Endocannabinoidsystem

Cannabis: Schmerztherapie ohne Suchtgefahr?

Neue Einblicke in das Endocannabinoidsystem lassen auf neue Schmerztherapeutika hoffen

Von Annette Hille-Rehfeld

Die umstrittene Cannabisdroge wirkt als Agonist des Endocannabinoidsystems, das ist ein körpereigener Regelmechanismus, der vor allem neurophysiologische Funktionen steuert, aber auch in das Immunsystem und den Energiestoffwechsel eingreift. Die analgetische Wirkung der Cannabinoide vermitteln peripher liegende Nozizeptoren, während ihre psychotrope Wirkung zentralnervös gesteuert wird. Demnach könnten maßgeschneiderte Cannabinoid-Agonisten, die die Blut-Hirnschranke nicht passieren können, als Schmerzmittel ohne Suchtpotenzial dienen.

Das endogene Cannabinoidsystem. Die endogenen Cannabinoide Anandamid und 2-Arachidonoylglycerol binden an die G-Protein-gekoppelten Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2. Als Folge dieser Interaktion wird die Adenylatcyclase (AC) gehemmt, der Spiegel an zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP) sinkt. Je nach Lokalisation der CB-Rezeptoren werden unterschiedliche Wirkungen ausgelöst. So führt die Aktivierung von CB1 -Rezeptoren in Nozizeptoren der Peripherie zur verminderten Schmerzwahrnehmung.

Die Cannabinoide aus Hanf zeigen neben der Rauschwirkung pharmakologisch interessante Effekte: sowohl natürliche Cannabispräparate als auch synthetische Agonisten lindern Schmerzen und Übelkeit, regen den Appetit an und beeinflussen die Steuerung der Immunantwort. Entsprechend vielseitig sind die Anwendungsmöglichkeiten. So können sie als Analgetikum, zur Behandlung von Übelkeit bei Chemotherapie, gegen Gewichtsverlust bei Tumor- oder AIDS-Patienten, als Krampflöser bei multipler Sklerose und zur Glaukombehandlung dienen.

Bahnbrechende Forschung

Die Entwicklung therapeutisch nutzbarer Cannabinoid-Abkömmlinge ohne psychotrope Nebenwirkungen scheint jetzt greifbar vor dem Hintergrund der bahnbrechenden Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre: Die Kenntnis der Cannabinoid-Rezeptoren erlaubt, die Wirkorte der Cannabinoide und die durch sie ausgelösten Signaltransduktionsprozesse zu charakterisieren. Mit dem ersten körpereigenen Liganden der Cannabinoid-Rezeptoren wurde 1992 ein wichtiger physiologischer Steuerungsmechanismus entdeckt, der nicht nur Schmerzen und Stimmung kontrolliert, sondern auch in die Regulation des Energiestoffwechsels und des Immunsystems eingreift. Die Cannabinoid-Rezeptoren und ihre endogenen Liganden bezeichnet man als Endocannabinoidsystem.

Die Endocannabinoide sind Derivate der Arachidonsäure, einer mehrfach ungesättigten Fettsäure, die mit Ethanolamin ein Amid (Anandamid) bilden oder mit Glycerin verestert sein kann (2-Arachidonoylglycerol, kurz 2-AG). Endocannabinoide sind also Lipide und unterscheiden sich in ihrer chemischen Struktur grundlegend von den pflanzlichen Cannabinoiden, einer heterogenen Gruppe sauerstoffhaltiger Aromaten. Die beiden bekannten Cannabinoid-Rezeptoren (CB1 und CB2) zeigen unterschiedliche gewebespezifische Expressionsmuster. CB1 dominiert im ZNS – vor allem in Basalganglien, im Hippocampus, Zerebellum und Neocortex, wird aber auch in peripheren Geweben gefunden wie Fettgewebe, Muskel und Leber. CB2 findet sich in Zellen des Immunsystems, aber auch im Hirnstamm. Beide CB-Rezeptoren sind membranständige, G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und greifen über ein inhibitorisches trimeres G-Protein in vielfältige zelluläre Signaltransduktionsmechanismen ein: Cannabinoide senken den intrazellulären cAMP-Spiegel durch Hemmung der Adenylatcyclase, können Ionenkanäle für Calcium und Kalium steuern und verschiedene Enzyme der zellulären Signaltransduktion aktivieren (Proteinkinase A, MAP-Kinase, Phospholipase C, PI3-Kinase). Unterschiede in der Ligandspezifität der beiden Rezeptoren äußern sich in der Stärke der Aktivierung durch einzelne Cannabinoide oder Analoga.

