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Hochpreis-Arzneitherapie und die Folgen

Der Fall Lucentis

(diz). Seit Januar ist das hochpreisige Arzneimittel Lucentis (Wirkstoff Ranibizumab) auf dem Markt. Nach den bisherigen Kenntnissen ist das Präparat sehr gut wirksam in der Therapie der feuchten altersbedingten Makuladegeneration (AMD). Allerdings kostet eine Dosis etwa 1500 Euro – das lässt so manchen Arzt, Apotheke und auch manche Krankenkasse darüber nachdenken, ob dies nicht günstiger zu haben ist. Wir haben recherchiert, was sich im Markt tut, wie der Markt auf eine solche hochpreisige Therapie reagiert – der Fall Lucentis.

Der Hersteller Novartis führte im Januar 2007 das Antikörperfragment Ranibizumab (Lucentis) in Deutschland in den Markt ein. Der Wirkstoff ist zugelassen zur Behandlung aller Formen der feuchten AMD. Die altersbedingte Makuladegeneration ist mit rund 50% die häufigste Ursache der Erblindung in Deutschland. Davon ist die feuchte AMD für 60 bis 80% der Blindheitsfälle durch AMD verantwortlich. Man rechnet derzeit jährlich mit 50.000 neuen Fällen der neovaskulären Form der AMD, die einer Behandlung mit Ranibizumab zugänglich ist.

Zwei große Studien (Marina und Anchor) belegen die gute Wirksamkeit und Sicherheit von Lucentis: 40% der Patienten konnten ihr Sehvermögen verbessern, insgesamt 90% der Patienten profitierten von einer Stabilisierung des Sehvermögens. Mittlerweile ist sich die Fachwelt einig: Ranibizumab ist der Wirkstoff der 1. Wahl in der Therapie der feuchten AMD.

Noch vor dem Jahr 2000 gab es keine medikamentöse Therapie der feuchten AMD. Seit 2000 setzt man die photodynamische Therapie mit Visudyne (Novartis) ein, seit 2006 das Präparat Macugen (Pfizer), seit Mai 2006 wendet man auch den Wirkstoff Bevacizumab (Avastin von Roche), zugelassen zur Behandlung des Darm-und Brustkrebses, als Off-label-Gebrauch bei der AMD-Behandlung an

Seit Januar 2007 steht der speziell zur Behandlung der feuchten AMD zugelassene VEGF-Hemmer Lucentis zur Verfügung, der aufgrund der überzeugenden Studienergebnisse sofort den Sprung zur First-line-Therapie der feuchten AMD schaffte. Aber dieser Sprung hat seinen Preis: Die Behandlung kostet mindestens 1500 Euro pro Dosis, pro Behandlungszyklus sind etwa drei bis vier oder mehr Dosen notwendig. Solche Kosten machen diejenigen erfinderisch, die sie bezahlen müssen oder die denjenigen, die sie bezahlen müssen, etwas Gutes tun wollen und selbst davon profitieren wollen.

Variante 1: Eine Versandapotheke kam auf die Idee, aus der für eine Dosis zugelassenen Verpackungseinheit (eine Durchstechflasche mit 0,3 ml Lösungsinhalt, N1) mehrere Dosen "herauszuholen" (vial-sharing). Dies ist theoretisch (und praktisch) möglich, weil für die Behandlung der feuchten AMD nur ein Sechstel des Flascheninhalts (0,05 ml) notwendig ist. Der Rest muss verworfen werden. Die Abpackung einer kleineren dosisgerechten Einheit ist nicht möglich. Die in der Kritik stehende Versandapotheke zog aus der Durchstechflasche mindestens zwei Fertigspritzen auf, um diese an die behandelnden Ärzte abzugeben oder gar zu versenden. Der finanzielle Vorteil liegt auf der Hand. Ganz abgesehen davon, dass dies der Zulassung dieses Arzneimittels widerspricht, drängen sich hier auch Fragen der Arzneimittelsicherheit auf, wenn solche Fertigspritzen, die zur Behandlung von Augenerkrankungen eingesetzt werden, quer durch die Republik versandt werden. Eine solche Teilung der Lucentis-Durchstechflasche wird vom Hersteller Novartis daher als ein Off-label-Gebrauch eingestuft, da damit wesentlich von der europaweiten Zulassung abgewichen wird. Novartis hat bereits erklärt, dass er für unerwünschte Ereignisse und Nebenwirkungen, die sich aufgrund des Off-Label-Gebrauchs beim vial-sharing ereignen, keine Haftung übernimmt. Die Folge: Für den Patienten steigt das Risiko, denn der Verlust der Herstellerhaftung bedeutet, dass er im Haftungsfall nachweisen müsste, dass der Apotheker den Schaden verursacht hat.

