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Arzneitherapie älterer Patienten: Australische und britische Erfahrungen nutzen

BERLIN (cb). Wie können Apotheker und Angehörige anderer Gesundheitsberufe künftig besser zusammenarbeiten, um die Sicherheit der medikamentösen Therapie bei älteren, multimorbiden Patienten zu erhöhen? Dies war die zentrale Frage, die von Fachleuten aus Deutschland, Australien und Großbritannien auf einem von der ABDA veranstalteten Symposium am 7. Februar in Berlin diskutiert wurde.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung in Deutschland ist es dringend notwendig, die Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen stärker auf die Bedürfnisse älterer Menschen auszurichten. Die Bundesregierung ist sich dieser Problematik bewusst - entsprechende Forderungen wurden im Koalitionsvertrag festgeschrieben (siehe Kasten).

Mehr Pharmazie wagen

Unter dem Motto "Mehr Pharmazie wagen" rief Friedemann Schmidt, Vizepräsident der ABDA, die Teilnehmer des Symposiums dazu auf gemeinsam zu überlegen, wie pharmazeutische Kompetenz - vor dem Hintergrund knapper Ressourcen - zum Erreichen dieser Ziele noch besser eingesetzt werden kann.

Ein vielversprechendes Instrument zur Gewährleistung einer sicheren medikamentösen Therapie bei älteren multimorbiden Patienten einerseits und zur Kostensenkung im medizinischen und pflegerischen Bereich andererseits wäre die Optimierung der Arzneimitteltherapie dieser Patientengruppe - und zwar nicht durch die Apotheker allein, sondern in enger Kooperation mit Ärzten und anderen Gesundheitsberufen. Zur Entwicklung entsprechender Konzepte können bereits vorliegende Erfahrungen aus anderen Ländern wie beispielsweise Australien und Großbritannien genutzt werden, so Schmidt.

Erfahrungen aus Australien ...

Prof. Dr. Charlie Benrimoj, Sydney, und Lance Emerson, Canberra, berichteten in ihren Vorträgen über Erfahrungen mit den "Home Medication Reviews" (HMR) bei älteren multimorbiden Patienten in Australien. Diese Reviews stellen eine Analyse der gesamten Medikation eines Patienten dar, die in enger Kooperation zwischen Arzt und Apotheker erarbeitet bzw. optimiert wird. Ziele sind vor allem die Erhöhung der Therapiesicherheit, die Vermeidung von Doppelverordnungen und damit letztendlich auch eine Kostensenkung.

Nach einer an der Universität Sydney unter Leitung von Benrimoj durchgeführten Studie mit 171 Patienten ergab sich durch dieses multidisziplinäre Vorgehen eine Einsparung bei den Arzneimittelkosten von 9,1 Prozent und eine Reduktion der Zahl der pro Patient verordneten Medikamente um ein bis zwei. Emerson erläuterte, dass trotz dieser ermutigenden ersten Ergebnisse bezüglich der Implementierung der HMR in die Praxis noch nicht allseits Zufriedenheit herrsche. So sei beispielsweise die Akzeptanz bei den Berufsgruppen noch zu gering. Obwohl 95 Prozent der australischen Apotheken von der Regierung eine Akkreditierung zur Durchführung von HMR erhalten hatten, führten nur zwischen 10 und 20 Prozent von ihnen diese tatsächlich durch.

50 Prozent der teilnehmenden Apotheken erstellten weniger als zwei HMR pro Monat. Auch beklagten die Apotheker, dass die Vergütung (sie liegt zwischen 87 und 125 Euro pro HMR) zu gering sei, da vor allem wegen der Durchführung von Hausbesuchen bei den Patienten doch erheblich höhere Kosten entstehen würden.

... und Großbritannien

Prof. Dr. Theo Raynor von der Universität Leeds schilderte, wie sich das Medikationsmanagement in Großbritannien in den letzten Jahren entwickelt hat. In einem relativ kurzen Zeitraum von 15 Jahren hat es zahlreiche Studien (z.B. an der Universität Leeds), Projekte und Initiativen gegeben, die vor dem Hintergrund gestiegener Arzneimittelkosten und einer Häufung arzneimittelinduzierter Erkrankungen den Nutzen von Medikationsanalysen evaluiert haben. Darüber hinaus wurden inzwischen zahlreiche Hilfsmittel entwickelt, die vom öffentlichen Apotheker zur Unterstützung seiner Arbeit auf diesem Gebiet aus dem Internet abgerufen werden können, z.B. Dokumentationsbögen und Handzettel zur Patienten-Information. Bei den meisten Patienten stoßen diese Projekte auf gute Resonanz - sie schätzten die Möglichkeit, ihre gesamte Medikation mit dem Apotheker besprechen zu können. Obwohl noch einige Probleme zu lösen sind, bevor in den öffentlichen Apotheken Großbritanniens flächendeckend Medikationsanalysen durchgeführt werden, gibt es Grund genug, optimistisch in die Zukunft zu blicken, da damit Kosteneinsparungen erreicht werden können und die Akzeptanz bei den Patienten gut ist.

Vermeidbar: krank durch Arzneimittel

Prof. Dr. Gerd Glaeske unterstrich in seinen Ausführungen, dass auch und gerade unter den Bedingungen des demografischen Wandels der Apotheker als Wächter ("gate-keeper") der Arzneimittelsicherheit und als Lotse in der Arzneimitteltherapie unverzichtbar sei.

