propagierten sie eine engere Sichtweise des Nutzens. Windeler warnte davor, zu viele Aspekte zu berücksichtigen, für die es keine hinreichende Evidenz gibt. Er sprach sich für prospektive kontrollierte randomisierte Interventionsstudien aus; er sieht die interne Evidenz stets als Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Studie und nicht als Gegenpol zur externen Evidenz.

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Auffassungen folgerte Prof. Dr. Gerd Glaeske, Bremen, die Versorgungsforschung und die evidenzbasierte Medizin sollten ihre Methoden zusammenfügen. Dabei stünden sie allerdings unter Zeitdruck, denn letztlich solle die Versorgungsqualität verbessert werden.

Mehr Prävention gefordert

Als Ergebnis der Tagung machten die Veranstalter gegenüber der Presse deutlich, dass 95 Prozent der Ausgaben für Gesundheit auf die Versorgung von Kranken entfallen, deren Krankheiten teilweise vermeidbar sind. Dennoch seien Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung völlig nachrangige Aufgaben der Gesundheitspolitik. Der steigende Aufwand und die zunehmende Professionalität der Prävention der gesetzlichen Kranken- und Unfallversicherung und das geplante Präventionsgesetz sind begrüßenswert, es bestehe aber weiterhin großer Handlungsbedarf. Es werden Standards für die Präventionsarbeit sowie mehr und besser ausgebildete Experten benötigt.

tmb
Resümee
Den über 700 Teilnehmern wurden sieben Plenarsitzungen, 75 Workshops, etwa 150 Poster und zahlreiche freie Vorträge geboten. Mit der Vielzahl der Programmpunkte ging eine große Heterogenität der Tagungsinhalte einher. So wurden Präventionsmaßnahmen und Projekte der Versorgungsforschung aus den unterschiedlichsten medizinischen Disziplinen und Indikationen präsentiert, deren Adressatenkreis jeweils naturgemäß begrenzt war. Andere Vorträge und Workshops befassten sich mit methodischen Aspekten der Versorgungsforschung, Nutzenbewertung, Epidemiologie oder Qualitätssicherung oder mit Präventionsprojekten für spezielle Zielgruppen wie Schüler, Kinder in Kindertagesstätten oder Beschäftigte in Großunternehmen.
Zahlreiche Referenten gehörten Organisationen aus den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung an, insbesondere den gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Referenten von Universitäten machten deutlich, dass Versorgungsforschung und Prävention dort inzwischen zu Forschungsthemen geworden sind, so sehr dies auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch zu steigern sein mag.

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