Ernährung aktuell

Vitaminversorgung

Deutschland im Folsäurerückstand

80 Prozent der deutschen Bevölkerung erreichen die empfohlene Zufuhr von Folsäure nicht. Nur wenige Frauen im gebärfähigen Alter befolgen die Empfehlungen zur Supplementierung. Jedes Jahr werden in Deutschland dadurch bis zu 800 Kinder mit Neuralrohrdefekt geboren. Bemühungen zu einer flächendeckenden Folsäureanreicherung beispielsweise von Mehl sind bislang gescheitert. Hierauf machte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung vor kurzem auf einem Seminar aufmerksam.

Zur Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Folsäure gibt es Daten, die aus der Zufuhr mit Lebensmitteln bzw. anhand klinischer Parameter ermittelt wurden. Bei den meisten Menschen liegt die Folsäurezufuhr danach deutlich unter dem Referenzwert für Erwachsene von 400 µg/Tag. Allerdings ist die tatsächliche Folsäurezufuhr wahrscheinlich höher als der ermittelte Wert, da in den Untersuchungen meist keine Supplemente oder angereicherte Lebensmittel berücksichtigt werden. Hauptquellen für Folsäure sind Gemüse (25 – 30%), Brot (15%), Milchprodukte (10 – 15%), Obst (5 – 10 %), Eier (5%), Bier (Männer, 5%) und Säfte (5%).

Schwangere haben einen erhöhten Folsäurebedarf. Da Folsäure eine zentrale Stellung bei der Zellteilung und Blutbildung einnimmt, kann eine Unterversorgung gerade zu Beginn der Schwangerschaft zu Früh- und Fehlgeburten sowie schweren Fehlbildungen (Neuralrohrdefekt) führen. Bei einem Großteil der Frauen im reproduktionsfähigen Alter ist die Versorgung zur Vermeidung von Neuralrohrdefekten nicht als ausreichend anzusehen.

Die Empfehlung liegt bei 400 µg Nahrungsfolsäure + 400 µg Folsäuresupplemente pro Tag für Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten sowie für Schwangere bis zum dritten Monat. Seit Beginn der 1990er Jahre wird eine Folsäuresubstitution zur Prävention von Neuralrohrdefekten empfohlen.

Der Anteil der Frauen, die perikonzeptionell Folsäure nehmen, liegt aber immer noch bei weniger als zehn Prozent. Häufig gibt es eine Diskrepanz zwischen Wissen und Tun. Da zudem ca. 50 Prozent der Schwangerschaften ungewollt sind, kommt für diese Frauen die Folatsubstitution zur Prävention zu spät, da die Schließung des Neuralrohrs um den 20. Tag der Schwangerschaft herum erfolgt. Viele Länder haben deshalb eine Folsäureanreicherung (meist von Mehl) vorgeschrieben und damit eine deutliche Senkung der Häufigkeit von Neuralrohrdefekten erzielt (obwohl die angestrebte Höhe der Supplementierung dabei nicht erreicht wird).

Ein guter Folsäurestatus der Mutter hat auch positive Auswirkungen auf weitere mögliche Probleme der fetalen Entwicklung. Das Risiko für ein niedriges Geburtsgewicht nimmt ebenso ab wie andere Fehlbildungen (angeborene Herzfehler, Obstruktion im Harnleiter u. a.).

Folsäure senkt den Homocysteinspiegel

Obwohl kaum klassische Mangelerscheinungen beobachtet werden, wird vermutet, dass es zahlreiche mögliche Auswirkungen der Folsäureunterversorgung gibt. So wird vermutlich bei einem Großteil der Bevölkerung die maximal mögliche Senkung des Homocysteinspiegels durch die aufgenommene Folatmenge nicht erreicht. Folsäure ist notwendig für die Methylierung von Homocystein zu Methionin. Zum einen wird dieses Methionin im Körper benötigt, zum anderen kann ein erhöhter Homocysteinspiegel zu atherosklerotischen Gefäßveränderungen führen.

Mittlerweile gibt es viele Studien, nach denen ein erhöhter Homocysteinspiegel im Blut einen unabhängigen Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall darstellt. Als tolerabel werden bis 12 µmol/l Homocystein für Gesunde angegeben (D.A.CH 2003). Es wurde festgestellt, dass eine ausreichende Folsäurezufuhr (500 µg/d) den Homocysteingehalt im Blut senken kann. Günstig wirkt sich eine zusätzliche Vitamin-B12 -Gabe aus. Ein besonderes Risiko für einen zu hohen Homocysteinspiegel haben die etwa zehn Prozent der Bevölkerung mit einem Polymorphismus des Schlüsselenzyms im Folsäurestoffwechsel, der zu einem Aktivitätsverlust von 65 bis 75 Prozent führt.