Was den älteren multimorbiden Patienten betrifft, so müsse beim Einlösen des Rezepts in der Apotheke vor allem hinterfragt werden, ob dieser beim Arztbesuch alle Informationen zu den verordneten Arzneimitteln ausreichend verstanden hat. Da dies oft nicht der Fall sei, müssten die entsprechenden Anweisungen noch einmal bekräftigt werden.

Auf diese Weise könnten unter anderem zahlreiche Krankenhauseinweisungen, die aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) oder Interaktionen erfolgen, vermieden werden. In Deutschland werden dadurch immerhin jährlich Kosten zwischen 800 Millionen und einer Milliarde Euro verursacht, zwischen 16.000 und 25.000 Todesfälle sind UAW- oder interaktionsbedingt. Besondere Bedeutung komme der Beratung im Rahmen der Selbstmedikation zu, betonte Glaeske. Denn von den 150 Millionen Analgetika-Packungen, die pro Jahr in Deutschland abgegeben werden, werden 120 Millionen in der Selbstmedikation verkauft.

Vermeidbar: Probleme bei der Anwendung

Dr. Jennifer Anders vom Zentrum für Geriatrie und Gerontologie an der Universität Hamburg stellte dar, welche Besonderheiten beim Medikationsmanagement beim älteren multimorbiden Patienten zu beachten sind. Nicht nur bei Patienten, die gebrechlich oder kognitiv eingeschränkt sind, sondern auch bei noch weitgehend gesunden, selbstständigen älteren Menschen können zahlreiche Probleme bei der Anwendung der verordneten Arzneimittel auftreten. Dazu zählen Probleme bei der Handhabung von Tropfflaschen, Flaschen mit Sicherheitsverschlüssen oder auch beim Teilen von Tabletten. Zudem würden viele ältere Patienten manche Präparate gar nicht als Arzneimittel ansehen, wie eine Studie gezeigt hat. Dies traf nicht nur auf Vitaminpräparate, pflanzliche Präparate oder extern anzuwendende Arzneimittel, sondern auch auf Arzneimittel gegen Schmerzen oder sogar Herzinsuffizienz zu.

Was in Deutschland fehlt, sind kontrollierte Interventionsstudien zu Lösungsstrategien für die Probleme älterer, multimorbider Patienten, deren Ergebnisse in das deutsche Gesundheitssystem übertragbar sind, betonte Anders. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dafür unabdingbar.

Pilotprojekt "Häuslicher Medikationscheck"

Wie Prof. Dr. Martin Schulz und Dr. Peter Froese in ihrem gemeinsamen Referat erläuterten, lassen sich in Deutschland vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und auf der Basis des Koalitionsvertrages folgende Ziele für das Medikationsmanagement formulieren:

  • Erhöhung der Arzneimittelsicherheit
  • Verhinderung von Krankenhauseinweisungen und Pflegebedürftigkeit
  • ambulante vor stationärer Pflege
  • Reduktion der Gesamt-/Pflegekosten
  • sinnvolle Weiterentwicklung des Hausapothekenkonzepts

Um die Umsetzbarkeit der bereits vorhandenen internationalen Erfahrungen in Deutschland zu evaluieren, entwickelt die ABDA derzeit in Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen und der Sächsischen Landesapothekerkammer ein Pilotprojekt zum "Häuslichen Medikationscheck" (siehe Grafik).

Eingeschlossen werden sollen ca. 100 ältere, multimorbide Patienten beiderlei Geschlechts aus Sachsen, die mindestens fünf Dauerarzneimittel einnehmen. Voraussetzung für die Teilnahme ist unter anderem das Vorhandensein einer definierten Stamm- bzw. Hausapotheke mit seit mindestens sechs Monaten regelmäßig geführter Medikationsdatei und eines Hausarztes über mindestens den gleichen Zeitraum. Die externe Evaluation soll an der Technischen Universität Dresden erfolgen. Es besteht die Vorstellung, dass vom häuslichen Medikationscheck vor allem diejenigen Patienten profitieren werden,

  • die 12 oder mehr Arzneimitteldosen pro Tag einnehmen,
  • deren Therapie sich in den vergangenen 12 Monaten mehr als viermal verändert hat,
  • die an mehr als drei verschiedenen (chronischen) Erkrankungen leiden
  • die pflegebedürftig sind und im häuslichen Umfeld leben.

Geprüft werden sollen verschiedene Hypothesen, darunter die, ob das Medikationsmanagement zu Einsparungen bei den Arzneimittelkosten führen kann.

Aus juristischer Sicht erscheint die Durchführung dieses Pilotprojekts unproblematisch, da die notwendigen Gesetze (§ 63 und § 140 ff des SGB V) bereits existieren und keine Veränderungen notwendig sind. Da es sich um einen integrierten Ansatz handelt, ist jedoch eine umfangreiche Abstimmung unter den Beteiligten unabdingbar, betonten Schulz und Froese.

Was sich die Politik wünscht

  • Um dem demografischen Wandel Rechnung zu tragen, müssen Versorgungsstrukturen und -prozesse entsprechend den Bedürfnissen älterer Menschen angepasst werden (Reha vor Pflege, ambulant vor stationär).
  • Leistungen müssen darauf ausgerichtet sein, Behinderungen, chronischen Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit entgegen zu wirken.

(aus dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005)

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