Endokrinologie

U. RohrDie Bedeutung des Estrogen-Rezeptors beta

Seit einer Publikation von Pike et al. 1983 in "Nature" wird davon ausgegangen, dass 17β-Estradiol und seine Metaboliten die Entwicklung von hormonabhängigen Tumoren begünstigen können [1]. Für Kliniker und Endokrinologen ist diese Vorstellung jedoch keineswegs schlüssig, da Estrogene zwar die Proliferation hormonabhängiger Gewebe anregen. Hormonabhängige Tumoren der Brust werden aber erst im Alter (postmenopausal) deutlich gehäuft diagnostiziert, scheinen also in einem Lebensabschnitt der Frauen klinisch manifest zu werden, in dem die Konzentration des Estrogens massiv gesunken ist. Mit der Entdeckung eines zweiten Estrogen-Rezeptors, der stark entzündungshemmend ist und sogar Krebs unterdrücken kann, lassen sich diese Widersprüche erklären.

Der bisherigen Vorstellung widersprach auch die Tatsache, dass die Frauen in der Schwangerschaft, in der sie die höchsten Estradiol-Konzentrationen aufweisen, vor Krebs geschützt zu sein scheinen [2].

Die Widersprüche können seit 1995 durch die Entdeckung des zweiten Estrogen-Rezeptors, des Estrogen-Rezeptors beta (ER-β), der sich hinter dem ersten Estrogen-Rezeptor quasi verborgen hatte, erklärt werden [3]. Denn dieser zweite Estrogen-Rezeptor unterscheidet sich vom bis dahin bekannten Estrogen-Rezeptor alpha (heute: ER-α) strukturell wie insbesondere auch funktionell (Abb. 1) [4]. Die beiden ER-Typen sind in den hormonabhängigen Geweben unterschiedlich verteilt. In Leber und Gebärmutter überwiegt der ER-α, in Knochen, Darm, Gefäßwänden sowie Prostata der ER-β, wohingegen z. B. in Mammae, Ovarien und Gehirn beide Rezeptoren in etwa gleichgewichtig vertreten sind.

Prophylaxe chronischer Erkrankungen Nach den bisher vorliegenden Ergebnissen aus Untersuchungen an Tieren bzw. auch aus wenigen Untersuchungen am Menschen werden über den ER-β zum einen antientzündliche Effekte [5], zum anderen aber auch antiproliferative Wirkungen [6] vermittelt. Diese Erkenntnisse tragen nicht nur zur Auflösung der bislang bestehenden Widersprüche bei, sondern eröffnen in großer Breite auch zahlreiche Möglichkeiten hinsichtlich der Prävention von Alterserkrankungen bzw. der Therapie bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis, Arteriosklerose oder Colitis ulcerosa. Nicht von ungefähr sind denn auch über zehn synthetische Substanzen, so genannte Estrogen-Rezeptor-beta-Agonisten, in präklinischer wie auch bereits in klinischer Entwicklung. Ein Konsensus der verschiedenen gynäkologischen wissenschaftlichen Organisationen hat die Bedeutung des Estrogen-Rezeptors beta nun kürzlich zur Alters–prophylaxe anerkannt [7]. Pflanzliche ER-β-Agonisten wie die Isoflavone aus Soja und Rotklee scheinen bei der Vorbeugung chronischer Erkrankungen des Alters und beim Schutz vor metastasierenden Tumoren eine große Rolle zu spielen.

ER-β vermittelt Schutz vor hormonabhängigen Tumoren Dass ein Mangel an Estrogenen Tumore auslösen kann, wurde bereits vom italienischen Arzt Bernardino Ramazzini im 17. Jahrhundert vermutet, dem auffiel, dass Nonnen im Kloster häufiger Brustkrebs hatten. Dies wird heute damit in Verbindung gebracht, dass Nonnen keine Kinder bekommen und damit keine hohen Estrogen-Plasma-Spiegel ausbilden. Bereits im Jahre 2003 war sich die Arbeitsgruppe um Gustafsson sicher, dass der Estrogen-Rezeptor beta den ER-α kontrolliert. Der Estrogen-Rezeptor alpha vermittelt Proliferation und Wachstum und begünstigt damit auch die Entwicklung von hormonabhängigen Tumoren, während der Estrogen-Rezeptor beta die Zelldifferenzierung begünstigt und damit einen Schutz vor Tumoren bietet [8]. Nach Gustafsson scheinen die beiden Estrogen-Rezeptoren in einer Art "Ying-Yang-Beziehung" zueinander zu stehen.