Die dem Endocannabinoidsystem zugeschriebenen physiologischen Funktionen sind vielfältig. Im ZNS nehmen Endocannabinoide Einfluss auf die synaptische Plastizität, können also kognitive Funktionen und Emotionen steuern. Sie beeinflussen Bewegungskoordination und Körperhaltung, Schmerzwahrnehmung, kardiovaskuläre, gastrointestinale und entzündliche Prozesse sowie Nahrungsaufnahme und Energiestoffwechsel.

Gene gewebespezifisch ausschalten


Um ein Gen selektiv nur in bestimmten Geweben oder Zelltypen auszuschalten, wird ein virales Enzym verwendet, die Rekombinase Cre, die DNA-Stränge an speziellen Erkennungselementen (loxP-Elemente) spalten und paarweise neu verknüpfen kann. Wird ein Gen oder ein Exon innerhalb eines Gens von zwei loxP-Elementen flankiert, so kann die Rekombinase innerhalb der beiden loxP-Elemente schneiden und durch Verknüpfung der beiden äußeren DNA-Enden eine Deletion des flankierten DNA-Stücks bzw. Gens bewirken:

In der Praxis werden zunächst zwei transgene Mausstämme erzeugt. Beim einen ist das auszuschaltende Gen von loxP-Elementen flankiert, aber noch voll funktionsfähig, der andere Stamm enthält das Gen für die Rekombinase Cre unter einem gewebespezifisch induzierbaren Promotor. Nach Kreuzung der beiden Mausstämme erben 25% der Nachkommen beide genetischen Modifikationen. Bei diesen ist das loxP-flankierte Gen nur in denjenigen Zellen ausgeschaltet, in welchen die Rekombinase unter dem gewebespezifisch induzierbaren Promotor aktiv wird. In den übrigen Geweben dagegen bleibt die Expression dieses Gens unbeeinflusst.

Retrograde Botenstoffe

Die Signaltransduktion durch CB1 -Rezeptoren an den Synapsen des ZNS veranschaulicht wichtige Prinzipien der Wirkung von Cannabinoiden. Die Endocannabinoide werden bei der Aktivierung einer Synapse durch einen Nervenimpuls aus der postsynaptischen Membran freigesetzt. Im Gegensatz zu Neurotransmittern werden sie nicht in den an der Synapse beteiligten Zellen gespeichert, sondern zeitlich gekoppelt an die Erregungsleitung quasi nach Bedarf synthetisiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Anstieg des intrazellulären Calciumspiegels in der aktivierten postsynaptischen Zelle. Dadurch werden eine Acyltransferase und – über Phospholipase C – eine Diacylglycerollipase aktiviert, die Membranlipide zu den Endocannabinoiden Anandamid bzw. 2-AG umsetzen. Nach Freisetzung in den synaptischen Spalt binden die Endocannabinoide an CB1 -Rezeptoren in der präsynaptischen Membran und hemmen die weitere Freisetzung verschiedener Neurotransmitter. Das Endocannabinoidsystem ist demnach Bestandteil neuronaler Regelkreise im ZNS, welche die Dauer eines Nervenimpulses an der Synapse steuern. Deshalb werden die Endocannabinoide auch als "retrograde Botenstoffe" bezeichnet. Die 2-AG-Produktion wird zusätzlich zum depolarisationsabhängigen Anstieg des Calciumspiegels durch die Aktivität metabotroper Glutamat-Rezeptoren stimuliert, die über ein Gq11-Protein ebenfalls die Phospholipase C aktivieren. Beim Zusammentreffen von Depolarisation und Aktivierung der Glutamat-Rezeptoren reagiert die Phospholipase C sehr empfindlich bereits auf einen schwachen Anstieg des intrazellulären Calciumspiegels.