Protektiver Effekt auf Krebs unklar

Bei Krebserkrankungen zeigen Studien tendenziell einen protektiven Effekt einer hohen Folsäureaufnahme. Weitere Studien sind hier jedoch nötig. Bezüglich einer diskutierten Förderung von Krebs durch eine übermäßige Folsäuresupplementierung gibt es wenig verlässliche Daten. Angenommen wird, dass sich Krebs bei Vorhandensein von Krebsvorstufen unter einer zu hohen Folsäuregabe manifestiert. Es fehlen allerdings Langzeitanalysen der Krebsinzidenz in Ländern mit Folsäureanreicherungsprogrammen sowie randomisierte kontrollierte Studien in Risikogruppen.

Zu wenig Folsäure verringert die Denkleistung

Es gibt auch Hinweise für einen Zusammenhang zwischen niedrigem Folatstatus und verringerten kognitiven Funktionen (Alzheimer und andere Demenzen). Studien zeigen immer wieder Assoziationen zwischen erhöhtem Homocystein und/oder niedrigem Folsäurespiegel und geringen kognitiven Fähigkeiten. Interventionsmaßnahmen konnten jedoch noch keinen eindeutigen Nachweis einer Wirkung in der Prävention von degenerativen Hirnerkrankungen durch zusätzliche Folsäuregaben erbringen, sie wird aber für möglich gehalten. Auch hier werden weitere Studien benötigt.

Strategien zur Verbesserung der Folatversorgung

Weltweit gibt es 42 Länder, die bereits eine verpflichtende Folsäureanreicherung (meist Mehl) vornehmen. In Europa wendet Irland eine verpflichtende Anreicherung von Mehl an, die Schweiz und Ungarn eine freiwillige Anreicherung ausgewählter Produkte, die Niederlande haben die Supplementierung perikonzeptionell durch verschiedene Maßnahmen gesteigert (Kampagnen in Apotheken, Ansprechen von Müttern bei Vorsorgeruntersuchungen des 1. Kindes im Hinblick auf das nächste Kind). In Deutschland gibt es diverse Produkte (Müsli, Süßigkeiten, Säfte), die mehr oder weniger willkürlich angereichert werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt zur Erreichung des Referenzwertes von 400 µg Folsäure pro Tag:

  • Beratung und Aufklärung bezüglich vollwertiger Ernährung (mit der die 400 µg/d theoretisch erreichbar sind, praktisch aber nur selten erreicht werden)
  • Freiwillige Folsäureanreicherung von Bäckermehl der Typen 550 und 630 mit 150 µg/100 g (würde zu einer geschätzten Mehraufnahme von 135 µg/d für Männer bzw. 106 µg/d für Frauen führen).
  • Für Frauen im gebärfähigen Alter wird weiterhin die zusätzliche Folsäure-Supplementierung von 400 µg/d empfohlen.
  • Es sollte eine freiwillige Beschränkung der Anreicherung anderer Lebensmittel geben, damit der Überblick bei der Zufuhr gewährleistet bleibt.
  • Monitoringmaßnahmen.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt ebenfalls eine Supplementierung (Mehl oder Salz). Andere Lebensmittel, die bereits jetzt angereichert werden, sollten dann allerdings nicht mehr angereichert werden. Auch das BfR hält ein Monitoring für erforderlich und gegebenenfalls Kampagnen zur Aufklärung der Bevölkerung. Viele Experten befürworten die gleichzeitige Supplementierung von Vitamin B12 zur Optimierung der Wirkung und der Vermeidung des möglichen Übersehens eines gleichzeitigen Vitamin-B12 -Mangels. Die Supplementierung mit Vitamin B12 wird als völlig unbedenklich angesehen.

Anreicherung in der praktischen Durchführung

Von Salz ist der Verbraucher bereits die Anreicherung mit Iodid und Fluorid gewohnt und würde vermutlich auch eine Anreicherung mit Folsäure akzeptieren. Es sollte nur Salz oder Mehl angereichert werden. Die Empfehlung zur Folsäuresupplementierung vor und während des ersten Drittels der Schwangerschaft sollte aufrechterhalten werden. Mehl wird in vielen Ländern bereits angereichert. Es eignet sich gut – zum Dosieren und Mischen sind die Apparaturen ohnehin ebenso vorhanden wie Möglichkeiten zur Analytik. Die sensorischen und rheologischen Eigenschaften bleiben unverändert. Stabilität und Bioverfügbarkeit sind gut. Der Verzehr an Brot und Brötchen ist nahezu stabil. Die vorgeschlagene Anreicherung ausgewählter Typenmehle erhält die Wahlfreiheit der Verbraucher.

