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Der Contergan-Film

Was wir aus der Katastrophe gelernt haben

(diz). Thalidomid wurde von der Firma Grünenthal unter dem Namen Contergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel am 1. Oktober 1957 eingeführt und vier Jahre lang vertrieben. Als es am 27. November 1961 vom Markt genommen wurde, hatte es die größte Arzneimittelkatastrophe aller Zeiten verursacht. Die DAZ sprach mit dem Risikoforscher und Arzneimittelexperten Prof. Dr. Klaus Heilmann über die Lehren, die aus der Katastrophe gezogen wurden.

DAZ Es wird geschätzt, dass weltweit zwischen 5000 und 10.000 contergangeschädigte Kinder zur Welt kamen, hiervon 4000 allein in Deutschland. Erstaunlicherweise gab es nur wenige Fälle in Österreich, genau gesagt neun. Wieso der große Unterschied?

Heilmann: Die geringe Zahl hängt sehr wahrscheinlich mit der damals in Österreich sehr restriktiven Handhabung der Rezeptpflicht zusammen. "Softenon", so der in Österreich verwendete Name, war immer rezeptpflichtig. Bei uns gab es für Contergan keine Rezeptpflicht.

DAZ Die Rezeptpflicht und der damit notwendige Gang zum Arzt und Apotheker waren dort also eine Sicherheitsmaßnahme?

Heilmann: Ja. Heute bleibt auch in Deutschland jedes neue Arzneimittel erst einmal rezeptpflichtig. Diese Zeit gilt als erweiterte Testphase, denn viele Neben- und Wechselwirkungen zeigen sich erst langfristig und an größeren Patientengruppen. Wenn man heute immer häufiger dazu neigt, Arzneimittel aus der Rezeptpflicht zu entlassen, so geschieht dies nicht etwa, weil man von ihrer Unbedenklichkeit völlig überzeugt ist, sondern zur Entlastung der Arzneimittelausgaben. Ignoriert wird, dass man damit einen wichtigen Kontrollmechanismus ausschaltet. Nicht vorzustellen, was passiert wäre, hätte es damals den von manchen so gepriesenen freien Internethandel gegeben.

DAZ In den USA war Thalidomid gar nicht erst zugelassen. Waren dort die Zulassungsbestimmungen strenger?

Heilmann: Eine Mitarbeiterin der FDA hatte Bedenken und bremste. Und obwohl in nicht-leitender Position gelang es ihr, allein mir bürokratischen Mitteln die Zulassung so lange hinauszuzögern, bis sich diese durch die Katastrophe in Deutschland von selbst erledigt hatte...

DAZ Wofür sie von Präsident Kennedy ausgezeichnet wurde.

Heilmann: Ja, aber diese durch die Auszeichnung gewürdigte Tat hatte durchaus auch einen weniger positiven Nebeneffekt. Denn in den Kontrollbehörden rund um den Erdball wurde die Botschaft verstanden: Wer mutig ist und bei unvollständiger Datenlage – und die ist beim Markteintritt immer gegeben – ein neues Mittel zulässt, kann bestraft werden, wer aber vorsichtig ist und bremst, wird gelobt und kann sogar ausgezeichnet werden.

DAZ Gut, aber im Fall Contergan hat sich für die USA das Bremsen als segensreich erwiesen.

Heilmann: Kein Zweifel, aber es gibt auch den umgekehrten Fall, wo behördliches Zögern Opfern zur Folge hat. Der erste Betablocker wurde in den USA erst 1981 zugelassen, nachdem Experten schon 1975 auf den großen Wert dieser Substanzen für die Verhinderung eines Re-Infarktes hingewiesen hatten und diese Indikation in Europa längst anerkannt war. Im Jahr nach der Zulassung musste die FDA zugeben, dass durch die Anwendung von Betablockern nach überstandenem ersten Infarkt allein in den USA jährlich etwa 17.000 Menschenleben erhalten werden können. Das bedeutet, dass in den sechs Jahre der Zulassungsverzögerung in den USA etwa 100.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Behördliche Entscheidungen gegen Arzneimittel, die vielfach von der unterschwelligen Sorge getragen sind, eine neue Contergan Katastrophe auszulösen, können also sowohl nützen als auch schaden.

DAZ Es wurde immer wieder gesagt, Contergan sei ein sicheres Arzneimittel. Worauf beruhte diese Aussage?

Heilmann: Bekannt ist der berühmte Paracelsus-Satz: "Alle Substanzen sind Gifte, allein die Dosis entscheidet, ob eine Substanz kein Gift ist". Dieser Satz hat auch heute noch Gültigkeit und prägt den uns geläufigen Begriff der Therapeutischen Breite, worunter bekanntlich der Abstand zwischen der "heilenden" und der schädigenden Dosis zu verstehen ist. Die Therapeutische Breite definiert den Sicherheitsspielraum einer Wirksubstanz, der bei Arzneimitteln in der Regel groß ist. Dass damit nicht die ganze Sicherheit abgedeckt ist, hat uns erst Thalidomid gezeigt und bewusst gemacht. Contergan zeichnet eine hohe Therapeutische Breite aus, mit Contergan kann man sich praktisch nicht das Leben nehmen. Dass durch die Einnahme eines Medikaments nicht der Patient selbst, sondern seine Nachkommen geschädigt werden können, wusste man damals noch nicht: Contergan hat gezeigt, dass unabhängig von der Therapeutischen Breite eine einzige Tablette genügen kann, Schaden an den Nachkommen zu verursachen.

DAZ Nach der Contergan Katastrophe wurden die Bestimmungen in der Arzneimittelforschung und Zulassung weltweit verstärkt.

