Arzneimittel und Therapie

Orale Antidiabetika: Physiologische Insulinausschüttung mit Gliptinen

Nicht alles, was Pathogenese und Pathophysiologie des Typ-2-Diabetes angeht, spielt sich an der Bauchspeicheldrüse ab. Auch Darmhormone, die so genannten Inkretine, spielen eine wesentliche Rolle im Zuckerstoffwechsel. Hemmstoffe, die das Hormon abbauende Enzym Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP-4) inhibieren, eröffnen neue Perspektiven in der Therapie des Typ-2-Diabetes. Als erster Vertreter dieser Substanzklasse ist jetzt Sitagliptin (Januvia®) in den USA zugelassen worden. Für Europa wird die Zulassung für das kommende Jahr erwartet.

Beim gesunden Menschen ist der Insulinanstieg nach einer oralen Glucosebelastung – ähnlich wie nach Mahlzeiten – etwa doppelt so hoch wie nach einer artifiziell herbeigeführten intravenösen Glucosebelastung. Diese Differenz wird als Inkretineffekt bezeichnet. Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn dieser Effekt ausbleibt. Dann nämlich ist die Insulinsekretion nur noch halb so hoch wie normal. Und in der Folge ist die Kontrolle des postprandialen Glucoseanstiegs deutlich eingeschränkt. Genau das ist bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zu beobachten. Sie weisen sehr viel schwächere Insulinanstiege nach Mahlzeiten auf und eine deutlich schlechtere Glucosekontrolle. Ein nicht unwesentlicher Anteil dieses Unterschieds zum Stoffwechselgesunden scheint somit auf das Konto eines gestörten Inkretinhaushalts zu gehen.

Zwei Inkretinhormone: GIP und GLP-1 Grundsätzlich gibt es zwei Varianten der Inkretinhormone. Zum einen ist es das Glucose-dependent insulinotropic Polypeptide (GIP). Es wird im Duodenum beziehungsweise im oberen Jejunum von den so genannten K-Zellen gebildet. Das bedeutet, dass der Speisebrei, der nach der Entleerung des Magens in den oberen Dünndarm tritt, sofort mit diesen Zellen in Kontakt kommt. Infolgedessen wird das Hormon sehr rasch ausgeschüttet. Dadurch wird die Insulinsekretion stimuliert – und zwar so lange, wie die Zuckerkonzentration hoch ist, wie es nach Mahlzeiten typischerweise der Fall ist. Das zweite Inkretinhormon, das Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1) stammt aus dem unteren Dünndarm und Dickdarm, also aus Bereichen, in die der Speisebrei eigentlich gar nicht mehr hinkommt. Es kann nicht nur die Insulinsekretion stimulieren, es supprimiert darüber hinaus auch das Glukagon, verlangsamt die Magenentleerung und vermindert den Appetit. Im Tierversuch hat sich herausgestellt, dass mit GLP-1 die Beta-Zell-Masse ansteigt. Dies ist auf Neogenese wie auch auf eine verbesserte Regeneration von Inselzellen zurückzuführen.

GLP-1 kann schnelle Insulinantwort wiederherstellen Bei Typ-2-Diabetikern sind die Beta-Zellen bereits in einem frühen Stadium der Stoffwechselstörung in ihrer Leistungsfähigkeit derart eingeschränkt, dass sie nicht mehr so schnelle Antworten liefern können. Der erste Insulin-peak nach Mahlzeiten ist reduziert oder bleibt gänzlich aus. Postprandiale Glucosespitzen sind die Folge. Anscheinend sprechen die Beta-Zellen aber auch auf verschiedene Sekretagoga inklusive der Inkretine schlechter an. Das bedeutet, dass möglicherweise ein und dieselbe Ursache, nämlich der Funktionsverlust der Beta-Zellen, beide Phänomene zugleich erklärt: den ausbleibenden Insulin-peak und die mangelhafte Inkretinwirkung.

Auf der anderen Seite haben experimentelle Untersuchungen aber auch gezeigt, dass die Infusion von Inkretinen in pharmakologischer Dosis durchaus imstande ist, die erste Phase der Insulinsekretion wieder zu aktivieren. Dies geschieht bei Patienten, die ihre Fähigkeit zu einer schnellen Insulinausschüttung nach Glucosebelastung verloren haben, innerhalb weniger Stunden nach Gabe von GLP-1. Diese Patienten reagieren dann wieder sehr schnell auf Änderungen der Glucosekonzentration.