Ohne den klaren politischen Willen, eine steigende Kommunikation zum Thema, eine verpflichtende Anreicherung ausgewählter Mehle, eine frühzeitige Einbindung aller betroffenen Wirtschaftskreise und eine unterstützende Aufklärungskampagne ist eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Folsäure aus Sicht der DGE nicht zu erwarten. Der Bundesrat hat am 15. Dezember 2006 die Bundesregierung um eine gezielte Aufklärung der Bevölkerung gebeten. In dieser Maßnahme sehen sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und viele andere Wissenschaftler, die sich bisher seit Jahren vergeblich um eine Verbesserung der Lage bemühen, bestätigt. Noch sind allerdings keine Konsequenzen erfolgt.

Quelle: Journalistenseminar der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, 7.– 8. Mai 2007, Bonn.

Dr. Sabine Wenzel
Bezeichnung
  • Folate = Gruppennname für verschiedene vitaminwirksame Derivate von Pteroylmonoglutaminsäure, gehört zur Gruppe der B-Vitamine
  • In pflanzlichen und tierischen Geweben bzw. Lebensmitteln kommen natürlicherweise überwiegend Pteroylpolyglutamate vor.
  • Biosynthese kann nur durch Pflanzen und einige Tiere erfolgen, die dann Mensch und Tier als Quelle dienen.
  • Folsäure = das synthetisch hergestellte Vitamin Pteroylmonoglutaminsäure, nur diese wird bisher für Supplemente verwendet.
Zufuhr
  • Die wünschenswerte Zufuhr für Erwachsene beträgt 400 µg Folat pro Tag.
  • Empfehlung für Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten und Schwangere bis zum dritten Monat: 400 µg Nahrungsfolat + 400 µg synthetische Folsäure pro Tag.
  • Supplementierung nicht mehr als 1 mg/Tag.
  • Hauptquellen: Kohlgemüse, Hülsenfrüchte, grüne Blattsalate, Tomaten, Orangen, Nüsse, Vollkornprodukte, Innereien (Leber), Eier, Milchprodukte.
  • Bei der Lebensmittelzubereitung können 50 bis 70% verloren gehen (Folate sind empfindlich gegen Licht, Hitze, Sauerstoff, Alkali, Säuren).
  • Ein Problem bei der Ermittlung der tatsächlichen Gehalte in Lebensmitteln liegt darin, dass die analytisch ermittelten Gehalte mit unterschiedlichen Methoden bestimmt werden, die nicht vergleichbar sind.
Bioverfügbarkeit und Funktionen im Stoffwechsel
  • Die Bioverfügbarkeit von Folaten aus gemischter Kost beträgt 50 bis 70%, Folsäure wird nahezu vollständig aufgenommen.
  • Der Körper speichert 20 mg, der Vorrat reicht bei folatfreier Ernährung nur drei bis vier Wochen.
Folsäure wird benötigt
  • bei Zellteilung und Zellneubildung, Weitergabe der genetischen Erbinformation von Zelle zu Zelle,
  • bei der Blutbildung, zusammen mit Vitamin B12,
  • im Proteinstoffwechsel und im Nervengewebe,
  • als Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Abbau hoher Homocysteinmengen im Blut, die für atherosklerotische Veränderungen der Blutgefäßwände verantwortlich gemacht werden
Vorteile einer gezielten Folsäureanreicherung (von Mehl)
  • Zufuhr wird verbessert.
  • Keine Veränderung des Essverhaltens.
  • Niedrige Herstellungskosten.
  • Durch gute Planung und Regulierung Risiko von negativen Effekten minimiert.
Nachteile
  • Gesamte Bevölkerung wird der Supplementierung "ausgesetzt", unabhängig davon, ob sie davon profitiert oder nicht.
  • Die Supplementierung ist nicht in jedem Fall ausreichend für alle Zielgruppen (Schwangere).
  • Bei gleich bleibendem Angebot anderer mit Folsäure angereicherter Lebensmittel besteht die Gefahr einer Überschreitung der als sicher geltenden Tageshöchstmenge von 1000 µg.

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