Heilmann: Das war dringend notwendig und hat u.a. dazu geführt, dass Tierversuche erheblich ausgeweitet wurden. In umfangreichen Studien wird heute besonders auf fruchtschädigende Wirkungen auf die nächste Generation geachtet, was vor Contergan nicht üblich war. Unter Umständen werden die Tests auch auf mehrere Generationen ausgedehnt. Heute ist die Empörung über Tierversuche groß, damals war sie groß, weil keine durchgeführt worden waren. Man kann Probleme eben erst lösen, wenn man sie erkannt hat.

DAZ Contergan wurde nicht nur von den Ärzten empfohlen, sondern auch von den Frauen gerne genommen, vor allem wegen seiner guten Wirkung auf die morgendliche Übelkeit in der Schwangerschaft. Heute sind Schwangere sehr viel vorsichtiger geworden mit der Einnahme von Medikamenten.

Heilmann: Was verständlicherweise eine Folge der damaligen Katastrophe ist. Schwangere Frauen wissen heute, dass sie keine Arzneimittel einnehmen sollen, Ärzte verschreiben sie Schwangeren ungern und den pharmazeutischen Herstellern wäre es am liebsten, wenn ihre Mittel in dieser Zeit von Schwangeren überhaupt nicht eingenommen würden. Dies führt aber auch dazu, dass Frauen, die in der Schwangerschaft krank werden, reduzierte medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten haben.

DAZ Es wird in der Schwangerschaft also genauer zwischen Nutzen und Risiko abgewogen.

Heilmann: Ja, aber leider nicht im gleichen Maße bei Alkohol und Zigaretten. Alkohol ist die Droge, die am häufigsten zu Missbildungen während der Schwangerschaft führt, häufiger als Medikamente, harte Drogen oder Nikotin. Allein in Deutschland kommen jährlich über 2.000 Kinder mit Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zur Welt.

DAZ Es wird behauptet, dass unser Arzneimittelgesetz eine direkte Antwort auf die Contergan Katastrophe sei. So ganz stimmt das wohl nicht, auch wenn bei den späteren Korrekturen immer wieder an Contergan gedacht wurde.

Heilmann: Das Gesetz, das im Februar 1961 verabschiedet wurde, hatte mit der Katastrophe nichts zu tun, und hätte die Katastrophe auch nicht verhindert, denn es regelte lediglich das Registrierungsverfahren für neue Medikamente. Prüfungen zur Wirksamkeit und Sicherheit wurden der Industrie nicht vorgeschrieben. Erst 1964 wurden erste Konsequenzen gezogen: Jetzt unterlagen alle neuen Wirkstoffe drei Jahre lang der Verschreibungspflicht. Unser heutiges Arzneimittelgesetz wurde 1976 beschlossen und brachte erstmals ein bundeseinheitliches Verfahren zur Medikamentenkontrolle. Die Beweislast im Genehmigungsverfahren liegt seither bei den Herstellern: In pharmakologischen und klinischen Versuchen müssen sie gegenüber dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nachweisen, dass ihre Produkte wirksam und unbedenklich sind. Erst dieses Gesetz zog also wirkliche Lehren aus der Contergan Katastrophe –15 Jahre danach.

DAZ Herr Professor Heilmann, wir danken für dieses Gespräch.
Die ARD darf den umstrittenen zweiteiligen Fernsehfilm "Eine einzige Tablette" über den Contergan-Skandal im November ausstrahlen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einer am 5. September veröffentlichten Entscheidung. Die Karlsruher Richter lehnten einen Eilantrag des Pharmaherstellers Grünenthal sowie eines Opferanwalts ab.
In dem vom WDR produzierten Zweiteiler "Eine einzige Tablette", der am 7. und 8.November, jeweils um 20.25 Uhr im Ersten ausgestrahlt wird, geht es um einen Anwalt, der als Vater eines Contergan-geschädigten Kindes einen Prozess gegen das verantwortliche Pharmaunternehmen anstrengt. Eigentlich sollte der Film bereits im vergangenen Herbst im Fernsehen laufen, doch Grünenthal und der ehemalige Opferanwalt erwirkten zuvor beim Landgericht Hamburg eine umfassende Verbotsverfügung im Eilverfahren. Nachdem das Hanseatische Oberlandesgericht diese im April 2007 weitgehend aufhob, zogen die Kläger vor das Bundesverfassungsgericht. Dort scheiterten sie nun mit ihrem Eilantrag. Die Richter konnten nicht erkennen, dass eine Ausstrahlung des Films das Persönlichkeitsrecht der Kläger schwerwiegend beeinträchtige. Es werde dort nicht der Eindruck erweckt, dass es darum gehe, das historische Geschehen möglichst detailgenau nachzubilden. Die Firma Grünenthal rügte, dass die endgültige Entscheidung nun erst nach der Ausstrahlung fallen wird.

Contergan

Das Arzneimittel mit dem Wirkstoff Thalidomid kam am 1. Oktober 1957 auf den Markt. Es gab noch nicht unser heutiges Arzneimittelgesetz, keine Packungsbeilage, und die wenigen damals üblichen Tierversuche waren nur bedingt brauchbar. Der Hersteller Grünenthal vermarktete Contergan als frei verkäufliches Arzneimittel und pries es als Innovation. Nicht ganz zu Unrecht, denn Contergan war das erste bromfreie Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen. Bis zum 27. November 1961 wurde es vertrieben. Contergan war in dieser Zeit ein häufig benutztes Arzneimittel, schätzungsweise 700.000 Bundesbürger griffen täglich dazu. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische, morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase half, wurde es von Ärzten und Apothekern gezielt gerade Schwangeren empfohlen.

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