Vitamine

G. Schwedt Vitamine – ihre Entdeckung als "Lebensstoffe"

In der neuen DAZ-Serie "Vitamine" stellen wir Chemie, Biochemie, Physiologie, Mangelsymptome und Vorkommen der einzelnen Vitamine vor und gehen der Frage nach, inwieweit die Versorgung durch unsere Lebensmittel gewährleistet ist. Der erste Beitrag dieser neuen Serie ist Ų zur Einführung in die Thematik Ų der Geschichte der Vitamine gewidmet: von den ersten Beobachtungen aus Fütterungsversuchen, dem Auftreten von Mangelsymptomen bis zur Isolierung und Synthese der Wirksubstanzen.

In einem in seiner Zeit sehr verbreiteten populärwissenschaftlichen Werk mit dem Titel "Die Chemie im täglichen Leben" von Lassar-Cohn (1. Auflage 1895) ist in der 11. Auflage (1925, neubearbeitet von M. Mechling) über Vitamine zu lesen: "Es schien schon immer ein wenig seltsam, dass die Natur unsere Ernährung auf die einfache Formel Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate und Mineralstoffe eingestellt haben sollte. Als man im Jahre 1881 Mäuse künstlich zu ernähren versuchte mit Kasein, Fett, Milchzucker und Salzen, gingen sie ein, während sie am Leben blieben, wenn man zu der genannten Nahrung wenige Kubikzentimeter frische Milch zusetzte. Daraus schloss man, dass zu den Hauptgruppen der Nahrungsstoffe noch gewisse Ergänzungsstoffe treten müssen, die zur Erhaltung des Lebens unbedingt erforderlich sind. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie bereits in so geringen Mengen ihre Wirkung entfalten, dass sie als Energiespender nicht in Frage kommen können. Man hat sie Vitamine genannt, d. h. zum Leben notwendige, stickstoffhaltige Substanzen. Die Forschungen der letzten Jahre haben ergeben, dass es in der Hauptsache drei verschiedene Vitamine sind, und zwar bezeichnet man sie nach drei Krankheiten, welche ihr Fehlen in der Nahrung verursacht, als antineuritisches, antiskorbutisches und antirachitisches Vitamin."

Erste Tierversuche Mit den Versuchen an Mäusen sind die Experimente des Physiologen und Chemikers Gustav v. Bunge angsprochen, über die der Arzt und Fachschriftsteller Gerhard v. Venzmer in einem Kosmos-Bändchen mit dem Titel "Lebensstoffe unserer Nahrung" 1935 berichtet. G. v. Bunge habe als einer der Ersten in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die damals noch sehr seltsam anmutende Erfahrung gemacht, dass manche Tiere besser gediehen, wenn man sie mit "natürlichen" Nahrungsmittel fütterte, als wenn man ihnen noch so sorgfältig die von den Gelehrten für ausreichend errechneten Nährstoffe verabreicht hätte.

"Im Jahre 1905 unternahm er dann neue, sehr bedeutsame Ernährungsversuche mit Mäusen. Bunge hielt eine Reihe dieser Nager unter einer Nahrung, die ausschließlich aus reinem Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten und Salzgemisch im richtigen Mengenverhältnis bestand – und obgleich er somit den Tieren nach allen anerkannten Ergebnissen der Ernährungswissenschaft an nichts gebrechen konnte, so begannen sie bald zu kränkeln, dann magerten sie zusehens ab, das Fell wurde struppig, die Haare fielen aus, die sonst so blanken Äuglein starrten glanzlos und trübe; und nicht lang, so hatten die Mäuslein ihren letzten Piepser getan."

Diese Ergebnisse gerieten in Vergessenheit bzw. wurden kaum beachtet, obwohl bereits 1909 ein weiterer Forscher, W. Stepp, ähnliche Experimente durchführte. Er extrahierte natürliche Nahrung mit Alkohol und Ether und auch seine Versuchstiere, ebenfalls Mäuse, starben. Stepp zog den Schluss, dass außer den bekannten Grundbestandteilen der Nahrung noch andere Stoffe, die in seinem Versuch durch die Extraktion entfernt worden waren, für die Erhaltung des Lebens, der Lebensvorgänge, notwendig waren.