Variante 2: Hier geht es u. a. um die Erstattungsproblematik bei den Ärzten und die Kosten für die Kassen. Ihnen fehlt die notwendige EBM-Ziffer, um ihre ärztliche Leistung bei der Verabreichung dieses Präparats mit der Krankenkasse abrechnen zu können. Da eine Therapie jedoch nicht warten kann, muss der Patient die Kosten der intravitrealen Injektion (IVI – Injektion in den Glaskörper des Auges) per Einzelfallantrag bei seiner Kasse einreichen (wie bei einem Rezept für die Private Krankenversicherung). Als "Ausweg" aus diesem Dilemma und als Ausweg aus der Kostenproblematik kamen Ärzte und Kassen auf die Idee, die bereits früher geübte Praxis fortzusetzen, den mit Ranibizumab verwandten Wirkstoff Bevacizumab (Avastin) in der Augenheilkunde einzusetzen. Dieser Wirkstoff ist zwar auch ein VEGF-Hemmer, aber nur für die Behandlung des Darm- und Brustkrebses zugelassen. Eine Anwendung bei der feuchten AMD ist demnach ein Off-label-Gebrauch. In einigen Regionen von Kassenärztlichen Vereinigungen (z. B. Nordrhein, Westfalen-Lippe) hat man den Einsatz von Avastin bei feuchter AMD allerdings sogar vertraglich geregelt. Welche Gefahren solche Verträge bergen, offenbart sich, wenn man weiß, dass der Arzt für die Behandlung (ärztliches Honorar plus Arzneimittel) laut diesem Vertrag 450 Euro erhält. Der lege artis Einsatz von Lucentis (Arzneimittelkosten allein 1500 Euro) ist damit ausgeschlossen, ebenso der Einsatz von Macugen (Arzneimittelkosten allein 900 Euro). Der Arzt ist gezwungen, auf dem Markt nach einer kostengünstigen Arzneimittelalternative zu suchen, um nicht drauf zu legen. Da liegt der Off-label-use von Avastin und die Aufteilung einer größeren Packung Avastin in Einzelspritzen nahe. Solche aus einer größeren Flasche Avastin gewonnenen Einzelspritzen kann er bereits zum Preis von 50 bis 80 Euro beziehen – die Behandlung der feuchten AMD wird da schon lukrativer für den Arzt.

Der Streit

Novartis will sich die KV-Verträge nicht gefallen lassen und geht dagegen juristisch vor. Beim Sozialgericht wurde eine einstweilige Verfügung eingereicht mit dem Hintergrund, die Avastin-Verträge rechtlich zu prüfen. Eine Entscheidung wird noch dieses Jahr erwartet.

Um den Kassen jedoch Entgegenkommen für die Kostensituation zu zeigen, unterbreitete der Hersteller ihnen ein Angebot: Die Kassen bezahlen die Kosten einer Lucentis-Behandlung für 25.000 Patienten. Ab dem 25.001. Patienten übernimmt Novartis die Kosten. Solche Angebote laufen mittlerweile europaweit, in Frankreich führte dies bereits dazu, dass Lucentis seitdem vollständig erstattet wird. In Deutschland hat sich bisher noch keine Kasse auf diesen Deal eingelassen. Geht man von 50.000 potenziellen Fällen aus, käme dies einer Halbierung der Arzneimittelkosten für Lucentis gleich.

Die Preisfrage

Den hohen Preis von Lucentis erklärt Novartis mit hohen Forschungs- und Entwicklungskosten. Allerdings muss sich die Firma fragen lassen, ob es gerechtfertigt ist, dass der Preis für Ranibizumab um ein Zigfaches über dem des verwandten Bevacizumab liegen muss. Dem Hersteller wird bereits unterstellt, dass er hier eine Marktsituation ausnützt, weil keine zugelassene Alternative vorhanden ist und er so für sein Monopol einen horrenden Preis verlangen kann.

Bevacizumab (Avastin) wurde von der US-Firma Genentech (eine Roche-Tochter) gegen Darm- und Brustkrebs entwickelt und ist mittlerweile auch zur Behandlung des fortgeschrittenen nichtkleinzelligen Lungenkrebses zugelassen. Vertrieben wird Avastin vom schweizerischen Roche-Konzern, der eine Zulassung von Avastin zur Behandlung der feuchten AMD nicht beantragen will. Kritiker glauben, der Grund hierfür liege darin, weil Novartis ein Drittel Anteile an Roche hält.

Epidemiologie
Hochrechnungen zeigen, dass die Zahl der Patienten mit einer fortgeschrittenen AMD von zurzeit etwa 710.000 in den kommenden 15 Jahren auf über 1 Mio. ansteigen wird. Die Zahl der Patienten mit einer neovaskulären Form der AMD wird in diesem Zeitraum von 485.000 auf 700.000 ansteigen. Die derzeit jährlich etwa 50.000 neu auftretenden Fälle mit neovaskulärer AMD sind mit den neuen Anti-VEGF-Substanzen erstmals behandelbar. Dem Gesundheitssystem entstehen durch diese neuen Optionen voraussichtlich zusätzliche jährliche Kosten im Bereich zwischen 1,1 bis 2,9 Mrd. Euro.
Quelle: W. F. Schrader, Universitätsaugenklinik Würzburg, 2006
Ranibizumab wird vom Augenarzt nach örtlicher Betäubung direkt in den Glaskörper des Auges (intravitreal) gespritzt. Es wird zur Behandlung der Netzhaut (dem lichtempfindlichen hinteren Teil des Auges) angewendet, wenn abnormes Wachstum von Blutgefäßen und Austritt von Flüssigkeit ins Auge Netzhautschäden verursachen. Laut Gebrauchsinformation kann Lucentis helfen, die beeinträchtigte Sehkraft wieder zu verbessern oder eine Verschlechterung zu verhindern.

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