Prävention

Doris Uhl: Grippeimpfung wirkungslos?

Jede Impfkampagne muss sich am Erreichen der vorgegebenen Ziele messen lassen. Das gilt auch für die Grippeschutzimpfung. Sie soll Influenzaerkrankungen verhindern oder ihren Verlauf mildern, was sich beispielsweise in weniger Krankenhauseinweisungen, weniger Todesfällen und Antibiotika-Verordnungen niederschlagen soll. Während Befürworter diesen Nachweis für erbracht halten, kritisieren Gegner den Mangel an aussagekräftigen evidenzbasierten Studien und stellen die Wirksamkeit generell in Frage. Neuen Auftrieb hat die Diskussion durch eine Veröffentlichung der Impfstoffabteilung der Cochrane Collaboration erhalten.

Die Cochrane Collaboration ist ein weltweites Netz von Wissenschaftlern, das sich zur Aufgabe gestellt hat, systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung von Therapien zu erstellen. Die Sektion Impfen wird von Tom Jefferson geleitet, der Ende Oktober im British Medical Journal unter dem Titel "Influenza vaccination: policy versus evidence" Studien zu Grippeimpfungen analysiert hat [BMJ 333; 912-915 (2006)].

Vernichtendes Urteil Jefferson wollte wissen, ob dem enormen Aufwand für die jährlichen Grippeimpfungen ein entsprechender Nutzen gegenüber steht und kommt zu einem vernichtenden Urteil:

Entweder waren die Studien zu klein, qualitativ schlecht oder zeigten keinen eindeutigen Effekt. Die Wirksamkeit der Grippeimpfung sei nicht erwiesen. Insbesondere für die Empfehlung zur Grippeimpfung von über 65-Jährigen und von Kindern unter zwei Jahren fehlen nach Jefferson Daten zur Evidenz. Er verweist auf methodische Mängel und widersprüchliche Ergebnisse, die vielen der von ihm gesichteten Studien anhaften, so zum Beispiel eine Metaanalyse von Studien mit gegen Influenza geimpften älteren Patienten:

Einen Schutz vor einer Influenza oder influenzaähnlichen Erkrankungen konnte die Impfung den alten Menschen nicht bieten, aber sie reduzierte in beträchtlichem Ausmaß die Gesamtsterblichkeit. Das könne nicht sein, so Jefferson. Es sei unmöglich, dass ein Influenzaimpfstoff, der nicht gegen Influenza schütze, Influenzakomplikationen verhindern kann. Eine Erklärung für dieses Ergebnis könnte in der Zusammensetzung der Studienpopulation liegen, beispielsweise dann, wenn die geimpfte Gruppe gesünder und mobiler als die ungeimpfte Kontrollgruppe war. Jefferson kritisiert weiter, dass bei älteren Menschen trotz eines Datenpools von mehreren Millionen Beobachtungen, nur fünf randomisierte Studien mit insgesamt 2963 Fällen Aussagen zur Sicherheit vornehmen. Zwar sieht auch Jefferson keine Anhaltspunkte dafür, dass von der jährlichen Grippeimpfung Gefahren ausgehen, doch überrascht ihn der Mangel an gesichertem Wissen dazu.

PEI: Hoch immunogene Impfstoffe Die von Jefferson gezogenen Schlussfolgerungen werden von vielen Experten nicht geteilt. Der Fachgebietsleiter Virus–impfstoffe am Paul Ehrlich Institut (PEI), Dr. Michael Pfleiderer, verweist darauf, dass es sich bei allen in Deutschland zugelassenen Influenzavakzinen um Impfstoffe handele, die auf der Basis der von der STIKO empfohlenen jährlichen Wiederimpfung ausreichend immunogen seien, um protektive Titer Virus-neutralisierender (Haemagglutinin-inhibierender HI) Antikörper zu induzieren. Serumtiter, die in einer Verdünnung von 1: 40 nachweisbar sind, seien zumindest für gesunde Erwachsene ein anerkanntes Korrelat für Protektion. Die ausreichende Immunogenität aller in Deutschland zugelassenen Influenzaimpfstoffe werde deshalb jedes Jahr in zwei klinischen Studien mit je 50 Probanden im Altersbereich über und unter 60 Jahre überprüft. Unter diesen Voraussetzungen biete die Grippeimpfung gesunden Erwachsenen einen 70 bis 90%igen Schutz. Dieser sei zwar bei älteren Menschen geringer, doch wirkungslos sei die Grippeimpfung keinesfalls. Wie wirksam eine Grippeimpfung auf individueller Basis tatsächlich sei, hänge aber von vielen Faktoren ab, insbesondere auch immer von einer ausreichend hohen Grundimmunität, auf der die saisonale Impfung aufbauen kann, und natürlich von der Übereinstimmung des Impfstoffs mit den tatsächlich zirkulierenden Virenstämmen.

