Arzneimittel und Therapie

Adhäsionsmolekül-Inhibitor: Natalizumab zur Behandlung der multiplen Sklerose

Der neue monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®) kommt für die krankheitsmodifizierende Monotherapie bei schubförmig remittierend verlaufender multipler Sklerose (MS) zur Prävention von Schüben und zur Verlangsamung der Behinderungsprogression auf den Markt. Wegen der Gefahr von zwar sehr seltenen, aber lebensbedrohlichen Nebenwirkungen wird Natalizumab bei uns zunächst nur bei schweren Verläufen und bei Patienten, bei denen eine Therapie mit Interferon beta nicht anschlägt, eingesetzt.

Tysabri® 300 mg wird nach dem Verdünnen einmal alle vier Wochen als intravenöse Infusion über etwa eine Stunde verabreicht.

Der Wirkstoff Natalizumab soll Entzündungsreaktionen verhindern, indem er an Adhäsionsmoleküle auf der Oberfläche von Leukozyten bindet und deren Anheftung an das Endothel der Blutgefäße und nachfolgend deren Einwanderung in das entzündete Gewebe hemmt.

Kommunikation zwischen Immunzellen gestört Natalizumab ist die humanisierte Form eines murinen monoklonalen Antikörpers, der an ein Adhäsionsmolekül auf Lymphozyten und Monozyten bindet und dadurch die Kommunikation zwischen den Immunzellen stört. Natalizumab bindet an ein spezifisches Adhäsionsmolekül auf der Oberfläche der Immunzellen, das Alpha-4-Integrin. Wahrscheinlich hindert Natalizumab durch diese Adhäsion Immunzellen daran, die Blutgefäße zu verlassen und in entzündete Gewebe zu wandern.

Hemmung von Adhäsionsmolekülen Adäsionsmoleküle werden in Selektine, Integrine und die Immunglobulin-Superfamilie (ICAM) unterteilt. Selektine vermitteln den ersten Kontakt zwischen dem weißen Blutkörperchen und dem Endothel. Dann rollen die Leukozyten langsam an der Wand der Blutgefäße entlang und heften sich über Integrine auf den Endothelzellen fest an das Gefäßendothel an. Der Durchtritt in das Gewebe wird vor allem über die interzellulären ICAM-Adhäsionsmoleküle ermöglicht.

Bei der MS passieren aktivierte T-Lymphozyten die Blut-Hirn-Schranke und führen im Gehirn zu pathologischen Entzündungsreaktionen. Damit die aktivierten Leukozyten in das Gehirn einwandern können, müssen die Adhäsionsmoleküle auf ihren Zellwänden mit Rezeptoren auf den Endothelzellen der Gefäßwand interagieren. Wenn diese Interaktion durch Natalizumab verhindert wird, können die Leukozyten nicht mehr ins Gehirn gelangen. Die pathologische Entzündung im Gehirn nimmt ab und die Bildung von MS-Läsionen im Gehirn wird eingeschränkt.

Natalizumab bindet spezifisch an die Alpha-4-beta-1-Untereinheit von humanen Integrinen. Diese werden in hohem Maße auf der Oberfläche aller Leukozyten exprimiert, mit Ausnahme der Neutrophilen. Natalizumab schiebt sich zwischen die Rezeptoren von Lymphozyten und den Endothelzellen der Blutgefäße und behindert die Interaktion der Alpha-4-Integrine mit ihren Liganden VCAM und MadCAM auf Endothelzellen.

Gute Schubreduktion Die klinischen Daten für Natalizumab erschienen zunächst viel versprechend: Bei einer einmal monatlichen Infusion konnte der Wirkstoff MS-Schübe im Vergleich zu Placebo wirksam reduzieren.

In einer Phase-II-Studie mit 213 Patienten konnten die Anzahl neuer Läsionen und die Schubfrequenz deutlich gesenkt werden. In der AFFIRM-Studie wurden 575 Patienten alle vier Wochen mit 300 mg Natalizumab behandelt, 281 erhielten ein Placebo. In der Verum-Gruppe hatten nach zwei Jahren 67% keinen weiteren Schub erlitten, in der Placebo-Gruppe waren dies 41%. In der SENTINEL-Studie wurden 1171 Patienten wöchentlich mit 30 µg Interferon alfa 1a behandelt. Davon erhielten 589 Teilnehmer zusätzlich 300 mg Natalizumab und 582 zusätzlich ein Placebo. In der Kombinationsgruppe erlitten 54% keinen weiteren Schub, in der Placebo-Gruppe waren dies 32%.

