Feuilleton

Ausstellung

Transdisziplinäre Wortspiele

Hermann J. Roth beschäftigt sich seit seiner Emeritierung als Professor für Pharmazeutisch-Medizinische Chemie der Universität Tübingen immer intensiver mit der Thematik "Molekulare Ästhetik". Dabei versucht er auch, Vergleiche zwischen der Molekülstruktur und der Sprache oder der klassischen Musik zu ziehen. Vor der Eröffnung der Ausstellung "Molekulare Ästhetik" in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe unterhielten wir uns mit Prof. Dr. Dr. h.c. Roth über seine Arbeit und über transdisziplinäre Wortspiele.

DAZ Herr Professor Roth, welche Assoziationen oder Connections, wie die jungen Leute heute sagen, bestehen zwischen Sprache, Chemie und Musik? Anders formuliert: Darf man Worte, Moleküle und Melodien miteinander vergleichen?

Roth: Man darf! Warum, das will ich Ihnen gerne erläutern. Dazu eine strategische Überlegung: Wie kann man Hörbares in Sichtbares umsetzen? Die hörbare Sprache können wir durch die Schrift sichtbar machen – sofern wir es nicht mit Analphabeten zu tun haben. In der Musik ist es ebenso. Hier verwandelt die Notenschrift Hörbares in Sichtbares – für diejenigen, die Noten lesen können. In der Chemie ergibt sich eine vergleichbare, aber etwas komplexere Situation. Die Strukturformel macht sichtbar, was sich hinter dem gesprochenen oder geschriebenen Begriff verbirgt. Das gilt natürlich nur für Personen, die eine chemische Formel lesen können, und das ist nicht einmal bei gebildeten Menschen selbstverständlich. Viele Menschen fahren wie ein Igel in Gefahr sämtliche Stacheln aus, wenn sie nur das Wort Chemie hören. Mit meinen Grafiken will ich ihnen die Abneigung nehmen und zeigen, dass die Chemie auch eine sehr ästhetische Seite hat.

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Sagen Sie uns bitte noch etwas mehr über die Vergleichbarkeit von Chemie, Sprache und Musik?

Roth: Wenn wir uns auf die grafische, also sichtbare Ebene begeben, dann sind

  • Wörter aneinander gereihte und miteinander verbundene Vokale und Konsonanten.
  • Moleküle sind aneinander gereihte und miteinander verbundene Atome.
  • Melodien sind aneinander gereihte und miteinander verbundene Töne.
  • Symbole für Vokale und Konsonanten sind Buchstaben.
  • Symbole für Atome sind Buchstaben und Buchstabenpaare.
  • Symbole für Töne sind Noten, Buchstaben (a, b, c, d, e, f, g, h), Buchstabenpaare (as, es etc. und do, re, mi, fa, so, la, ti) oder Silben (cis, gis, fis, ais etc.).

Ein Vergleich ist damit gerechtfertigt und naheliegend.

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Gibt es eine Vergleichbarkeit der drei Bereiche auch auf künstlerischer Ebene?

Roth: Durchaus: Beispielsweise haben die Wortspiele der Sprache ihre Entsprechungen in der Musik und in der Chemie. Ich denke vor allem an Anagramme, Metagramme und Palindrome. Oder nehmen wir die Kontrapunktik und die Geometrie einer Spielkarte: Beide betrachte ich als Palindrome höherer Ordnung.

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Das sind viele ungewohnte Begriffe auf einmal! Was sind Anagramme?

Roth: Anagramme sind Wörter, die durch die Änderung der Buchstabenfolge eines gegebenen Wortes entstehen und dadurch eine andere Bedeutung erhalten (z. B. Roth, Thor, Hort).

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Und was sind Metagramme?

Roth: Metagramme sind Wörter, die durch den Austausch eines Buchstabens in einem gegebenen Wortes entstehen und natürlich ebenfalls eine andere Bedeutung haben.

Molekulare Metagramme sind Isostere, d. h. Moleküle, die sich von einem gegebenen Molekül durch ein einzelnes Atom oder eine funktionelle Gruppe unterscheiden und deshalb andere chemische, physikalische, biologische, physiologische und pharmakologische Eigenschaften besitzen.

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Was sind Palindrome?

Roth: Synonyma für Palindrome sind Rückläufer, Krebsverse, Spiegelsätze, Januswörter. Der vom griechischen palindromos, d. h. hin und her schwingend, abgeleitete Begriff, beschreibt Objekte, die – egal ob man sie von links nach rechts oder von rechts nach links betrachtet – den gleichen Eindruck, das gleiche Bild oder den gleichen Sinn vermitteln. Das Palindrom als Phänomen ist nicht nur im sprachlichen und molekularen Bereich zu finden, sondern auch in der Musik, der Ornamentik oder der Architektur. Am besten bekannt ist der Begriff Palindrom im Bereich der Wörter (wie RADAR, REITTIER, LAGERREGAL, RELIEFPFEILER).

Die Strukturformeln vieler Natur- und Arzneistoffe repräsentieren molekulare Palindrome, die von rechts oder von links betrachtet identische Bilder abgeben. Beispiele sind Squalen, Dicoumarol, Myriston, Chlorhexidin, Atracurium und ganze Gruppen von Dicarbonsäuren, symmetrischen Ethern oder symmetrischen Ketonen.

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Sie erwähnten noch die Kontrapunktik. Kann man molekulare Strukturen auch mit der Musik von Johann Sebastian Bach vergleichen?