Ähnliche Tierexperimente unternahmen der amerikanischer Forscher Babcock in der landwirtschaftliche Versuchsstation der Universität Madison (mit Kühen und Fütterungsvergleichen mit Mais und Weizen) sowie der norwegische Forscher Axel Holst an Meerschweinchen mit ebenfalls einseitiger Getreidenahrung. Holst beobachtet Gelenkschwellungen und Zahnfleischblutungen, die er durch die Beimischung von Löwenzahn oder Rüben beseitigen konnte. Die Foschungsergebnisse wurden zwar bekannt, führten jedoch nicht zu bahnbrechenden Erkenntnissen.

Der erste Nobelpreis zur Vitaminforschung Der niederländische Tropenarzt Christiaan Eijkman (1858-1930), Schüler von Robert Koch, erzeugte 1897 in Indonesien mit poliertem Reis die Hühner-Beriberi, die er auf das Fehlen der Reiskleie zurückführen konnte. Die Beri-beri-krankheit (Hindostanisch für Schaf wegen des Symptoms steifen Ganges wie bei Schafen infolge Muskellähmung) forderte auch unter Kindern in den ersten Lebensjahren zahlreiche Opfer in Indien und ganz Ostasien. Das Krankheitsbild war schon 2600 v. Chr. in der chinesischen Medizin beschrieben worden. Eijkman gab damit den Anstoß zur Suche nach lebensnotwendigen Nahrungsstoffen (hier das zunächst Antiberiberifaktor genannte Vitamin B1). Eijkman war 1898 bis 1928 Professor für Hygiene und Gerichtliche Medizin in Utrecht.

Der englische Physiologe Frederick Gowland Hopkins (1861-1947) mischte 1912 in Cambridge den bei einer seiner "vorschriftsmäßigen" reinen Eiweiß-, Fett-, Kohlenhydrate- und Mineralstoffnahrung dahinsiechenden weißen Ratten Milch hinzu, wodurch sie wieder gesund wurden. Er entdeckte die Vitamine A und B in der Milch. Er erkannte, dass in vollwertiger Nahrung "akzessorische Ernährungsfaktoren" (accessory factors) enthalten sein müssten. Für diese Entdeckung erhielt er zusammen mit Eijkman 1929 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Hopkins gilt als führender Biochemiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Der Begriff Vitamin Bereits 1912 entstand die Bezeichnung Vitamin für die akzessorischen Ernährungsfaktoren. Geprägt wurde er von dem polnisch-amerikanischen Forscher Casimir Funk (1884-1967), der bei L. Pasteur in Paris und E.H. Fischer in Berlin gearbeitet hatte. Er stellte die Hypothese auf, dass der Mangel an bestimmten Stoffen die Ursache auch bestimmter Krankheiten sei. Er bezeichnete diese Erkrankungen als Avitaminosen. 1912 prägte er die Bezeichnung Vitamin für die Substanz Thiamin (Vitamin B) – daher auch das "Amin" in Vitamin (vita: Leben); Buchstaben verwendete man, da diese neuen "Lebensstoffe" chemisch zunächst nicht bestimmbar waren. Darüber hinaus erforschte Funk die Bedeutung des Thiamins für den Kohlenhydratstoffwechsel und untersuchte den Einfluss auf das Wachstum von Tieren. Funk arbeitete ab 1915 in den USA (1920 eingebürgert), wirkte ab 1923 als Biochemiker am Hygiene-Institut in Warschau und ab 1939 wieder in den USA (ab 1946 als Mitarbeiter der US Vitamin Corporation).

Isolierungen und Synthesen von Vitaminen Als erstes Vitamin wurde 1926 Vitamin B1 (Thiamin) durch B. C. Jansen und W. F. Donath in kristalliner Form aus Reiskleie gewonnen. 1935 gelang dessen Strukturaufklärung durch R. J. Williams (1893-1988, Prof. für Chemie, Universität Texas, Austin) et al.; die Synthese erfolgte durch Williams 1936.