Schwere Erkrankungen Natalizumab wurde in den USA im November 2004 zur Behandlung der multiplen Sklerose zugelassen. In Deutschland kam Natalizumab nicht auf den Markt, Patienten nahmen jedoch an klinischen Studien teil.

Dann folgte die große Ernüchterung: Drei Patienten erkrankten unter der Therapie mit Natalizumab schwer an einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie (PML), zwei davon starben. Die PML ist eine sehr seltene Folgeerkrankung einer Hirninfektion mit dem so genannten JC-Virus, einem humanen Polyoma-Virus. Sie trat bisher nur bei Aids-Patienten oder bei Organtransplantierten unter massiver Immunsuppression auf, da der Erreger normalerweise vom Immunsystem zuverlässig eliminiert wird.

Die progressive multifokale Leukoenzephalopathie trat in einer Gruppe von Studienpatienten auf, die zusätzlich mit Interferon beta 1a (Avonex®) behandelt wurden. Zusätzlich kam es unter der Natalizumab-Therapie zu einem weiteren Todesfall im Rahmen einer Morbus-Crohn-Studie. Bei allen drei Todesfällen war eine Kombinationstherapie vorausgegangen, wodurch das Immunsystem zweifach supprimiert wurde. Derzeit sind keine Todesfälle bei Patienten bekannt, die ausschließlich mit Natalizumab behandelt wurden. Das Risiko einer PML wird auf etwa 1:1000 innerhalb von 18 Monaten Natalizumab-Therapie beziffert.

In den klinischen Studien bei MS-Patienten kam es auch zu einem einzelnen Fall einer unkompliziert verlaufenden, durch Cryptosporidium ausgelösten Durchfallerkrankung. In anderen klinischen Studien traten weitere opportunistische Infektionen auf, von denen einige tödlich verliefen. Am Anfang der Markteinführung kam es zu einem tödlich verlaufenden Fall von Herpes-Enzephalitis.

Gefahr von opportunistischen Infektionen Im Februar 2005 wurde Natalizumab in den USA wieder vom Markt genommen. Unklar ist bisher, ob es sich bei den Erkrankten um Einzelfälle handelte oder um häufiger zu befürch–tende Komplikationen, die durch den Wirkungsmechanismus bedingt sind. Der Antikörper Natalizumab blockiert Oberflächen-Rezeptoren auf T-Zellen (Integrine) und ver–hindert dadurch, dass die T-Zellen in das Gehirn gelangen. Möglicherweise sind die Nebenwirkungen eine direkte Folge der Wirkung von Natalizumab auf das Immunsystem an Stellen, die für die Abwehr von Infektionen entscheidend sind.

Bis jetzt gab es bei mehr als 3000 Patienten keinen weiteren Fall einer opportunistischen Infektion oder PML-Erkrankung. In zweijährigen kontrollierten klinischen Studien bei MS-Patienten lag die Infektionsrate sowohl in der Gruppe der mit Natalizumab als auch in der Gruppe der mit Placebo behandelten Patienten bei ungefähr 1,5 pro Patientenjahr. Die Art der Infektionen war im Allgemeinen in der Natalizumab- und in der Placebo-Gruppe ähnlich. Die Rate an schwerwiegenden Infektionen wird von der Herstellerfirma als gering eingestuft. Leichtere Infektionen wie Harnwegsinfektionen traten unter der Therapie mit Natalizumab häufiger auf als unter der Placebo-Therapie. Weitere unerwünschte Wirkungen sind Kopfschmerzen, Depressionen, Fatigue sowie Schmerzen an den Extremitäten und Gelenken. Außerdem kann es zu Überempfindlichkeitsreaktionen kommen.

Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen Natalizumab wurde in den USA unter erhöhten Sicherheitsmaßnahmen wieder eingeführt. In Deutschland wurde die Indikation eingeschränkt. Zum einen dürfen nur Patienten behandelt werden, die nicht auf Beta-Interferone ansprechen, sowie Patienten mit einem sehr schweren Krankheitsverlauf (mindestens zwei Schübe mit fortschreitender Behinderung pro Jahr). Für diese Patienten wird der Nutzen höher eingeschätzt als das Risiko, vor allem, wenn sie engmaschig überwacht werden. Die Patienten müssen regelmäßig auf eine JC-Virus-Infektion hin kontrolliert werden.