Die zelldifferenzierenden und wachstumsstimulierenden Effekte, die die Estrogene – überwiegend durch den Estrogen-Rezeptor alpha vermittelt – auf die hormonabhängigen Zellsysteme haben, scheinen durch Wirkungen, die über den ER-β ablaufen, abgeschwächt zu werden. Das heißt: Der über den ER-α induzierte Proliferationsdruck auf die hormonabhängigen Zellsysteme kann über den ER-β gemindert werden.

Seit dieser Entdeckung scheint es erlaubt, die Entwicklung hormonabhängiger Tumoren im Hinblick auf den Einfluss der Estrogene wie folgt zu beschreiben: Das relative Risiko für die Entwicklung hormonabhängiger Tumoren (Mamma-, Endometrium-, Prostata- und Lungentumoren, Morbus Hodgkin) ist immer dann erhöht, wenn längerfristig ein relativer Mangel an Estradiol besteht, weil dann zwar noch der Proliferation-vermittelnde Estrogen-Rezeptor alpha ausreichend aktiviert wird, nicht aber mehr der antiproliferativ wirksame und damit vor Krebs schützende ER-β [6]. ER-α und ER-β agieren nicht unabhängig voneinander, sondern der ER-β blockiert bei ausreichender Konzentration den proliferationsfördernden ER-α [8]. Auf genetischer Ebene konnte dies an menopausalen Frauen nachgewiesen werden. Ebenso konnte gezeigt werden, dass erbliche vor Tumoren schützende Gen-Veränderungen durch Soja-Isoflavone, selbst in Kombination mit Estrogenen, ausgelöst werden (Abb. 2).

Warum entwickeln Kinder keine Hyperplasien? Es bleibt jedoch eine Erklärungslücke: Warum entwickeln vorpubertäre Mädchen und Knaben – trotz gegebener, aber eben relativ niedriger Estradiol-Spiegel – keine Endometrium- bzw. Prostatahyperplasien [9, 10]? Die aus Testosteron über Dihydrotestosteron (DHT) gebildete Substanz 3β-Adiol ist ein starker ER-β-Agonist, der eine sehr starke antiproliferative Wirkung in Prostatazellen hat und besonders die Metastasenbildung unterdrückt. Wie sich in einer Untersuchung in Deutschland bei 400 Mädchen und Jungen gezeigt hat, steigt 3β-Adiol – bei Mädchen wie Jungen – bereits im Alter von zwei bis acht Jahren massiv an, das heißt deutlich vor der Pubertät bzw. deutlich vor dem Anstieg der Estrogene [11]. Die Bedeutung von 3β-Adiol liegt auch beim Menschen darin, mit hoher Affinität den ER-β zu besetzen, diesen zu aktivieren und die Expression weiterer β-Estrogen-Rezeptoren zu bewirken [10]. Es kann der Schluss gezogen werden, dass vorpubertäre Mädchen und Jungen durch hohe Konzentrationen von körpereigenen ER-β-Agonisten vor dem Estrogen-Mangel geschützt sind.

Estrogen-Rezeptor beta vorwiegend in der Prostata Dass der ER-β in der Prostata der wesentliche Estrogen-Rezeptor ist und dessen Aktivierung antiproliferative Schutzwirkungen zur Folge hat, konnte mittlerweile in einer Reihe von Studien belegt werden [12, 13]. Es stellt sich daher die Frage, wie effektiv die heutige Behandlung von Männern mit Prostatakarzinomen ist, bei denen mittels GnRH-Agonisten bzw. 5α-Reduktase-Hemmern die Bildung von Testosteron gesenkt bzw. die Umwandlung von Testo–steron in 5α-Dihydrotestosteron gedrosselt wird. Dies führt dazu, dass diese Männer durch das Fehlen von Testosteron und des Metaboliten 5α-Dihydrotesto–steron nicht mehr in der Lage sind, das antiproliferative 3β-Adiol zu bilden und so der schützende ER-β in der Prostata auch nicht mehr aktiviert werden kann (Abb. 3). In einer großen Studie mit Männern, die prophylaktisch einen 5α-Reduktase-Hemmer (Finasterid) anwandten, konnte denn zwar die Häufigkeit von Prostatakrebs reduziert werden, die (Androgen-unabhängigen) Tumoren, die dennoch auftraten, waren jedoch bei der Diagnosestellung weiter fortgeschritten und sprachen auf die Behandlung nicht mehr an.

