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Krankenversicherungsreform: Die Niederlande als Vorbild?

HAMBURG (bra). Eine zukunftsfähige Reform der Finanzierungsgrundlagen des Krankenkassensystems gehört zu den wichtigsten, aber wohl auch schwierigsten Aufgaben, die sich die große Koalition vorgenommen hat. Die Konzepte von vor der Wahl - die Bürgerversicherung der SPD und die solidarische Gesundheitsprämie der Union - liegen weit auseinander. Könnte die Gesundheitsreform der Niederlande, die Anfang Januar in Kraft getreten ist, ein Vorbild sein? Mit dieser Frage beschäftigte sich am 13. Januar 2006 in Hamburg ein Symposium der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen e.V. (GRPG).

Die Koalitionsvereinbarung spart Eckpunkte der als unerlässlich angesehenen Reform der Einnahmeseite in der Krankenversicherung aus. Dennoch zeigte sich Franz Knieps, Leiter der Abteilung "Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung" im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), zuvor zehn Jahre lang Geschäftsführer Politik des AOK-Bundesverbandes, durchaus optimistisch.

Zwar werde es keinen "Big Bang" geben. Aber die Zeit für eine Organisationsreform sei überfällig. Innerhalb des ersten Quartals werde man sich auf Verfahrensvorschläge und erste inhaltliche Festlegungen verständigen. Drei Ziele seien dafür konstitutiv:

  • Mehr Wettbewerb werde die Klammer für alle Reformanstrengungen sein. Das betreffe die Versicherungen und die Leistungserbringer gleichermaßen. Auch die PKV werde dabei einbezogen.
  • Verbesserung der Verteilungs- und Belastungsgerechtigkeit. Hier liege viel im Argen. Das gelte z. B. für die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und vor allem von Ehepartnern ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Verteilungskämpfe im Zusammenhang mit einer Neuregelung seien auf diesem Feld zu erwarten.
  • Eine Lockerung - wenngleich nicht Lösung - der Abhängigkeit der Krankenkassenfinanzen von sozialversicherungspflichtigen Arbeitseinkommen.

Eine Steuerfinanzierung der Beiträge für Kinder und nicht verdienende Ehepartner betrachtet Knieps mit Skepsis. Dies könne man dann wohl auch bisher privat versicherten Familien nicht vorenthalten. Eine Beschränkung der Reform auf Einsparungen, also auf die Ausgabenseite, reicht nach Knieps "nicht hinten und nicht vorn". Die Verluste auf der Einnahmeseite seien so groß, dass sie durch Ausgabenkürzungen nicht zu kompensieren seien. Knieps ließ in dem Zusammenhang Kritik an den Belastungen durchblicken, die die Kassen durch die Mehrwertsteuererhöhung bei Humanarzneimitteln schultern sollen - obwohl doch für Tierarzneimittel und Tierfutter weiter nur der halbe Mehrwertsteuersatz erhoben werden soll.

"Grundlegende Veränderungen organisiert man am besten schrittweise", meinte Knieps. Was die Möglichkeiten des Sparens angeht, sei er inzwischen desillusioniert. Das bisherige ("korporatistische") System, das auf die Verbände setzte, tauge in Zeiten der Globalisierung nicht mehr. Das Gros der Aufgaben sei besser in einem wettbewerblichen System aufgehoben.

Lernen von den Nachbarn

Im Vorfeld der neuen gesundheitspolitischen Reformrunde in Deutschland ist man, so Knieps, dabei, sich sehr genau anzusehen, wie ähnliche Problemlagen in den Niederlanden, aber auch in der Schweiz und Österreich sowie in den auf Steuerfinanzierung setzenden skandinavischen Ländern und in Großbritannien angegangen worden sind. Die Neuordnung des Krankenversicherungssystems der Niederlande, die gerade eben zum 1. Januar 2006 in Kraft getreten ist, stellte Geert Jan Hamilton vor. Hamilton ist Direktor für Gesetzgebung und Rechtsangelegenheiten im niederländischen Ministerium für Gesundheit, Wohlergehen und Sport.

In den Niederlanden waren vor der Neuordnung rund 60% der Bürger gesetzlich versichert. Die private Versicherung - für bestimmte Berufsgruppen, u. a. auch für die Beamten - spielte eine viel größere Rolle als in Deutschland. Das führte zu stark unterschiedlichen Beitragssätzen, auch bei gleichen Einkommen. Bezogen auf Langzeiterkrankungen, auch Pflegebedürftigkeit, bestand in den Niederlanden schon seit 1968 eine Versicherungspflicht (AWBZ).

Die Neuregelung 2006 beendet auf allen Feldern das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Versicherung. Alle Bürger wurden verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen, die gesetzlich definierten Mindeststandards genügen muss. Menschen mit vergleichbaren Einkommen zahlen vergleichbare Beiträge, die Versicherung hängt nicht mehr von der Beschäftigungssituation des Versicherten ab, alle haben die gleichen - erweiterten - Wahlmöglichkeiten. Die "Solidarität" zwischen den Einkommens- und Risikogruppen werde als Folge der Neuordnung verstärkt, so Hamilton. Auch die gesetzlichen Versicherungen haben sich umgegründet und werden nun auch nach den Prinzipien privater Unternehmen - Gewinnerzielungsabsichten sind erlaubt - geführt. Im Effekt führte die Reform zu einer vollständigen Privatisierung des Krankenversicherungssystems.

Alle Versicherungen unterliegen der gleichen Wettbewerbsordnung. Sie sind verpflichtet, jeden Versicherten, der Aufnahme begehrt, auch zu akzeptieren. Die Versicherten können jährlich die Versicherung wechseln. Der Beitrag besteht aus zwei Komponenten:

  • einem Pauschalbeitrag (Kopfpauschale) von durchschnittlich 1050 Euro pro Jahr (bislang macht das durchschnittlich bis ca. 50% des Gesamtbeitrages aus),
  • einer einkommensabhängigen Beitragskomponente; sie beträgt 6,5% des Gehaltes (bis 30.000 Euro), wird bei Beschäftigten vollständig vom Arbeitgeber bezahlt, ist aber vom Arbeitnehmer als Einkommen zu versteuern. Selbstständige und Rentner müssen 4,4% Ihres Einkommens bis 30.000 Euro abführen.

Die Krankenkassen sind zu einem Risikostrukturausgleich verpflichtet; ansonsten wäre der Kontrahierungszwang nicht möglich. Die Beiträge für Kinder und für Bürger, die die Beiträge nicht aufbringen können, werden aus Steuermitteln finanziert.

In den Niederlanden ist in den ersten Tagen nach Inkrafttreten der Reform das von einigen erwartete Chaos ausgeblieben. Gleichwohl reichen die Erfahrungen noch nicht, um einigermaßen sicher beurteilen zu können, inwieweit die niederländische Reform Modell für Deutschland sein könnte.

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