Patienten mit einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen wie immungeschwächte Patienten, auch solche Patienten, die aktuell eine immunsuppressive Behandlung erhalten oder durch frühere Therapien, zum Beispiel mit Mito–xantron oder Cyclophosphamid, immungeschwächt sind, dürfen Natalizumab nicht erhalten.

Als weitere Vorsichtsmaßnahme darf Natalizumab nur zur Monotherapie eingesetzt werden. Die PML-Fälle sind bei Patienten aufgetreten, die neben Natalizumab auch das Interferon-Präparat Avonex® erhalten hatten. Außerdem dürfen Patienten mit einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie sowie Patienten mit einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen Natalizumab nicht erhalten.

Persistierende Antikörper beeinträchtigen Wirksamkeit In zweijährigen kontrollierten klinischen Studien bei MS-Patienten bildeten sich bei 10% der Patienten Antikörper gegen Natalizumab. Persistierende Natalizumab-Antikörper bildeten sich bei ca. 6% der Patienten. Einmalig auftretende Antikörper wurden bei weiteren 4% der Patienten gefunden. Bei persistierenden Antikörpern ging auch die Wirksamkeit von Natalizumab zurück, und es kam häufiger zu Überempfindlichkeitsreaktionen. Weitere infusionsbedingte Reaktionen im Zusammenhang mit persistierenden Antikörpern waren Rigor, Übelkeit, Erbrechen und Hitzewallung ("Flushing").

Wegen der möglicherweise herabgesetzten Wirksamkeit oder einer erhöhten Inzidenz für Überempfindlichkeitsreaktionen oder infusionsbedingter Nebenwirkungen sollte die Behandlung bei Patienten, die persistierende Antikörper entwickeln, beendet werden.

Patienten sollten gut informiert sein Für Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose gibt es mit den Beta-Interferonen und Glatirameracetat bereits wirksame Mittel, welche die Schubrate um mindestens 30% verringern und deren Wirkungen und Nebenwirkungen seit mehreren Jahren gut untersucht sind. Natalizumab verspricht zwar möglicherweise eine bessere Wirkung, aber die wird mit bisher seltenen, aber potenziell tödlichen Nebenwirkungen erkauft.

Patienten, die Natalizumab anwenden, sollten gut informiert werden, bevor sie sich für diese – aus heutiger Sicht – risikoreichere Therapie entscheiden. Bei schweren Verläufen mag es vertretbar erscheinen, dass sich ein Patient diesem Risiko aussetzt. Bei weniger schwer Erkrankten, die mit Beta-Interferonen und Glatirameracetat gut eingestellt sind, hat Natalizumab jedoch (noch) nichts zu suchen.

Schade für die Herstellerfirma, denn gerade das ist die Mehrzahl der Patienten, welche die teuren Arzneimittel gegen multiple Sklerose dauerhaft einsetzen. Andererseits ist es erfreulich, dass jetzt eine weitere Klasse von Arzneimitteln zur Behandlung der MS etabliert wird. Vielleicht wird es ja Nachfolgepräparate geben, die besser verträglich sind. he

Der neue monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®) kommt für die krankheitsmodifizierende Monotherapie bei schubförmig remittierend verlaufender multipler Sklerose zur Prävention von Schüben und zur Verlangsamung der Behinderungsprogression auf den Markt. Wegen der Gefahr von zwar sehr seltenen, aber lebensbedrohlichen Nebenwirkungen wird Natalizumab bei uns zunächst nur bei schweren Verläufen eingesetzt.

Markteinführung mit Hindernissen

2004: Zulassung von Tysabri® zur Behandlung der multiplen Sklerose (MS) in Amerika.

2005: Beendigung von Studien der Phase III zur Wirksamkeit von Tysabri® als Einzeltherapie (AFFIRM-Studie) und in Kombination mit Avonex® (Interferon beta 1a) (SENTINEL-Studie).

März 2005: Die Herstellerfirmen Elan und Biogen nehmen Natalizumab vom Markt. Der Grund sind zwei Fälle von progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie während einer dreijährigen Kombinationstherapie mit Interferon beta 1a (SENTINEL-Studie).