DPP-4-Inhibitoren hemmen den Abbau von GLP-1 Ein neuer Behandlungsansatz besteht in der Hemmung des Abbaus des GLP-1. Die Gabe von DPP-4-Hemmstoffen führt zu erhöhten Plasmaspiegeln. Diese sind etwa verdoppelt bis verdreifacht – aber nur während der Zeit nach Mahlzeiten, in der GLP-1 typischerweise sezerniert wird. Damit wird rein von der Menge her gesehen ein physiologischer Zustand wie beim Stoffwechselgesunden wiederhergestellt. Die auf dem Blutweg zum Pankreas transportierten GLP-1-Mengen reichen aber wohl nicht aus, um die klinischen Effekte der DPP-4-Hemmstoffe vollständig zu erklären. Zusätzlich spielt sehr wahrscheinlich eine Interaktion mit dem Nervensystem, zwischen GLP-1 und Vagus-Endigungen im unteren Dünndarm, eine große Rolle.

DPP-4-Inhibitoren sind insulinotrope Substanzen, die ein wesentlich physiologischeres Wirkprofil haben als die Sulfonylharnstoffe. Da es mit diesem Wirkprinzip gelingt, die Sezernierung von Insulin aus den Inselzellen glucoseabhängig zu stimulieren, sind Unterzuckerungen prinzipiell nicht zu befürchten. Der Blutzucker-senkende Effekt jedoch ist dem von Sulfonylharnstoffen vergleichbar. Darüber hinaus könnte der fortschreitende Verlust der Betazell-Funktion über die schonende, physiologische Stimulierung gestoppt werden. Die Glucoseabhängigkeit der Insulinausschüttung scheint auch der Grund dafür zu sein, dass unter Therapie mit Sitagliptin keine Gewichtszunahme festgestellt werden muss, wie sie ansonsten unter Sulfonylharnstoffen regelmäßig zu beobachten ist.

Blutzuckersenkung wie mit Sulfonylharnstoffen ... Nach Phase-III-Studiendaten für Sitagliptin konnte die vom Wirkmechanismus her gegebene Potenz auch in der Praxis bestätigt werden. Für eine doppelblinde Vergleichsstudie wurden 1172 Patienten randomisiert, bei denen seit durchschnittlich sechs Jahren ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert und deren Blutzuckerspiegel mit Metformin nur unzureichend eingestellt war. Der mittlere HbA1c-Wert lag zu Studienbeginn bei 7,5%. Die Patienten wurden zusätzlich zur Basistherapie mit Metformin (≥ 1500 mg/d) entweder mit Sitagliptin 100 mg einmal täglich oder mit bis zu 20 mg des Sulfonylharnstoffes Glipizid behandelt.

Nach 52 Wochen Studiendauer zeigte sich in beiden Vergleichsgruppen eine Absenkung des HbA1c-Wertes um durchschnittlich 0,7%. Die Ergebnisse bestätigten andere Studiendaten, nach denen die Blutzuckersenkung im Mittel umso stärker ausfällt, je höher der Ausgangswert liegt. Bei einem HbA1c-Ausgangswert zwischen 9 und 10% wurden in diesen Studien Absenkungen um bis zu 1,7% beobachtet. Unter Sitagliptin und Glipizid erreichten vergleichbar viele Patienten einen HbA1c-Zielwert von < 7% (63% unter Sitagliptin, 59% unter Glipizid).

... aber ohne Gewichtszunahme und Hypoglykämien Deutliche Vorteile zeigte die Behandlung mit Sitagliptin hinsichtlich der Häufigkeit von Hypoglykämien und der Entwicklung des Körpergewichts. Unter Sitagliptin trat im Beobachtungszeitraum nur bei 4,9% der Patienten mindestens ein hypoglykämischer Vorfall auf, unter Glipizid dagegen bei 32% der Patienten (p < 0,001). Aus anderen Studien ist bekannt, dass das Risiko für eine Hypoglykämie unter Sitagliptin auf Placeboniveau liegt. Hinsichtlich des Körpergewichts unterschieden sich die beiden Vergleichsgruppen nach 52 Wochen Therapiedauer um 2,5 kg (p < 0,001). Unter Sitagliptin nahmen die Patienten im Durchschnitt 1,3 kg ab, während es unter Glipizid zu einer mittleren Gewichtszunahme um 1,2 kg kam.

Martin Wiehl, freier Medizinjournalist

Inkretine spielen eine wesentliche Rolle im Zuckerstoffwechsel. Hemmstoffe, die das Hormon abbauende Enzym Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP-4) inhibieren, eröffnen völlig neue Perspektiven in der Therapie des Typ-2-Diabetes. Als erster Vertreter dieser Substanzklasse ist jetzt Sitagliptin (Januvia®) in den USA zugelassen worden.

Zum Weiterlesen

DPP-4-Inhibitoren. Sitagliptin und Vildagliptin zur Behandlung des Typ-2-Diabetes. Arzneimittel in der Pipeline 2006, Nr. 3, S. 1-3. www.deutsche-apotheker-zeitung.de

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