Europa

H. BlasiusGesundheitsversorgung und Apothekenwesen i

Wie die beiden anderen baltischen Staaten konnte sich auch Litauen erst ab Mitte der 90er-Jahre Schritt für Schritt von den Nachwirkungen der Sowjetzeit erholen. Die relevanten gesetzlichen Grundlagen für das Gesundheitssystem wurden zwischen 1995 und 1997 verabschiedet. Konsequent wurde seitdem daran gearbeitet, das System zu konsolidieren und die Leistungserbringer gleichzeitig auf den EU-Beitritt vorzubereiten. Der Apothekenmarkt ist fast vollständig privatisiert. Hier bestimmen die Ketten das Bild und den Wettbewerb.

Nachdem Litauen ab 1995 wirtschaftlich langsam wieder besser auf die Beine kam, hat sich das Bruttoinlandsprodukt des Landes in den letzten zehn Jahren etwa verfünffacht (1994: 3,585 Mrd. Euro, 2004: 17,927 Mrd. Euro, pro Kopf: 1994: 980 Euro, 2004: 5218 Euro). Gemessen am EU-Durchschnitt findet sich das südlichste der drei baltischen Länder damit im unteren Mittelfeld (BPI in Kaufkraftstandards: EU-25 = 100, EU-15 = 109, Litauen = 46, Lettland = 41, Estland = 49, D = 108) [2, 9, 34]. Die Gesundheitsausgaben, die von 1994 bis 1999 doppelt so schnell wuchsen wie das Bruttoinlandsprodukt [18], machten im Jahr 2003 mit knapp 1 Mrd. Euro 5,23% des BIP aus (zum Vergleich: Deutschland 11,3%) [9, 33, 34].

Die privaten Ausgaben sind allein zwischen 1998 und 2002 um ein Drittel angestiegen [20], sodass die Litauer für ihre Gesundheit gemessen am Einkommensniveau recht tief in die Tasche greifen müssen, zum einen für die teuren neuen Arzneimittel, zum anderen nach wie vor auch für inoffizielle Zahlungen an das Gesundheitspersonal [23, 37].

Allgemeine Gesundheitslage

Im Hinblick auf den allgemeinen Gesundheitsstatus sind die Schwachpunkte ähnlich wie bei den baltischen Nachbarn. Die Haupttodesursachen kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs prägen zwar europaweit das Bild, aber auch hier ist wie im benachbarten Lettland die Rate an Todesfällen durch Verletzungen und Vergiftungen unverhältnismäßig hoch. Bedenklich sind daneben die hohe Tuberkulose-Inzidenzrate und die Zahl der Alkoholtoten (sieben Mal bzw. drei Mal so hoch wie der EU-Durchschnitt).

Die Lebenserwartung liegt mit 72 Jahren recht deutlich unter dem EU-15-Durchschnitt, wobei der Unterschied zwischen Männern (66 Jahre) und Frauen (78 Jahre) beträchtlich ist [41].

Geschichte des Gesundheitswesens

Die rechtliche Basis für das heutige litauische Gesundheitssystem wurde zwischen 1995 und 1997 geschaffen (Tab. 1). Seitdem gibt es ein gesetzliches Krankenversicherungssystem, in das annähernd die gesamte Bevölkerung eingebunden ist. Es wird von einem staatlichen Patienten Fond (State Patient Fund, SPF) sowie von fünf regionalen Patienten Fonds (RPF) in Vilnius, Kaunas, Panevezys, Siauliai and Klaipeda verwaltet [37].

Das jährlich festgelegte Budget des Fonds wird gespeist aus dem staatlichen Sozialbudget, dem Staatshaushalt, sowie aus Beiträgen der Versicherten [13, 24]. Unter dem Strich wird die Finanzierung der Gesundheitsversorgung zu drei Vierteln durch die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt.

Privatversicherungen sind ebenfalls vorhanden, allerdings noch recht unterentwickelt. Sie bieten derzeit im Wesentlichen einen Auslandsschutz für Litauer oder auch für in Litauen lebende Ausländer an [10, 13, 17, 19].

Krankenhäuser immer noch staatlich

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung umfassen therapeutische und präventive Maßnahmen im Rahmen der primären, sekundären und tertiären Versorgung, Rehabilitation, Krankenpflege und sonstige mit der Krankheit assoziierte Sozialleistungen. Sie sind fast vollständig zuzahlungsfrei. Mehrfache Versuche, Zuzahlungen einzuführen, scheiterten immer wieder aus sachlichen und politischen Gründen [13, 37].