Diesen retrograd wirkenden Signalen wird eine bedeutende Rolle für die synaptische Plastizität zugeschrieben, denn die Endocannabinoide können die inhibitorische Wirkung GABAerger Synapsen genauso abschwächen (= Depolarisationsabhängige Suppression der Inhibition, DSI) wie die exzitatorische Wirkung anderer Synapsen (= Depolarisationsabhängige Suppression der Exzitation, DSE). Endocannabinoide können also je nach physiologischem Kontext in verschiedenen Regionen des Gehirns die Stärke der synaptischen Transmission – als Resultat der gesamten exzitatorischen und inhibitorischen Impulse – entweder verstärken oder abschwächen und somit letztendlich die Prozesse der kurz- und langfristigen synaptischen Plastizität steuern.

Zur Inaktivierung werden die Endocannabinoide von den Nervenendigungen aufgenommen und hydrolytisch abgebaut. Pharmakologische Studien zeigen, dass das Endocannabinoidsystem tonisch aktiv ist. So kann durch inverse Agonisten beispielsweise die Schmerzempfindlichkeit erhöht werden.

Kachexie und Adipositas

Die Kenntnis der Mechanismen, mit denen die Nahrungsaufnahme durch das Endocannabinoidsystem gesteuert wird, erlaubte den Sprung von der Behandlung der Kachexie durch Cannabinoid-Agonisten zum Einsatz des selektiven CB1-Antagonisten Rimonabant bei schweren Fällen von Adipositas – eine Diät und Bewegungsprogramme unterstützende Medikation.

Rimonabant

In Europa zugelassen, in den USA nicht


Der selektive CB1-Antagonist Rimonabant ist seit 2006 in der EU für die Behandlung stark übergewichtiger Patienten bzw. bei Übergewicht in Verbindung mit zusätzlichen Risikofaktoren wie Typ-2-Diabetes zugelassen, nicht jedoch zur Raucherentwöhnung. In den USA wird Rimonabant wahrscheinlich nach einem negativen Gutachten von der FDA nicht zugelassen. Hintergrund sind neurologische und psychiatrische Nebenwirkungen des Cannabinoid-Antagonisten und eine damit verbundene erhöhte Suizidgefahr.

Die europäische Zulassungsbehörde EMEA ist soeben zu einer anderen Bewertung gekommen. Sie sieht weiterhin mehr Vorteile als Risiken für Patienten, die nicht unter Depressionen leiden. Sie hat daher verfügt, dass Patienten mit einer Major-Depression und solche, die Antidepressiva erhalten, nicht mehr mit Rimonabant behandelt werden dürfen.


Grundlage für die Entwicklung von Rimonabant war die Beobachtung, dass Endocannabinoide einerseits im Hypothalamus eine Appetit anregende Wirkung entfalten und andererseits die mit der Nahrungsaufnahme verbundenen Belohnungsmechanismen dahingehend beeinflussen, dass bevorzugt energie- und fettreiche Nahrung aufgenommen wird. Bei Adipositas wird eine Überaktivierung des Endocannabinoidsystems beobachtet, die die übermäßige, den Energiebedarf des Körpers übersteigende Nahrungsaufnahme fördert.

Das endogene Cannabinoidsystem. Die endogenen Cannabinoide Anandamid und 2-Arachidonoylglycerol binden an die G-Protein-gekoppelten Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2. Als Folge dieser Interaktion wird die Adenylatcyclase (AC) gehemmt, der Spiegel an zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP) sinkt. Je nach Lokalisation der CB-Rezeptoren werden unterschiedliche Wirkungen ausgelöst. So führt die Aktivierung von CB1 -Rezeptoren in Nozizeptoren der Peripherie zur verminderten Schmerzwahrnehmung.

Auch bei Nicotinabusus wird eine Überaktivierung des Endocannabinoidsystems beobachtet. Bei der Raucherentwöhnung wirkt Rimonabant unterstützend, indem es offenbar sowohl die Belohnungsmechanismen fördert als auch die häufig beklagte Gewichtszunahme vermeidet.

