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Europa auf Abwegen

50 Jahre Römische Verträge – das sollte eigentlich ein Grund zum Feiern sein. Aber leider geben zentrale Institutionen der europäischen Gemeinschaft – insbesondere die EU-Kommission, aber auch der Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten und manchmal sogar der Europäische Gerichtshof (EuGH) – einem bedenklichen Europaskeptizismus Nahrung. Statt die Menschen für Europa zu begeistern, köcheln Brüssels Bürokraten, demokratisch unzureichend kontrolliert, zunehmend eigene Süppchen. Mit der oft fadenscheinigen Begründung, den grenzüberschreitenden Wettbewerb fördern zu müssen, wird munter gegen das Subsidiaritätsgebot verstoßen, ein überzogener Zentralismus kultiviert, der immer mehr der 480 Millionen Bürger der Gemeinschaft gegen "die da in Brüssel" und leider auch gegen Europa aufbringt.

Auch die Gesundheitspolitik ist davon betroffen. Immerhin: Inzwischen regt sich Widerstand an verschiedenen Fronten.

Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, hat angemerkt, was Europa ausmache, müsse Einheit in der Vielfalt sein. Alles Zentralistische sei deshalb "Verrat und Vergewaltigung Europas".

Auf dieser Linie haben sich unlängst in einer "Potsdamer Erklärung" auch die deutschen gesetzlichen Krankenkassen gegen die wachsende Einmischung aus Brüssel gewehrt. Dies widerspreche der Vorgabe im EG-Vertrag, wonach die Gesundheitspolitik in der Kompetenz und Verantwortung der Mitgliedstaaten bleiben solle – eine Regelung, die ökonomisch, politisch und kulturell sinnvoll sei. Der Subsidiaritätsgedanke – der wo immer möglich dezentrale, bürgernahe Regelungen und Entscheidungen einfordert – dürfe nicht über den Umweg der Binnenmarktgesetzgebung ins Leere laufen.

In der Tat: Unter dem wohlfeilen Etikett der Deregulierung und Liberalisierung versteckt die Kommission, wie oft sie sich naiv zum Vollstrecker durchsichtiger Interessen multinationaler Konzerne macht.

Das hat wohl auch die "Aachener Gruppe" erkannt, die erstmals in Aachen tagte. Ihr gehören Vertreter aus acht Mitgliedstaaten (Deutschland, Spanien, Belgien, Luxemburg, Portugal, Schweden, Italien und Großbritannien) mit mehr oder weniger sozialdemokratisch eingefärbten Gesundheitsministern an. Die Gruppe setzt sich, so der EU-Observer, dafür ein, den nationalen Besonderheiten der Gesundheitssysteme besser Rechnung zu tragen. Sie will die Kommission dazu bringen, durch eindeutige Regelungen dafür zu sorgen, dass der sensible Sektor der Gesundheitssysteme nicht beliebigem länderübergreifenden Wettbewerb ausgesetzt werde. Dazu passt, dass der Gesundheitssektor explizit von den Marktöffnungsregelungen der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen wurde. Dies reiche aber nicht. Es seien noch weitere Schutzmaßnahmen notwendig, so fordert die Gruppe von dem für den Gesundheitsbereich zuständigen Kommissar Markos Kyprianou.

Doch die Kommission marschiert munter weiter in die Gegenrichtung – auch im Apothekensektor. Am 24. Februar 2007 wurde im Europäischen Amtsblatt veröffentlicht, dass die Kommission beim EuGH Klage gegen Italien eingereicht hat. Die in Italien (und vielen anderen Ländern der Gemeinschaft ähnlich) geltende Regelung, dass nur Apotheker (oder Gesellschaften, deren Gesellschafter ausschließlich Pharmazeuten sind) private Apotheken betreiben dürfen, verstoße gegen Gemeinschaftsrecht, speziell gegen die Kapitalverkehrsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit. Nach Ansicht der Kommission muss zukünftig jeder natürlichen oder juristischen Person – ohne Ansehen irgendeiner Qualifikation – erlaubt sein, überall in Europa Apotheken zu besitzen und zu betreiben. Die Kommission bestätigt damit ihre Politik gegen Freie Berufe. Ein EU-Staat dürfte demnach bestimmte Tätigkeiten nicht mehr voll bestimmten Freien Berufen überantworten – auch wenn dies ohne jede Diskriminierung für In- und EU-Ausländer gleichermaßen gilt und aus Gründen des Verbraucherschutzes sinnvoll ist. Die Kommission hält solche Beschränkungen, anders als in der Vergangenheit, nicht mehr für gerechtfertigt. Sie seien nicht notwendig und unverhältnismäßig – und deshalb gänzlich unzulässig.

Darüber steht ihr die Deutungshoheit jedoch nicht zu. Sie setzt sich damit in Widerspruch zu Artikel 152 EG-Vertrag, wonach die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens "in vollem Umfang gewahrt" werden soll.

Wenn die Kommission so weiter macht, haben neben Günter Verheugen auch andere Kommissare die Chance, Nominierungen zu Negativpreisen zu ergattern, weil sie sich von großen Unternehmen brav instrumentalisieren ließen. Vermutet wird, dass bei der Italien-Initiative der Kommission auch Pharmagroßhandlungen ihre Finger im Spiel hatten, die neue Spielwiesen für den Ausbau ihrer Apothekenketten suchen. Italiens Verfassungsgericht hatte die eigenen apothekenrechtlichen Bestimmungen kürzlich so ausgelegt, dass Pharmagroßhandlungen bei der Privatisierung kommunaler Apotheken aus dem Spiel gewesen wären. Honi soit qui mal y pense? Nein: Wer Böses dabei denkt, liegt richtig.

Klaus G. Brauer

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