Das Netzwerk der primären Gesundheitsversorgung besteht aus 1600 staatlichen (Gesundheitszentren, Allgemeinarztpraxen, ambulante Kliniken und Polikliniken) sowie 1285 privaten Institutionen. Es wird "traditionell" von den städtischen Verwaltungen koordiniert. Die sekundäre Versorgung liegt in den Händen der Bezirksregierungen [20].

Die meisten Einrichtungen zur medizinischen Versorgung arbeiten ohne Gewinnerzielungsabsicht. Bislang ist keines der Krankenhäuser und Polikliniken privatisiert [13, 37]. Private Einrichtungen finden sich im Wesentlichen in den Bereichen zahnmedizinische Versorgung, kosmetische Chirurgie, Psychotherapie und Gynäkologie [41].

Litauer haben Vertrauen in das Gesundheitssystem

Die Einrichtungen der primären Versorgung haben sich schon recht gut mit der ihr zugewiesenen "gate-keeping-Funktion" arrangiert. So sank der Anteil der direkten Facharztkontakte seit 1996 innerhalb von zwei Jahren von 70% auf 20% [41]. Allgemeinmedizinische Praxen (2003: 22) spielen hierbei allerdings noch eine untergeordnete Rolle [20], auch wenn sich nach einer Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2004 rund die Hälfte der Patienten eine gute Kommunikation mit einem Allgemeinarzt als erste Anlaufstelle wünschen. Immerhin haben mittlerweile etwa 40% der Bürger grundsätzlich Vertrauen in die Funktionalität des Gesundheitssystems [14].

Qualitätssicherung wird groß geschrieben

Die Einrichtungen zur Gesundheitsversorgung werden von einer staatlichen Agentur akkreditiert. Im Rahmen eines speziellen Programms sollen sie von 2004 ab bis zum Jahr 2010 sukzessive von einem Qualitätssicherungssystem überzogen werden. Erste Regelungen hierzu wurden bereits im Jahr 1999 erlassen und in der Folge konsequent weiterentwickelt [12]. Für die Einhaltung der Qualitätskriterien sorgt eine spezielle Überwachungseinheit im Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsministeriums [13, 25].

Arzneimittelausgaben steigen rasant

Noch liegt der Pro-Kopf-Verbrauch an Arzneimitteln in allen baltischen Länden vier bis fünf Mal niedriger als im EU-Durchschnitt [5], im Jahr 2004 bei 96 Euro nach Einzelhandelspreisen [36], aber die Zuwachsraten gehen steil nach oben. Seit 1995 haben sich die privaten Ausgaben für Arzneimittel verdreifacht [1, 41]. Im Jahr 2003 stieg der Anteil der Arzneimittelausgaben an den gesamten Gesundheitsausgaben bis auf 30% an [10]. Nun wird massiv gegengesteuert, mit dem Ziel, für 2004 zu einer ausgeglicheneren Bilanz zu kommen [1].

Die Gründe für diese rasante Entwicklung sind offenkundig: In den zehn Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde das litauische Sortiment an Arzneimitteln aus Sowjet-Provenienz annähernd komplett durch Produkte aus West- und Mitteleuropa ersetzt, was mit einer deutlichen Anhebung des Preisniveaus verbunden war [13]. Neu eingeführte Arzneimittel werden in der Regel auf EU-Preisniveau vermarktet. Für den Normalbürger sind sie daher so gut wie unerschwinglich [5].

Erstattung nach Positivliste

Die geltenden Erstattungsregelungen für Arzneimittel stammen aus dem Jahr 2003. Erstattet werden lediglich verordnete Arzneimittel nach Maßgabe einer Positivliste (derzeit rund 1500 Arzneimittel mit etwa 320 Wirkstoffen), die den jeweiligen Basispreis als Festbetrag und den jeweiligen Erstattungssatz ausweist. Die Basispreise werden mit den Pharmaunternehmen ausgehandelt. Sie orientieren sich am niedrigsten EU-Referenzpreis plus 5%. Für den Erstattungsumfang spielt die pharmakoökonomische Bewertung eine wichtige Rolle. Seit 2003 wird hierzu in den drei baltischen Ländern eine gemeinsame Leitlinie angewendet [5].

Die degressive Handelsspanne schwankt für den Großhandel derzeit zwischen 14 und 3,5% und für die Apotheken zwischen 20 und 5% [1, 39].