Immunsystem-Modulation

Cannabinoide beeinflussen zahlreiche Funktionen des Immunsystems wie die Sekretion von Zytokinen und die Migration von Leukozyten. Zellen des Immunsystems tragen vor allem den CB2 -Rezeptor, doch sprechen pharmakologische und molekulargenetische Untersuchungen dafür, dass beispielsweise an der Entstehung von Kontaktallergien auch der CB1 -Rezeptor von Keratinozyten maßgeblich beteiligt ist. Allergische Hautreaktionen lassen sich durch lokale Applikation von Cannabinoid-Agonisten mildern oder durch Hemmstoffe der Fettsäureamidhydrolase (FAAH), die am spezifischen Abbau von Anandamid beteiligt ist.

Gezielte Analgesie?

Die therapeutische Verwendung der Cannabinoid-Agonisten und -Antagonisten ist bislang wegen der psychotropen, zentralnervösen Wirkung und dem bei Langzeitanwendung bestehenden Suchtpotenzial begrenzt. Untersuchungen zum Wirkort der Endocannabinoide bei Mäusen eröffnen jetzt neue Perspektiven. Durch die Technik der gewebespezifischen Cre/loxP-Rekombination wurden die CB1-Rezeptoren nur in peripheren Nozizeptoren gezielt ausgeschaltet, in den übrigen Geweben blieben sie erhalten. Diese Mäuse zeigen eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit bei mechanischer, thermischer oder chemischer Reizung sowie bei Entzündungen und Nervenläsionen, während die von zentralnervösen CB1 -Rezeptoren gesteuerten motorischen Funktionen unauffällig waren. Auf biochemischer Ebene wurde eine erhöhte Aktivität der durch das Endocannabinoidsystem gesteuerten Signaltransduktionsprozesse in Spinalganglien und im Rückenmark beobachtet, bei unveränderter Produktion der Endocannabinoide. CB1 -Agonisten zeigten bei diesen Mäusen eine stark verringerte analgetische Wirkung. Wurden alle CB1 -Rezeptoren einschließlich der zentralnervösen ausgeschaltet, war die Schmerzempfindlichkeit nicht weiter erhöht. Eine genaue Analyse zeigte, dass nur die peripher liegenden Synapsen der Nozizeptoren, nicht aber ihre Nervenendigungen im Rückenmark für die Regulation der Schmerzempfindung verantwortlich sind. Dass CB1 -Agonisten bei den Mäusen ohne periphere CB1 -Rezeptoren dennoch eine schwache Wirkung zeigen, wird auf übergeordnete zentralnervöse Mechanismen zurückgeführt.

Diese Befunde eröffnen interessante therapeutische Optionen: Bislang lässt sich die peripher vermittelte analgetische Wirkung nicht von den zentralnervös gesteuerten psychotropen Nebenwirkungen trennen, da die bekannten CB1 -Effektoren lipophil sind und die Blut-Hirn-Schranke ungehindert passieren. Einen Ausweg bieten neue oder modifizierte CB1 -Effektoren, die die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren können.


Quellen

Agarwal, N, Pacher P, Tegeder I et al.: Cannabinoids mediate analgesia largely via peripheral type 1 cannabinoid receptors in nociceptors. Nature Neuroscience 2007;10: 870-879.

Karsak M, Gaffal E, Date, R et al. : Attenuation of Allergic Contact Dermatitis Through the Endocannabinoid System. Science 316, 1494-1497 (2007).

Kreutz S, Korf HW, Schubert-Zsilavecz M: Selektive Cannabinoid-Rezeptor- Agonisten. Pharm Unserer Zeit 2006; 35: 512-520.

Ullrich O, Merker K, Timm J, Tauber S: Immune control by endocannabinoids - new mechanisms of neuroprotection? J Neuroimmunol 2007; 184:127-135.

Wilson RI, Nicoll RA: Endocannabinoid Signaling in the Brain. Science 2002; 296: 678-682.


Anschrift der Verfasserin:

Dr. rer. nat. Annette Hille-Rehfeld, Darmstädter Str. 70, 70376 Stuttgart

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