Vitamin A. 1928 isolierte Hans von Euler-Chelpin (1873-1964, ab 1906 Prof. in Stockholm, ab 1929 Direktor des Instituts für Vitamine und Biochemie, Nobelpreis 1929)) Carotin und wies dessen Vitamin-A-Aktivität nach. Die Konstitution wurde 1931/32 von Paul Karrer (1889-1971, ab 1912 Mitarbeiter von P. Ehrlich, 1919-1959 Prof. in Zürich; Nobelpreis 1937) u.a. ermittelt. Die Totalsynthese des Vitamins A1 gelang erstmalig 1947 durch Otto Isler (Jg. 1910, bis 1975 Direktor bei Hoffmann-La Roche in Basel) u.a., die von Vitamin A2 durch Ewart R. H. Jones (Jg. 1911, Prof. in Manchester und Oxford) 1952.

Vitamin B-Gruppe. Richard Kuhn (1900-1967, ab 1926 Prof. in Zürich, ab 1929 in Heidelberg; 1938 Nobelpreis für Chemie) und Paul György (1893-1976, Prof. für Klin. Pädiatrie in Heidelberg, Cleveland, Philadelphia) isolierten 1933 kristallisierbares Vitamin B2 (Riboflavin) aus Eiern und nannten es Ovoflavin. Karrer et al. isolierte das von ihm Hepatoflavin genannte Vitamin aus tierischen Organen und Pflanzen, das sich als identisch erwies. Die Struktur wurde 1935 von Karrer und Richard Kuhn aufgeklärt.

Die Wirkung der als Vitamin B6 bezeichneten Substanzen Pyridoxal, Pyridoxamin und Pyridoxin entdeckte bei Fütterungsversuchen 1934 P. György (als Avitamnose bei Ratten mit einer Pellagra-ähnlichen Dermatitis an den Extremitäten). 1938 wurde von verschiedenen Arbeitsgruppen das Pyridoxin kristallin erhalten. Die Konstitution konnten R. Kuhn und Karl August Folkers (Jg. 1906, Prof. für Chemie in Stanford) unabhängig voneinander 1939 aufklären. Die beiden anderen Wirkstoffe fand E. E. Snell 1942.

Nachdem die Heilwirkung roher Leber bei perniziöser Anämie 1926 entdeckt worden war (von G. R. Minot, 1885-1950, und W.P. Murphy, 1892-1987 Nobelpreis für Medizin und Physiologie 1934), gelang es erst 1948 Karl August Folkers (Jg. 1906, Direktor der Abt. Grundlagenforschung Fa. Merck, ab 1963 Präsident des Stanford Research Institute in Menlo Park) und E. I. Smith den Wirkstoff (B12-Gruppe, Cyanocobalamin) in roter kristalliner Form zu gewinnen. Arbeitsgruppen von A. E. Todd (Jg. 1907, ab 1944 Prof. in Cambridge, Nobelpreis für Chemie 1957), E. I. Smith und Dorothy M. Crowfoot-Hodgkin (1910-1994, ab 1956 Prof. in Oxford, Nobelpreis für Chemie 1964) gelang es 1955 die Konstitution zu ermitteln (Röntgenstruturanalyse 1956). Die Totalsynthese erforderte elf Jahre und wurde 1971 durch Arbeitsgruppen von A. Eschenmoser (Jg. 1925, Prof. ETH Zürich) und R. B. Woodward (1917-1979, ab 1944 Prof. in Cambridge, Mass., ab 1963 Leiter des von der CIBA finanzierten Woodward Research Institutes in Basel, 1965 Nobelpreis für Chemie) abgeschlossen.

Vitamin C. Der Skorbut war schon im Mittelalter bekannt, ebenso erkannte man im 16./17. Jahrhundert, dass frisches Gemüse und frische Früchte den Ausbruch der Krankheit bei Seefahrern verhinderten. 1927 gelang es Szent-György (s.o.) Vitamin C (L-Ascorbinsäure) aus Kohl, Paprikaschoten und Nebennieren zu isolieren. 1933 gelang die Konstitutionsaufklärung mehreren Arbeitsgruppen gleichzeitig – u.a. von W. N. Haworth (1883-1950, 1925-1948 Prof. in Birmingham, Nobelpreis für Chemie mit Karrer 1937), E. L. Hirst (1898-1975, Prof. in Edinburgh), P. Karrer (1889-1971, Prof. in Zürich) und F. Micheel (1900-1982, Prof. in Münster).