Die Kasse zahlt 50 bis 100%

Die Positivliste ist in zwei Teillisten gegliedert:

  • Liste A (Krankheitsliste) enthält derzeit 105 Krankheiten, zu deren Behandlung die jeweils aufgeführten Wirkstoffe (INN) zu 100, 90, 80 oder 50% erstattet werden.
  • Liste B umfasst 77 Wirkstoffe (INN), die je nach sozialer Gruppe zu 100% oder 50% des Festbetrages erstattet werden [1, 19, 39]. Auch für den Fall, dass der Preis des Arzneimittels innerhalb des Festbetrags liegt und zu 100% erstattet wird, müssen die Patienten einen geringen Anteil selbst bezahlen.

Die Liste wird einmal im Jahr veröffentlicht und mehrmals aktualisiert.

Freie Preisbildung bei den Nichterstattungsfähigen

Im Juli 2004 wurde die INN-Verordnung eingeführt, nachdem die Substitution ohne Rücksprache beim Arzt lange Jahre nicht erlaubt war. Bei besonders teuren Arzneimitteln können die Krankenversicherungen selbst Kontingente erwerben, die dann jedoch nicht über die öffentlichen Apotheken, sondern über Krankenhäuser abgegeben werden. Nicht erstattet werden OTC-Arzneimittel, Phytopharmaka sowie Produkte im Grenzgebiet zum Lebensmittel. Für sie sind sowohl der Herstellerabgabepreis als auch die Handelsspannen frei [2, 39].

Vorbereitung auf den EU-Beitritt

Konsequent hat die Abteilung für Pharmazie im Gesundheitsministerium in den letzten Jahren daran gearbeitet, alle Einrichtungen des Arzneimittelverkehrs auf den EU-Beitritt vorzubereiten (Tab. 2) – wie in den anderen kleineren Beitrittsländern eine Mammutaufgabe für die personell meist dünn, häufig dafür aber umso kompetenter und motivierter besetzte Gesundheitsadministration. Die Vorschriften über die Zulassung sowie weitere Ausführungsbestimmungen über die Gestaltung der Arzneimittelbezeichnung, der Kennzeichnung und Packungsbeilage, die Werbung für Arzneimittel sowie die Überprüfung der Übereinstimmung der Marktbeteiligten mit den GMP- und GCP-Regeln sowie mit den Vorgaben zur Guten Vertriebspraxis sind so weit erforderlich an europäisches Recht angeglichen.

AM-Zulassung und Überwachung

Die Zuständigkeit für die Erteilung von Erlaubnissen und die betriebliche Überwachung pharmazeutischer Einrichtungen (Pharmaunternehmen, Großhandel, Apotheken usw.) liegt bei der litauischen Arzneimittelagentur (VVKT). Sie regelt darüber hinaus die Arzneimittelzulassung und Marktüberwachung, d. h. die Kontrolle der Arzneimittelqualität, präklinischer und klinischer Prüfungen, der Arzneimittelsicherheit und der Werbung. Für die Gesundheitsberufe stellt die Agentur Informationen über Arzneimittel in einer eigenen Datenbank bereit (Lotus Notes Data Base).

Nach dem Jahresbericht 2003 der Agentur wurden dort in dem betreffenden Jahr 622 Apotheken, 794 Apothekenfilialen, 86 Krankenhausapotheken, sechs "charity"-Apotheken, 92 Großhändler und 28 Arzneimittelhersteller geführt [32].

Struktur des Pharmamarktes

Aufgrund der relativ kleinen Territorien und der niedrigen Bevölkerungszahlen gehören die baltischen nicht gerade zu den attraktivsten Märkten in den östlichen Beitrittsländern. Vielmehr rangieren Litauen (236 Mio. Euro, 3%), Lettland (95 Mio. Euro, 1,2%) und Estland (84 Mio. Euro, 1,1%) verständlicherweise eher am unteren Ende der Skala in Osteuropa. Zum Vergleich: der deutsche Markt wird in derselben Statistik mit rund 20 Mrd. Euro (7,7% weltweit) beziffert. Alle drei Märkte sind durch einen starken generischen Wettbewerb gekennzeichnet. [6, 15]. Im Jahr 2004 wuchs der litauische Arzneimittelmarkt aber immerhin um 14% auf 276 Mio. Euro nach Apothekenabgabepreisen [36].

