DAZ Feuilleton

Karl Lingner – Hygiene als Geschäft und Weltanschauung

Zu den schillernden Unternehmerpersönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts zählt Karl August Lingner (1861-1916), ein Pionier der Reklame, der den größten Teil seines enormes Vermögens durch eine einzige Marke erworben hat: das Odol. Lingner förderte sein Geschäft indirekt durch öffentliche Stiftungen auf dem Gebiet der Gesundheitspflege und Gesundheitserziehung, von denen das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden am bekanntesten ist. Aber er lebte nicht nur für seine Geschäft, sondern engagierte sich auch uneigennützig für gesellschaftliche und politische Ziele.

Hygiene-Ausstellung in Dresden Mai 1911: Lingner steht im 50. Lebensjahr, als er die erste Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden eröffnet. Es ist eine Veranstaltung der Superlative, deren Vorbereitung etwa zehn Jahre gedauert hat. Sie verbindet Wissenschaft und Medizin mit öffentlicher Gesundheitspflege und einer Leistungsschau der emporstrebenden "Gesundheitsindustrie", deren bekanntester Repräsentant Lingner selbst ist. Auf dem 32 Hektar großen Ausstellungsgelände stehen insgesamt 50 Hallen. In der Straße der Nationen wetteifern 30 Staaten von Japan bis Brasilien mit ihren individuell gestalteten Pavillons wie auf einer Weltausstellung. Frankreich präsentiert schwerpunktmäßig die Leistungen Louis Pasteurs und seiner Schüler und ist zum ersten Mal seit 1870 offiziell auf einer deutschen Ausstellung vertreten.

Die Gesundheit - ein Schatz Das Herzstück der Hygiene-Ausstellung ist die nach den persönlichen Vorstellungen und Anordnungen Lingners gestaltete, 6000 m2 große Halle "Der Mensch", in welcher der Besucher mit einem völlig neuen didaktischen Konzept gleichsam spielerisch über die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers belehrt wird. Zur Erklärung dienen plastische Modelle und bewegliche Apparate, die teilweise durchsichtig sind - damals eine Sensation wie am Ende desselben Jahrhunderts die Plastinate. Darüber hinaus kann sich der Besucher mit modernen Untersuchungsmethoden wie der Mikroskopie praktisch vertraut machen.

Die Ausstellung erhebt den Anspruch, das Geheimnis einer gesunden Lebensweise zu offenbaren, die zu persönlichem Wohlbefinden - heute meist "Wellness" genannt - führt und auch soziale Missstände behebt - daher der Begriff "Sozialhygiene".

Die Belehrung wird verbrämt mit einer nahezu religiösen Verehrung für den Menschen als unvergleichliches Wunderwerk der Natur. An der Abschlusswand der Halle steht ein monumentaler, bronzener Adam und erhebt wie ein alttestamentlicher Prophet betend seine Arme zum Himmel; es ist, als ob er die Worte spricht, die in das Podest, auf dem er steht, eingemeißelt sind: "Kein Reichtum gleicht dir, o Gesundheit."

Vertrauen in die Wissenschaft Trotz der thematischen Vielfalt, die auch die Medizin- und Pharmaziegeschichte, allerneueste, noch kaum erforschte Entwicklungen wie die Radiumtherapie und verschiedenste Produkte zur Steigerung der Lebensqualität einschließt, fehlt ein Zweig des Gesundheitswesens: die Naturheilbewegung. Lingner steht voll und ganz auf Seiten der Schulmedizin und will bei den Besuchern das "unbedingte Vertrauen zu der vom Staat anerkannten Wissenschaft" fördern.

In fünf Monaten zählt die Ausstellung über fünf Millionen Besucher Der Staat in Person des sächsischen Königs dankt Lingner, indem er ihn zum Wirklichen Geheimen Rat, einer Art Honorarminister mit der Anrede Exzellenz, ernennt. Der Reingewinn beträgt 1 Million Mark; er ist das Grundkapital für das 1930 gegründete Deutsche Hygiene-Museum.

Das wundersame Zahnöl Heute tummeln sich auf dem Gebiet der "Wellness" viele altermedizinische Richtungen. Warum also hatte Lingner diesbezüglich Berührungsängste? Wahrscheinlich fürchtete er, den Kritikern seines umstrittenen Mundwassers Odol eine weitere Angriffsfläche zu bieten.

Lingner verdankte seinen Reichtum ganz überwiegend diesem einen Produkt, das rechtlich in einem Graubereich zwischen Arzneimittel und Kosmetikum angesiedelt war und - wie viele andere Produkte in diesem Bereich - seinen Verkaufserfolg mehr der geschickten Werbung als harten Fakten seiner Qualität verdankte.

Odol war ein Kunstwort mit der Bedeutung "Zahnöl" (aus griech. odous und lat. oleum). Es enthielt Minzöl, wie der Geruch offenbarte, und einen nicht deklarierten antiseptischen Inhaltstoff, aber welchen? Diese Frage stellte sich schon 1893, als Odol auf den Markt kam: Ein Autor der Fachzeitschrift "Pharmazeutische Centralhalle" mutmaßte, dass es das apothekenpflichtige Antiseptikum Salol (Phenylsalicylat; auch Sammelbegriff für alle Ester der Salicylsäure mit phenolischen Substanzen) enthält, und daher selbst apothekenpflichtig sein müsste. Der Verdacht war berechtigt, denn die Rezeptur des Mundwassers stammte von dem Chemiker Richard Seifert, der das Phenylsalicylat zuerst beschrieben und 1886 hatte patentieren lassen.