Unter Einsatz einer mikrobiellen Oxidationsreaktion konnten Haworth und T. Reichstein (1897-1996, 1938-1967 Prof. in Zürich, 1950 Nobelpreis für Medizin und Physiologie) die Ascorbinsäure bereits im gleichen Jahr synthetisieren.

Vitamin D-Gruppe (Calciferole). Die heilende Wirkung des Lebertrans bei Rachitis wurde 1807 erstmals beschrieben. 1924 bzw. 1925 fanden unabhängig voneinander H. Steenbock (1886-1937, ab 1920 Prof. in Madison) und A. F. Hess den Zusammenhang zwischen der Heilwirkung von Lebertran und UV-Licht. Aber erst 1922 konnten A. O. R. Windaus (1876-1959, 1915-1944 Prof. in Göttingen) und Hess das Vitamin D2 (Ergocalciferol) durch Bestrahlen von Ergosterin gewinnen. 1935/1926 erfolgte die Aufklärung der Konstitution durch Windaus u.a. Das Vitamin D3 (Colecalciferol) isolierte H. H. Brockmann (1903-1988, ab 1945 Prof. in Göttingen) aus Thunfischleberöl 1936 (Partialsynthese aus Cholesterin).

Vitamin E-Gruppe (Tocopherole). 1920 erkannten zwei Wissenschaftler (Matill und Conklin), dass ausschließlich mit Milch gefütterte Ratten steril wurden. 1922 stellten zwei weitere Forscher (Evans und Bishop) fest, dass ein Inhaltsstoff des Weizenkeimöls (und anderer Pflanzenöle) die Fertilitätsstörungen zu beheben vermochte. 1936 wurde alpha-Tocopherol (griech.: tokos = das Gebären, pherein = tragen) von H. M. Evans (1882-1971, amerik. Mediziner und Biologe) und Emerson aus dem Weizenkeimöl isoliert. 1937 gelang die Aufklärung der Konstitution durch Fernholz, 1938 die Synthese durch Karrer.

Vom "Vitaminrummel" Unter der Überschrift "Vitaminrummel – und was davon blieb" berichtete G. Venzmer 1935) in dem bereits zitierten Kosmos-Bändchen u.a. folgendes:

"Die eigentliche Vitamin-Ära beginnt um das Jahr 1919, als die Kriegsfackel erloschen ist und das Interesse der Menschheit sich wieder den Dingen friedlicher Wissenschaft zuzuwenden beginnt. (...) Von der klaren Erkenntnis, daß Vitaminmangel Krankheit auszulösen vermag, bis zur künstlichen Züchtung einer üblen ≠Vitaminangst' ist nur ein Schritt. Ein Teil der Nahrungsmittelindustrie bemächtigt sich aus allzu naheliegenden Gründen des neuen Schlagwortes (...) Kaum glaublich ist's, welcher Mißbrauch nun mit dem Wort ≠Vitamine' getrieben wird, was alles man von ihnen erwartet, was alles sie leisten, was alles sie verhüten und heilen können sollen. Mit einem Schlage sind die Vitamine ≠modern' geworden; wie Pilze schießen die ≠vitaminhaltigen' Arzneien, Nahrungsmittel usw. aus der Erde; und um ihren Absatz zu steigern, schürt man mit allen erdenklichen Mitteln die Vitaminangst. Der schönste Vitaminrummel ist im Gange; aber wie alles Neue, nur aus ≠Mode', Sensationsbedürfnis und Gewinnsucht Geborene nach einiger Zeit an Reiz verliert, so auch hier. In dem Maße, wie die wirkliche Vitamin-Wissenschaft fortschreitet, wie sie Entdeckungen über Entdeckungen häuft, verlieren die geschäftstüchtigen Afterwissenschaftler und Nutznießer übertriebener Ängstlichkeit an Boden; und heute dürfen wir sagen, dass die Spreu vom Weizen geschieden ist." – So weit die sehr deutlichen Worte des Mediziners Venzmer im Jahre 1935.

In den nach dieser Einführung und historischem Übersicht folgenden Beiträge zu den einzelnen Vitaminen wird über den heutigen Kenntnisstand der Ernährungsforschung und Lebensmittelchemie im Hinblick auf die zahlreichen im Handel befindlichen Multivitaminpräparate berichtet.

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