Neben den OTC-Arzneimitteln und einem Phytopharmaka-Segment, das von vier einheimischen Herstellern bedient wird, hat sich eine Kategorie von Nahrungsergänzungsmitteln mit reglementierten Indikationen etabliert. Alle Arzneimittel wie auch die genannten Nahrungsergänzungen sind apothekenpflichtig. E-commerce und Versandhandel mit Arzneimitteln sind nicht erlaubt [2, 4].

Probleme haben die Litauer mit illegal, häufig aus Weißrussland, eingeschleusten Produkten mit häufig mangelhafter Qualität.

Pharmaunternehmen

Die 28 litauischen Pharmaunternehmen bestanden teilweise schon zu Sowjet-Zeiten. Mit den neuen rechtlichen Voraussetzungen im europäischen Binnenmarkt tun sich viele Hersteller naturgemäß noch schwer [35]. So mussten seit dem EU-Beitritt zahlreiche Betriebserlaubnisse wegen Nicht-Einhaltung der GMP-Vorschriften zurückgezogen werden. Aus Kostengründen fehlt es an der Schulung des Personals. Zu den größeren Unternehmen, die den Sprung bereits geschafft haben, gehören die Firmen Sanitas und Liuks, die beide in der zweitgrößten Stadt Litauens Kaunas angesiedelt sind.

Vorzeigesektor Biotechnologie

Ein vielversprechender Industriesektor Litauens ist die Biotechnologie (in 2001 Umsatz von 15 Mio. Euro, davon 80% durch Exporte). Die drei Marktführer Fermentas, Sicor Biotech und Biocentras haben durchaus globale Bedeutung. Fermentas ist mit insgesamt 300 Produkten international der führende Produzent molekularbiologischer Produkte. Aus seiner Forschung und Entwicklung stammt die weltweit größte Sammlung von Restriktionsendonukleasen. Das ursprünglich ebenfalls litauischen Unternehmen Sicor Biotech (Biotechna), das heute einem US-amerikanischen Firmenverbund angehört, brachte die biologischen Wirkstoffe Reaferon (rekombinantes humanes Interferon alfa-2) und Somategen-L (rekombinantes humanes Wachstumshormon) hervor.

Für den respektablen Standard dieses Industriezweigs hat das Litauische Institut für Biotechnologie eine wichtige Rolle gespielt. Seit annähernd 30 Jahren ist die renommierte Institution bereits auf dem Sektor aktiv [38].

Fünf Player im Großhandelsmarkt

Die litauischen Großhandelsunternehmen wurden vornehmlich ab Mitte der 90er-Jahre gegründet. Seit dem EU-Beitritt im Mai 2004 ist eine Zertifizierung nach Good Distribution Practice erforderlich. Heute teilen die fünf Größten – Tamro, JSV Armila, Asotra, LRG Farmacija, das im Jahr 2001 durch den Wettbewerbsdruck aus den Firmen Litagra, Romginta und Globus entstanden ist, und Limedika – fast 80% des Marktes unter sich auf [36].

"Pharmazeutische Spezialisten"

Das litauische Gesetz über pharmazeutische Tätigkeiten definiert den "pharmazeutischen Spezialisten" als Apotheker und Pharmakotechniker. Apotheker werden nur an der Medizinischen Universität in Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes, ausgebildet. Dort führt ein fünfjähriges Studium zum Master-Abschluss. Ergänzt wird die Ausbildung durch ein halbjähriges Pharmaziepraktikum [11]. Das Pharmaziestudium ist sehr beliebt. Rund 450 Studenten befinden sich regelmäßig in der Apothekerausbildung, davon sind nicht einmal ein Drittel Männer. Pharmakotechniker lernen drei Jahre am Medical and Social Sciences Study Center des Kaunas College.

Approbation muss alle fünf Jahre verlängert werden

Die staatliche Lizenz für die Berufsausübung (Approbation) war in Litauen nicht von jeher eine Selbstverständlichkeit. Wer keine hatte, konnte in der öffentlichen Apotheke allerdings nur unter der Aufsicht eines Apothekers oder ansonsten in der Industrie arbeiten. Seit einiger Zeit werden die Lizenzierungen sukzessive nachgeholt, und die "pharmazeutischen Spezialisten" werden in einem landesweiten Register erfasst. Am 1. Februar 2004 wurden dort 2167 approbierte Apotheker sowie 1137 lizenzierte Pharmakotechniker geführt.

Die staatliche Berufserlaubnis muss für Apotheker alle fünf und für Pharmakotechniker alle drei Jahre verlängert werden. Voraussetzung hierfür ist der regelmäßige Besuch umfangreicher Qualifikationskurse, die von der Medizinischen Universität Kaunas in den fünf größten Städten Litauens veranstaltet werden.