Weiterer körpereigener ER-β-Agonist: DHEA Das als "Anti-Aging Hormon" bekannte "Lifestyle Hormon" Dehydroepiandrosteron (DHEA) kommt in hohen Konzentrationen im Fötus bei der Geburt sowie im Alter von etwa 30 Jahren beim Mann und bei der Frau vor [14]. Die Abnahme dieses Hormons korreliert mit dem Sinken der Testosteron-, Dihydrotestosteron- und Estradiolspiegel in peripheren Geweben [15]. Eine DHEA-Substitution bei postmenopausalen Frauen erhöht die Knochendichte. Dieser Effekt wird normalerweise mit den Metaboliten Testosteron und Estradiol in Verbindung gebracht. DHEA bindet an beide Estrogen-Rezeptoren. In physiologischen Konzentrationen wirkt es am ER-β als Agonist, während DHEA am ER-α als Ant–agonist wirkt [16]. Obwohl die ER-β-Affinität von DHEA einige Zehnerpotenzen niedriger liegt, als die von Estradiol, ist die agonistische Wirkung am ER-β etwa gleich groß, da DHEA in viel höheren Konzen–trationen als Estradiol vorkommt. DHEA hat zudem eine stark antientzündliche Wirkung, die bei Lupus erythematodes [17] oder Arthritis [18] genutzt werden kann.

Pflanzliche Estrogen-Rezeptor-beta-Agonisten Europäischen Wissenschaftlern fiel in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf, dass Asiaten nicht nur weniger unter Krebserkrankungen leiden, sondern dass auch im Alter weniger chronische Erkrankungen auftraten. Eine Erklärung hierfür könnte in der Ernährung zu finden sein: Im asiatischen Raum sind Soja und Sojaprodukte ein weitaus umfangreicherer Bestandteil der Nahrung als in Europa. Standen anfangs die Soja-Proteine im Mittelpunkt des Interesses, so liegt jetzt das Augenmerk auf den im Soja enthaltenen Isoflavonen. Die Soja-Isoflavone haben eine hohe Affinität zum Estrogen-Rezeptor beta [22]. Pflanzliche ER-β-Agonisten aus Soja haben sehr starke strukturelle Ähnlichkeiten mit dem körpereignen 3β-Adiol. Sie aktivieren den ER-β und haben eine vor Proliferation schützende Wirkung. Das Isoflavondrivat Genistein reduziert Inflammationsparameter, so dass sich weniger Entzündungen ausbilden [22]. ER-β-Rezeptoren sind besonders im Epithel der Blutkapillaren vorhanden. Beide Estrogen-Rezeptoren haben die Möglichkeit, die NO-Synthetase zu aktivieren, so dass eine vasodilatierende Wirkung eintritt [23]. Eine wichtige praktische Anwendung ergibt sich aus dem durchblutungsfördernden Effekt der Soja-Isoflavone: Bei älteren Menschen treten aufgrund der erniedrigten Hormonspiegel zunehmend arteriosklerotische Veränderungen in den Gefäßen auf, sowie wegen der fehlenden Estradiol-Aktivierung der NO-Synthetase eine Störung der peripheren Durchblutung. Letzteres macht sich durch Schlafstörungen bemerkbar: Die Blutkapillaren können nachts peripher nicht mehr erweitert werden und somit kann die Körpertemperatur nicht sinken. Frauen und Männer können daher zur Schlafförderung 80 bis 100 mg Isoflavone abends einnehmen. Für Soja-Isoflavone ist auch eine positive Wirkung auf die kognitiven Fähigkeiten dokumentiert, wenn die Anwender jünger als 60 Jahre sind [24, 25]. Es wurde berichtet, dass Isoflavone einen moderaten Einfluss haben, menopausale Symptome wie Hitzewallungen und Ängstlichkeit zu unterdrücken.

Synthetische ER-β-Agonisten Zurzeit befinden sich über zehn synthetische Verbindungen in der Entwicklung, die beta-agonistische Aktivitäten zeigen.

Entzündungshemmer Die Substanz ERB041 ist ein potenter ER-β-Agonist mit anti-inflammatorischen Eigenschaften (Tab. 1) [26 ]. Sie war bei Tiermodellen mit Colitis ulcerosa und rheumatoider Arthritis wirksam [5]. Diese Substanz wird gegenwärtig in der klinischen Entwicklungsphase II bei Frauen, die unter Endometriose leiden, getestet.

ER-β und Prostatakarzinom Die Gabe von Estrogenen wurde seit langem als eine effektive hormonelle Therapie angesehen, um disseminierte Prostatakarzinomzellen zu unterdrücken [27]. Dieser Anti-Tumoreffekt wurde jedoch zunächst mit einem zentral vermittelten Abfall von Androgenen erklärt. Jedoch konnte der klinische Erfolg mit dem Estrogen Diethylstilbestrol beim Prostatakarzinom nicht vollständig mit dem Abfall zirkulierender Androgene erklärt werden [28].