Der von Jefferson geforderte Wirksamkeitsnachweis mittels großer randomisierter und Placebo-kontrollierter klinischer Studien in allen Alters- und Risikogruppen ist nach Meinung Pfleiderers – insbesondere im Rahmen der jährlich neuen Zusammensetzung der Impfstoffe – schwer durchführbar und vor allem bei älteren Menschen und anderen Risikogruppen ethisch kaum vertretbar, da den Kontrollgruppen solcher Studien die bestmögliche Medikation vorenthalten wird.

RKI: Wirksamkeit belegt Susanne Glasmacher, Pressesprecherin des Robert Koch-Instituts (RKI), betont, dass die Impfempfehlungen der STIKO einerseits durch die erhebliche Krankheitslast gerechtfertigt seien, die durch Grippeerkrankungen verursacht werden, andererseits durch die Verfügbarkeit eines Impfstoffes, dessen Wirksamkeit in einer Vielzahl von Studien gezeigt werden konnte.

Sie verweist auf eine zusammenfassende Studie zum Schutz der Influenzaimpfung bei der älteren Bevölkerung (Ann Intern Med; 1995), in der eine Verringerung grippebedingter Lungenentzündungen von 53% und eine Verringerung grippebedingter tödlicher Verläufe von 68% verzeichnet worden sind. Jefferson betone den Stellenwert randomisierter kontrollierter Studien über. Gerade bei der Frage nach der Wirksamkeit der Influenzaimpfung in der Anwendung seien große Beobachtungsstudien wie Kohortenstudien adäquate Instrumente. Das Einbeziehen derartiger Studien hätte die Menge verlässlicher Studien erheblich erweitert und sicherlich zu einer optimistischeren Einschätzung der Wirksamkeit der Influenzschutzimpfung geführt.

Doris Uhl

"Grippeimpfung wirkungslos", so titelte die Welt in ihrer Ausgabe vom 8. November und stellte insbesondere die Wirksamkeit der Grippeschutzimpfung von Älteren und Kleinkindern in Frage. Hintergrund ist eine soeben erschienene Analyse der Cochrane Collaboration. Jede Impfkampagne muss sich am Erreichen der vorgegebenen Ziele messen lassen. Das gilt auch für die Grippeschutzimpfung. Während Befürworter diesen Nachweis für erbracht halten, kritisieren Gegner den Mangel an evidenzbasierten Studien und stellen die Wirksamkeit generell in Frage. Vertreter des Paul Ehrlich-Instituts, des Robert Koch-Instituts und mehrere Virologen haben die Analyse der Cochrane Collaboration unter die Lupe genommen.

Versorgungsengpässe bei Grippeimpfstoffen?
Inzwischen ist die komplette für Deutschland vorgesehene Impfstoffproduktion in einer Größenordnung von 23 bis 24 Millionen Impfdosen vom Paul Ehrlich-Institut freigegeben worden. Die Impfstoffe sind je nach Hersteller inzwischen vollständig ausgeliefert worden oder werden in den nächsten Wochen zur Verfügung gestellt. Apotheken, die vorbestellt haben, werden zuerst beliefert (s. Tabelle unten).

Trotzdem kann nicht von einem Engpass gesprochen werden. Der Fachgebietsleiter Virusimpfstoffe am Paul Ehrlich-Institut, Dr. Michael Pfleiderer weist darauf hin, dass mit der freigegebenen Menge alle Personen geimpft werden konnten und können, die zu den vom Robert Koch-Institut definierten Risikogruppen zählen. Das sind vor allem:

  • Personen über 60 Jahre
  • Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens – wie chronische Krankheiten der Atmungsorgane (inklusive Asthma und COPD), chronische Herz-, Kreislauf-, Leber- und Nierenkrankheiten, Diabetes und andere Stoffwechselkrankheiten, multiple Sklerose mit durch Infektionen getriggerten Schüben, Personen mit angeborenen oder erworbenen Immun–defekten mit T- und/oder B-zellulärer Restfunktion, HIV-Infektion – sowie Bewohner von Alters- oder Pflegeheimen
  • Personen mit erhöhter Gefährdung, z. B. medizinisches Personal, Personen in Einrichtungen mit umfangreichem Publikumsverkehr sowie Personen, die als mögliche Infektionsquelle für von ihnen betreute ungeimpfte Risikopersonen fungieren können

Falsch zitiert!
"Neue Belege: Grippeimpfung wirkungslos"

... so titelte die "Welt" in ihrer Ausgabe vom 8. November und reagierte damit auf die Analyse von Tom Jefferson im British Medical Journal. In dem nachfolgenden Bericht werden auch Aussagen deutscher Wissenschaftler angeführt, die den Eindruck entstehen lassen, dass die jährliche Impfung gegen Influenza überflüssig sei und nur den kommerziellen Interessen der Impfstoffhersteller nütze. Unter anderem werden der Marburger Virologe Prof. Hans-Dieter Klenk und Priv.-Doz. Dr. Hans-Hermann Dubben von der Universität Hamburg-Eppendorf zitiert.