Einrichtung einer Apothekerkammer geplant

Die litauischen Pharmazeuten sind derzeit in acht Apotheker- und Pharmaorganisationen organisiert. Die einflussreichste ist die Society of Lithuanian pharmacists, die bereits im Jahr 1922 gegründet wurde [28]. Die Organisationen sind sich in vielen Fragen uneins, ein "unglücklicher" Zustand, wie der Pharmapolitikwissenschaftler Marius Neliupsis der Autorin dieses Beitrags mitteilte, weil dies die gemeinsame politische Interessenvertretung doch sehr erschwert. Nun soll recht bald ein Gesetz über die Einrichtung einer Apothekerkammer kommen und für eine gemeinsame Linie sorgen.

Filialapotheken decken Versorgungslücken

Während der Sowjetzeit lag die stärkste Betonung in der Pharmazie auf der Wissenschaft. Die staatlichen Apotheken hatten beträchtliche Ausmaße, schon allein wegen der Lagerkapazitäten, die aufgrund der geringen Belieferungsfrequenzen erforderlich waren. Die seinerzeit noch recht bedeutsame Eigenherstellung ist heute auf ein Minimum geschrumpft. Viele Apotheken stellen gar nicht mehr selbst her [21].

Es gibt keine Niederlassungsfreiheit. In den letzten Jahren wurde ein System von Filialapotheken aufgebaut, um auch schwächer besiedelte Gebiete zu erfassen. Jede der rund 1400 litauischen Apotheken versorgt rund 2300 Einwohner [2]. Seit 2002 ist der Fremdbesitz zulässig, eine Liberalisierung, die den Markt rasch und von Grund auf umgekrempelt hat, denn nur drei Jahre später waren bereits 55% der Apotheken Ketten angeschlossen [36].

Euro vaistine dominiert den Apothekenmarkt

Die Kette Eurofarmacijos vaistines (vaistine = Apotheke) mit 220 Apotheken, davon allein 37 in der Hauptstadt Vilnius, gehört zur VP-Gruppe, dem größten baltischen Einzelhandelsbetreiber mit den Supermarktketten Minima, Media und Maxima. Seit sieben Jahren ist die Gruppe im Apothekermarkt aktiv. Jeder Apotheke sind ein Optikerladen und ein umfangreicher Kosmetikbereich angegliedert. Euro vaistine kann mit erstaunlichen jährlichen Wachstumsraten von rund 50% aufwarten [8, 40]. Bei den baltischen Nachbarn hat man bereits Fuß gefasst, nun will das Unternehmen darüber hinaus nach Rumänien und Tschechien expandieren. Die zweitgrößte litauische Apothekenkette ist Camelia (Mauda) mit mehr als 90 Mitgliedern. Camelia verzeichnet seit dem Jahr 2000 regelmäßig jährliche Umsatzzuwächse von über 80% [7].

Ketten produzieren weitere Ketten

Der Marktdominanz von Euro vaistine und Camelia konnte der skandinavische Großhandelsriese Tamro, ebenfalls ein wichtiger Player in Estland und Lettland, nicht untätig zusehen. Im Jahr 2004 übernahm das seit einiger Zeit zur Phoenix-Gruppe gehörige Unternehmen zunächst die litauische Apothekenketten Farmacijos Projektai mit insgesamt 46 Mitgliedern und verleibte sich im Februar 2005 dann noch die Kette Vogne mit weiteren 13 Apotheken ein [8, 40]. Ein relativer Newcomer ist Farma, eine Kette mit isländischem Kapital [27].

Um dem Druck der übermächtigen "fremdgesteuerten" Ketten standzuhalten, schloss sich eine Reihe unabhängiger Apotheken im Mai 2003 unter der Bezeichnung Baltijos vaistiniu in einer Kooperation mit gemeinsamen Einkaufs-und Marketingprogrammen zusammen. Rund 320 Mitglieder hat Baltijos vaistiniu in der Zwischenzeit nach eigenen Angaben. Eine Kette trägt übrigens die Bezeichnung Vokieciu vaistine (Deutsche Apotheke).

Individuelle Beratung in der staatlichen Apotheke

In einem solchen Markt sind die wenigen noch verbliebenen staatlichen Apotheken fast Kleinodien. Die Universitätsapotheke in Vilnius ist eine solche. Hier arbeiten 20 Angestellte, davon vierzehn Apotheker und Apothekerassistenten. Seit langem hat sich die Apotheke auf die Herstellung von Dermatika spezialisiert. Aus allen Gegenden Litauens kommen die Frauen, um dort eine spezielle Hautpflegecreme zu kaufen.