Roth: O ja! Im Kontrapunkt werden die Noten einer gegebenen Melodie oder Tonfolge (Rectus) horizontal oder vertikal gespiegelt (Umkehrung oder Krebs). Darüber hinaus können der Krebs noch horizontal und die Umkehrung noch vertikal gespiegelt werden, wodurch ein identisches Tongebilde entsteht, das als Umkehrung des Krebses oder Krebs der Umkehrung bezeichnet wird. Vergleichbare Phänomene horizontaler und vertikaler Spiegelungen sind im intramolekularen und im intermolekularen Bereich zu finden.

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Schade, dass Sie das unseren Lesern nicht am Klavier demonstrieren können! Erzählen Sie uns noch etwas über die Geometrie der Spielkarten?

Roth: Gern. Eine Spielkarte wie Herz-Dame, Kreuz-König oder Karo-Bube besteht aus zwei identischen, doppelt gespiegelten bzw. drehgespiegelten Hälften. Es existiert eine erstaunlich große Menge an sekundären Naturstoffen und einigen Arzneistoffen, die nach diesem Prinzip konstruiert sind. Und wenn Sie nun fragen, warum das so ist, so lautet die Antwort: aus ökonomischen und energetischen Gründen. Die "Natur" benötigt nur die Hälfte eines Bauplans und verdoppelt das erhaltene Produkt. Das nennt man Ökonomie. Andererseits ist ein Aneinanderbinden nach dem Prinzip "Kopf-Schwanz" oft energetisch günstiger als die Vereinigung "Kopf-Kopf". Denken Sie beispielsweise an die Kondensation zweier Moleküle Milchsäure: Die Bildung eines linearen Esters oder eines zyklischen Di-esters (Lactid) dieser Hydroxycarbonsäure ist leicht vollziehbar. Dagegen stößt die Bildung eines Säureanhydrids durch eine Kopf-Kopf-Verknüpfung auf erhebliche experimentelle Schwierigkeiten.

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Meinen Sie, dass es Kunst ist, solche Wortspiele in der Chemie aufzuzeigen?

Roth: Es kommt darauf an, wie man es macht. Und ob etwas als Kunst angesehen wird oder nicht, entscheiden letzten Endes die Kritiker und die Öffentlichkeit. Dazu ein Beispiel: Im März dieses Jahres hatte ich das Vergnügen, zusammen mit zwei Profis, der Schauspielerin und Interpretin Dorothea Reinhold und der Pianistin Birgit Nerdinger, in der Internationalen Akademie für Musikalische Bildung in Karlsruhe eine "Interdisziplinäre Matinée" zu veranstalten, die von den an Kunst und Kultur interessierten Hörern begeistert aufgenommen wurde. Eine Wiederholung fand auf Wunsch zahlreicher Hörer am Sonntag, dem 15. Juni im Festsaal des Schlosses Ichenhausen (Nähe Ulm) mit gleichem Erfolg statt.

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Und nun zeigen Sie in der Badischen Landesbibliothek als alleiniger Kunstschaffender eine Ausstellung über "Molekulare Ästhetik". Hat sich der Pharmazeutische Chemiker Roth durch eine Art Kontrapunkt in einen Künstler verwandelt?

Roth: Ich hatte das Glück, 2003 zunächst als Gast und bald darauf als Mitglied in die Ateliergemeinschaft "Neue Schule" aufgenommen zu werden. In diesem Rahmen finden oft gemeinsame Ausstellungen statt, u. a. zusammen mit den Ateliers im benachbarten Elsass, die als "ateliers ouverts" bezeichnet und im jährlichen Turnus veranstaltet werden. Doch von höchster Bedeutung für die Anerkennung meiner Bemühungen auf der künstlerischen Schiene war bisher die Beteiligung an der Ausstellung "Mein Gen, das hat fünf Ecken …", die vom März bis Mai 2007 im ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe) zu sehen war.

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Moderne Kunst ist meistens erklärungsbedürftig. Gilt das auch für Ihre Werke?

Roth: Ich habe immer wieder erfahren, dass der naturwissenschaftlich gebildete Betrachter schnell einen Zugang zu meinen Werken findet. Trotzdem freue ich mich sehr, dass ich begleitend zu dieser Ausstellung in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe einige Vorträge halten darf (jeweils um 19.30 Uhr):

  • am 16. Oktober (Vernissage): "Transdisziplinäre Wortspiele"
  • am 30. Oktober: "Chiralität oder die Händigkeit der Objekte"
  • am 20. November: "Spielkartensymmetrie auf molekularer Ebene"
  • am 11. Dezember: "Molekulare Palindrome und Mesoformen"
  • am 8. Januar: "Die Zahl 3 als ästhetisches Ordnungsprinzip".
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Denen, die nicht zur Vernissage kommen können, erklären Sie bitte noch den Unterschied zwischen "interdisziplinär" und "transdisziplinär".

Roth: Das Interdisziplinäre spielt sich zwischen einzelnen beteiligten Wissens- oder Kunstbereichen ab, die dann wieder ihre eigenen Wege gehen und spezielle Ziele verfolgen. Das Transdisziplinäre integriert die verschiedenen Bereiche zu einem dauerhaften Konsens.

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Wir wünschen Ihnen weiterhin Glück und Erfolg und bedanken uns für die interdisziplinären und transdisziplinären Einsichten, die Sie uns vermittelt haben.

Badische Landesbibliothek
Erbprinzenstraße 15 76133 Karlsruhe
Geöffnet: Montag bis Freitag 9.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag bis 20.00 Uhr, Samstag 9.30 bis 12.30 Uhr
Ausstellung "Molekulare Ästhetik" 17. Oktober 2007 bis 12. Januar 2008

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