Grippeimpfung nie in Frage gestellt...


Im Gespräch mit der DAZ betonten beide, dass sie die Grippeimpfung als solche nie in Frage gestellt hätten. Klenk sieht seine Aussagen in falschem Zusammenhang wiedergegeben, Dubben hatte der für den Artikel verantwortlichen Journalistin ausdrücklich gesagt, dass er sich zum Thema Studien bei Impfungen nicht äußern könne. Er hatte im Gespräch darauf verwiesen, dass für gesicherte Aussagen über den Nutzen eines Mammographie-Screenings eine Studiengröße von mindestens 100.000 Frauen notwendig wäre, dass diese Daten aber nicht unbedingt auf Grippeimpfungen übertragbar seien.

Kreuzimmunität möglich


Als ein Argument gegen den Nutzen einer Impfung wird von der Autorin des Artikels in der Welt angeführt, dass es im letzten Jahr nicht zu einer außergewöhnlichen Influenzawelle gekommen ist, obwohl die im Impfcocktail enthaltenen Viren nicht mit den auslösenden Viren übereingestimmt haben. Hierzu erklären Prof. Dr. Nikolaus Müller-Jantzsch und Dr. Anke Litwicki vom Institut für Virologie des Universitätsklinikums des Saarlandes, dass die Influenzasaison 05/06 insgesamt eine geringere Aktivität als die vorangegangene gezeigt habe. Zudem könne für diese Saison auch von einer gewissen Kreuzimmunität ausgegangen werden. Impfstoffe könnten Kreuzimmunitäten hervorrufen, wenn die Isolate antigene Ähnlichkeit aufweisen.

Stellungnahme zur Publikation "Influenza vaccination: policy versus evidence"
"Nicht wirklich neu!"

Fast jedes Jahr zu Beginn der Influenzaimpfsaison kommt immer einmal wieder die Frage nach dem Sinn und der Effektivität der Grippeimpfung bezogen auf die durch sie verursachten Kosten auf.

In seinem Artikel "Influenza vaccination: policy versus evidence", einem Vergleich systematischer Reviews, in dem der Autor sich häufig selbst zitiert, stellt Tom Jefferson die Schutzimpfung generell in Frage. Er begründet dies vor allem mit der schlechten Qualität einiger Studien.

Die Elemente, die in diesem Artikel erwähnt werden, sind nicht wirklich neu. Es ist durchaus bekannt, dass sich immer schon Influenzawellen mit hoher und schwächerer Aktivität über die Jahre hinweg abgewechselt haben und auch abwechseln werden. Ebenso wie die Tatsache, dass es Jahre gibt, in denen die Komponenten des trivalenten Impfstoffes mal besser, mal weniger gut mit denen in der entsprechenden Saison zirkulierenden Viren übereinstimmen.

Dass Daten, die aus unterschiedlichen Jahren stammen, somit nicht sauber miteinander verglichen werden können, liegt auf der Hand.

Antigenshift und Antigen–drift liegen in der Natur von Influenzaviren. Antigendrift ist ein Problem, dem wir uns jedes Jahr aufs Neue gegenüber gestellt sehen. Und aus diesem Grund wird alljährlich versucht, den aktuellen Impfstoff bestmöglich auf die zirkulierenden Wildviren abzustimmen.

Dass diese Immunisierung keinen 100%igen Schutz bieten kann, ist ebenfalls bekannt. Man geht bei Erwachsenen von einer etwa 60- bis 80%igen und bei Personen, die älter als 65 Jahre sind, immerhin noch von einer 50%igen Schutzwirkung aus. Die Grippeimpfung bietet auch keinen Schutz vor grippeähnlichen Erkrankungen, deren Verwechslung mit einer Influenzainfektion der Autor zusätzlich anprangert. Dies wird jedoch nur bei medizinischen Laien der Fall sein.

Dr. Anke Litwicki, Prof. Dr. Nikolaus Müller-Lantzsch, Universitätsklinikum des Saarlandes, Institute für Infektionsmedizin, Institut für Virologie, Haus 47, 66421 Homburg

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