Die Kunden, die vorwiegend aus der unmittelbaren Umgebung stammen, legen viel Wert auf eine qualifizierte Beratung, ein "Luxus", den man sich laut Auskunft der leitenden Apothekerin in einer staatlichen Apotheke noch leisten kann. In den Kettenapotheken ist die Kundenbindung bei weitem nicht so gut. Konsequente Verkaufsstrategien und ein harter Preiskampf, verbunden mit einem immensen Druck auf den Mitarbeitern prägen dort das Alltagsgeschäft. Ohnehin ist es für die litauischen Apotheker nicht einfach, zu einer gesunden Existenzgrundlage zu kommen. Der Großhandel will fristgerecht bezahlt werden, und die Erstattung der abgebenden Arzneimittel lässt oft lange auf sich warten [21].

Pharmazeutische Betreuung noch in den Kinderschuhen

Ansätze zur Implementierung der pharmazeutischen Betreuung sind in litauischen Apotheken zwar hier und da vorhanden, jedoch noch recht unterentwickelt, unter anderem deswegen, weil die hierfür erforderlichen elektronischen Informationssysteme, etwa zur Erstellung von Patientenmedikationsberichten fehlen [30, 31]. Immerhin haben 60% der Apotheken einen Internetanschluss. Die für die Beratung notwendigen Informationen werden vorwiegend aus einer speziellen Apothekensoftware gezogen, wobei die Hälfte aller öffentlichen Apotheken mit dem System Sakitos kompiuteriu servisas PIS (SKS Vaistai) arbeitet [22].

Kaum Kommunikation mit den Ärzten

Der soziale Status der Apotheker ist zwar laut Auskunft der litauischen Kollegen niedriger als der der Ärzteschaft, aber bei den Patienten stehen die Pharmazeuten dafür umso höher im Kurs. Wie in den baltischen Nachbarstaaten sind sie bei Gesundheitsproblemen jedweder Art meist die ersten Ansprechpartner. Der Dialog mit den Ärzten könnte jedoch besser sein. Meinungsverschiedenheiten oder Unklarheiten auf dem Rezept wird gerne aus dem Weg gegangen, indem die Patienten zum Arzt zurückgeschickt werden, damit sie die offene Frage dort selbst klären.

Die baltischen Staaten im Vergleich

Alle drei baltischen Staaten sind zum selben Zeitpunkt aus der Sowjetunion ausgetreten. Innerhalb weniger Jahre ist es ihnen gelungen, aus einer zentralistischen Organisation des Gesundheitswesens heraus nicht nur eigenständige, funktionierende Krankenversicherungssysteme auf die Beine zu stellen, sondern auch den Kraftakt EU-Beitritt zu bewältigen. Insofern gleichen sich die Bilder (siehe vorherige Länderportraits).

Im Apothekenbereich scheinen Estland, Lettland und Litauen jedoch unterschiedliche Wege einschlagen zu wollen. Während die Letten in Bezug auf den Fremdbesitz bereits zurückrudern, ist in Litauen – wie übrigens auch in Estland – bereits die Hälfte aller Apotheken in Fremdbesitz und damit auch "verkettet", wobei die Geschäftspraktiken häufig von branchenfremden Marktriesen vorgegeben werden. Das meist noch junge und ambitionierte Apothekenpersonal muss lernen, mit den geringen Freiräumen, die damit verbunden sind, umzugehen. Nach persönlichen Auskünften und Eindrücken, die die Autorin dieses Beitrags vor Ort gesammelt hat, ist der Druck groß. Gleichzeitig wachsen nämlich die Ansprüche der Patienten auf eine vernünftige Beratung und pharmazeutische Betreuung. Ob und wie die litauischen Apotheker beides in Zukunft miteinander in Einklang bringen können, darf gespannt abgewartet werden.

Seit Mitte der 90er-Jahre hat die ehemalige Sowjetrepublik Litauen die relevanten gesetzlichen Grundlagen für ihr heutiges Gesundheitssystem geschaffen. Konsequent hat sich das Land durch Reformen auf den EU-Beitritt vorbereitet, auch im Gesundheitswesen. Heute ist der Apothekenmarkt fast vollständig privatisiert, aber zum größten Teil in der Hand von Apothekenketten.

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