Die Firma Eli Lilly entwickelte eine Substanz mit Namen Trioxifen, die sowohl ein ER-β-Agonist als auch ein ER-α-Agonist ist [27]. Diese Substanz unterdrückte in vitro Metastasen von Prostatakarzinomen in Lymphknoten und Lunge und wird zur Zeit in klinischen Studien der Phase II bei Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom eingesetzt.

Haben ER-β-Agonisten Nebenwirkungen? Werden Isoflavone allein durch die Nahrung aufgenommen, so sind sie nur im niedrigen nano-molaren Bereich im Blut nachweisbar: In diesem Konzentrationsbereich ist die Affinität der Isoflavone zum schützenden ER-β 10- bis 100-fach höher als die Affinität zum proliferationsfördernden Estrogenrezeptor alpha. Die These, dass die physiologischen Effekte der Isoflavone in der Klinik über den ER-β ausgeübt werden, scheint heute hinreichend gesichert [22]. Hepatozyten haben keinen Estrogen-Rezeptor beta, was erklärt, warum ER-β-Agonisten wie die Soja-Isoflavone weder die Serum-Lipide verändern noch prothrombotische Effekte provozieren, die ein erhöhtes Risiko für thromboembolische Erkrankungen darstellen [29].

Estrogene können eine Hepatotoxizität verursachen [30], z. B. einen intrahepatischen Gallenstau bei Frauen während der Schwangerschaft [31]. Dies kann nach Einahme von oralen Kontrazeptiva zu spontanen Frühgeburten führen [32]. Ein intrahepatischer Gallenstau kann aber auch durch Hormongabe in der Postmenopause ausgelöst werden [33]. Es konnte gezeigt werden, dass über den ER-α eine Unterdrückung hepatischer Transportvorgänge ausgeübt wird, ja sogar die Biosynthese der Gallenflüssigkeit verändert wird [34]. Für Soja-Isoflavone liegen bisher keine Berichte über eine Hepatotoxizität vor.

Eine Erhöhung der Endometriumdicke der Gebärmutter kann für alle Estrogenrezeptor-β-Agonisten ausgeschlossen werden, da eine Proliferation dieser Gewebe nur durch ER-α-Agonisten erfolgt.

Zusammenfassung

  • Die Entdeckung des Estrogen-Rezeptors beta (ER-β) führte dazu, dass viele klinische Widersprüche aufgelöst werden konnten. Tumoren treten in der ersten Hälfte des Lebens seltener auf, weil körpereigene ER-β-Agonisten Entzündung und Krebs verhindern. In der zweiten Lebenshälfte dagegen werden diese körpereigenen Estrogen-Rezeptor-beta-Agonisten in geringerem Ausmaß gebildet, so dass viele chronische Erkrankungen und Krebs ausbrechen können.
  • Die antientzündlichen und antiproliferativen Eigenschaften pflanzlicher ER-β-Agonisten wie die Soja-Isoflavone können erklären, warum in Asien – wo diese Inhaltsstoffe in wesentlich größeren Mengen mit der Nahrung aufgenommen werden, als in Europa – seltener chronische Erkrankungen des Alters und weniger metastasierende Tumoren im Alter auftreten.
  • Eine Substitution mit pflanzlichen ER-β-Agonisten aus Soja oder Rotklee kann wahrscheinlich zu einem langfristigen Schutz vor Tumoren und chronischen Erkrankungen beitragen. Diese Substanzen könnten prophylaktisch bei Frauen ab 40 Jahren und Männern etwa um die 50 Jahre eingesetzt werden.
  • Wieweit sich synthetische ER-β-Agonisten durchsetzen werden, muss abgewartet werden. Diese dürften vorwiegend zur Behandlung chronischer Erkrankungen eingesetzt werden.

Bisher wurde davon ausgegangen, dass 17β--Estradiol und seine Metaboliten die Entwicklung von hormonabhängigen Tumoren begünstigen können. Diese Vorstellung ist jedoch keineswegs schlüssig, da Estrogene zwar die Proliferation hormonabhängiger Gewebe anregen. Diese hormonabhängigen Tumoren der Brust werden bei Frauen aber erst postmenopausal gehäuft diagnostiziert, in einem Lebensabschnitt, in dem die Konzentration des Estrogens massiv gesunken ist. Mit der Entdeckung eines zweiten Estrogen-Rezeptors können diese Widersprüche erklärt werden.

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