Die Salicylsäure war das erste organisch-chemische Arzneimittel, das in technischem Maßstab synthetisch hergestellt wurde, nämlich seit 1874 in der von Friedrich von Heyden in Dresden zu diesem Zweck gegründeten Fabrik. Sie selbst und ihre in großer Zahl synthetisierten Derivate wurden damals in den verschiedensten Anwendungsgebieten erprobt; die Kochbuch-Autorin Henriette Davidis empfahl die Salicylsäure sogar zur Frischhaltung bestimmter Lebensmittel. Da lag der Gedanke nicht fern, ein weniger aggressives Derivat für die Mundhygiene einzusetzen.

Wirksam, aber unschädlich? Wenn die antiseptische Chemikalie im Odol schon nicht zweifelsfrei bekannt war, so musste doch mindestens ihr pharmakologisch-toxikologisches Potenzial geklärt werden. Lingner, der das Odol 1895 hatte patentieren lassen, nannte die Substanz verschleiernd "Salicylogen"; dieses sei selbst völlig wirkungslos, zerfalle aber im Körper in Salicylsäure - wie ein "Prodrug" nach moderner Terminologie - und werde nach Entfaltung seiner antiseptischen Wirkung sogleich zu unschädlichen Substanzen abgebaut. Mit seiner Argumentation, das Salicylogen sei zwar wirksam, habe aber keine unerwünschten Nebenwirkungen, vollzog Lingner gleichsam eine Gratwanderung - und gewann mehrere Gerichtsprozesse.

Aber nicht nur die Richter, auch die Konsumenten und viele Fachleute gaben Lingner recht. Zahn- und Mundpflege waren bis dahin fast nur unter kosmetischen Aspekten, aber nicht unter gesundheitlichen Aspekten gesehen worden. Lingner gelang es, die Anerkennung von Fachwissenschaftlern zu gewinnen und zugleich den gesundheitsbewussten Verbraucher anzusprechen, der bereit ist, Geld für die Erhaltung seiner Gesundheit auszugeben. Man könnte in ihm einen frühen Propagandisten der Selbstmedikation sehen.

Eine Mode, aber im Trend Selbstredend haben nicht alle Zeitgenossen Lingners Bestrebungen anerkannt - bezeichnenderweise hat der technik- und militärbegeisterte Kaiser Wilhelm II. ihn sehr verachtet. Viele sahen in dem Mundwasser nur eine Modeerscheinung und behielten damit in gewissem Maße recht, aber nicht so, wie sie es wahrscheinlich erwartet hatten. Denn Lingner hatte einen langfristigen Trend, den wachsenden Markt der Zahn- und Mundpflege, richtig erkannt; da ist es unerheblich, dass sich innerhalb dieses Marktes Wandlungen vollzogen, die Lingner nicht voraussah. Er lehnte die Zahnpasta ab, weil er der Ansicht war, dass ein flüssiges Mittel besser auf Zahn und Zahnfleisch einwirke als eine Creme - ein Irrtum, wie wir heute wissen.

Tragisches Ende Lingner, der in ärmlichen Verhältnissen in Magdeburg aufgewachsen war, sich als Angestellter im Einzelhandel durchschlug, vorübergehend auch in Paris sein Glück zu machen suchte und kurze Zeit Büroangestellter war, bevor er sich mit 26 Jahren selbständig machte, Lingner, der Selfmademan, ist gut zwei Jahrzehnte lang geschäftlich sehr erfolgreich, doch dann kommt ziemlich plötzlich das tragische Ende: Er erkrankt - ausgerechnet in der Mundhöhle. Zunächst ignoriert er das Leiden, wohl auch aus Scham, und lässt sich nicht behandeln. So entartet die Leukoplakie zum Zungenkrebs. Viel zu spät gibt er seine Zustimmung zur Resektion der Zunge. Danach bleiben ihm nur noch wenige Tage, in denen er sein Testament macht. Den Großteil seines Vermögens bringt er in gemeinnützigen Stiftungen ein.

Zu den schillernden Unternehmerpersönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts zählt Karl August Lingner (1861–1916), ein Pionier der Reklame, der den größten Teil seines enormes Vermögens durch eine einzige Marke erworben hat: das Odol. Lingner förderte sein Geschäft auch durch Stiftungen für Gesundheitspflege und Gesundheitserziehung.

"Die Hygiene ist die Lehre von der Erhaltung und Pflege der menschlichen Gesundheit, die Lehre von der Erhaltung des menschlichen Wohlbefindens."

Katalog der Hygiene-Ausstellung, 1911

"In dem industriellsten Staate Deutschlands [Sachsen] ist der Titel Exzellenz an einen Fabrikanten verliehen worden, dessen Hauptprodukt, das Mundwasser Odol, kein für die Volkswirtschaft wichtiges oder gar notwendiges Erzeugnis ist und nur eine ganz vorübergehende Moderichtung darstellt, ohne Arbeiter in großen Mengen zu beschäftigen. Die öffentliche Meinung ist aber mit der Regierung und den Vertretern der Wissenschaft dahin einig, daß die Organisation der Hygiene-Ausstellung zu Dresden ein großes Verdienst für die Wissenschaft wie für Sachsen ist."

[1]

"Es ist erstaunlich, wie sehr das für die Hygiene doch zweifellos wichtige Gebiet der Mundwässer von der Fachwissenschaft bisher vernachlässigt worden ist."

"Zahntechnische Reform", 1894

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