September 2005: Nach Abschluss der Sicherheitsuntersuchung, in die rund 90% der 2000 Patienten aus klinischen Studien mit Tysabri® eingeschlossen wurden und in der kein weiterer neuer Fall der dramatischen Nebenwirkung gefunden wurde, reichen die Firmen Biogen und Elan Natalizumab zur erneuten Zulassung ein.

Februar 2006: Die FDA erlaubt wieder klinische Tests. Voraussetzung: Die Patienten müssen vorher sorgfältig auf eine Infektion mit dem JC-Virus oder der PML-Erkrankung hin untersucht werden. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme ist der Verzicht auf eine Kombinationstherapie mit Avonex®.

Juli 2006: Zulassung durch die europäische Arzneimittelbehörde und die US-amerikanische FDA zur Behandlung der schubförmig-remittierenden MS. In Europa soll Tysabri® nur bei besonders schwer verlaufender schubförmiger MS eingesetzt werden, wenn andere First-line-Therapien wie Interferon beta oder Glatirameracetat nicht erfolgreich sind. In den USA kann Tysabri® auch bei normal verlaufender schubförmiger MS zur Ersttherapie eingesetzt werden.

Steckbrief: Natalizumab

Handelsname:

Tysabri

Hersteller:

Biogen Idec GmbH, Ismaning

Einführungsdatum:

1. August 2006

Zusammensetzung:

Ein Milliliter Konzentrat enthält 20 mg Natalizumab. Nach der Verdünnung enthält die Infusionslösung etwa 2,6 mg/ml Natalizumab.

Sonstige Bestandteile:

Natriumdihydrogenphosphat (Monohydrat), Dinatriumhydrogenphosphat (Heptahydrat), Natriumchlorid Polysorbat 80 (E433), Wasser für Injektionszwecke.

Packungsgrößen, Preise und PZN:

1 Stück, 2263,98 Euro, PZN 4971976.

Stoffklasse:

Immunmodulatoren; selektives Immunsuppressivum. ATC-Code: L04AA23.

Indikation:

Natalizumab ist für die krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver, schubförmig remittierend verlaufender multipler Sklerose (MS) bei folgenden Patientengruppen indiziert: Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit einem Interferon beta oder Patienten mit rasch fortschreitender schubförmig-remittierender MS.

Dosierung:

300 mg nach dem Verdünnen einmal alle vier Wochen als intravenöse Infusion über etwa eine Stunde.

Gegenanzeigen:

Progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML); Patienten mit einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen wie immungeschwächte Patienten; Kombination mit einem Beta-Interferon oder Glatirameracetat; aktive Malignome mit Ausnahme von Patienten mit einem Basaliom; Kinder und Jugendliche.

Nebenwirkungen:

Häufig: Harn–wegsinfektionen, Nasopharyngitis; Urtikaria; Kopfschmerzen, Schwindel; Erbrechen, Übelkeit; Arthralgie; Rigor, Fieber, Abgeschlagenheit (Fatigue). Gelegentlich: Überempfindlichkeit.

Wechselwirkungen:

Die begleitende Gabe von Immunsuppressiva und antineoplastischen Therapien wie Mitoxantron, Cyclophosphamid oder Azathioprin neben Natalizumab kann das Risiko für Infektionen, auch für opportunistische Infektionen, erhöhen und stellt daher eine Gegenanzeige dar. Glucocorticoide können kurzzeitig zusammen mit Natalizumab verabreicht werden.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen:

Die Patienten müssen in regelmäßigen Abständen auf sämtliche neu auftretende oder sich verschlechternde neurologische Anzeichen oder Symptome hin kontrolliert werden, die auf eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) hindeuten. Wenn ein mit Natalizumab behandelter Patient eine opportunistische Infektion entwickelt, muss die Gabe dauerhaft abgesetzt werden. Bei den ersten Symptomen oder Anzeichen einer Überempfindlichkeitsreaktion muss die Verabreichung von Natalizumab abgebrochen und müssen entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Persistierende Antikörper gehen mit einer erheblich verminderten Wirksamkeit von Natalizumab und einer erhöhten Häufigkeit von Überempfindlichkeitsreaktionen einher. Nach Ende der Behandlung mit Natalizumab ist der Wirkstoff noch im Blut vorhanden und zeigt bis zu etwa zwölf Wochen nach der letztmaligen Gabe noch pharmakodynamische Wirkungen.

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