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Grippe-Pandemie: Hurra, wir leben noch! (Meinung)

Der unheimliche Chor der Experten, Bedenkenträger und Sensationsgierigen ist verstummt, die Wintersaison 2005/2006 ist vorbei und sie hat sich einfach in Luft aufgelöst: die schreckliche (Vogel-)Grippe-Killerpandemie.

Die Medien überschlugen sich mit ebenso exotischen wie sinnlosen Meldungen über schwächelnde schwedische Schwäne, einen toten südamerikani-schen Papagei in britischer Quarantäne, fiebernde rumänische Reiher sowie gar das Ableben eines Jagdfalken in Kuweit. Die Tage später folgenden Dementis nahm der hysterische Leser schon gar nicht mehr zur Kenntnis, sondern ergänzte seinen Tamiflu-Vorrat, auf dem er heute noch sitzt.

Die Gesundheitsbehörden verschwendeten Zeit und Steuergelder in fragwürdigen Aktionismus. Dicke Pandemiepläne, Merkblätter und Krisenstäbe entstanden. 16 deutsche Landesgesundheitsminister und mehrere Bundesminister wurden nicht müde, ihren Bürgern zu erklären, dass eine Gefahr eigentlich nicht bestehe, die Schutzmaßnahmen aber umfassend seien. Zum Beweis verzehrten Politiker vor laufenden Kameras Fleisch von Hähnchen aus einheimischer Käfighaltung – eine schon in BSE-Zeiten blödsinnige Werbemaßnahme. Die angebliche Wunderwaffe Tamiflu wurde behördlich gebunkert, vor allem für den Schutz politischer Entscheidungsträger und ihrer Berater.

Mit wachsender Sorge wird so mancher Experte Meldungen über beobachtete Resistenzen gegen den Neuraminidasehemmer zur Kenntnis genommen haben. Auch Berichte über Verdachtsfälle schwerer neuropsychiatrischer Komplikationen und Todesfälle bei Jugendlichen unter Oseltamivir ersetzten die zuvor völlig unkritische Haltung durch Nachdenklichkeit. Eine riesige klinische Prüfung blieb diesem Volk, das das Denken gern Politikern und Journalisten überlässt, glücklicherweise erspart.

Was bleibt – außer ein paar toten Zugvögeln und an Vogelgrippe bzw. prophylaktisch von Menschenhand getöteten Puten? Zunächst eine nie dagewesene Werbekampagne für Neuraminidasehemmer, Schnelltests und Atemschutzmasken – bei einer rekordmäßig niedrigen Influenzaaktivität. Außerdem die Erkenntnis, dass Enten, Hühner und Schweine im Winter besser nicht in deutschen Schlafzimmern gehalten werden sollen. Und die Vermutung, dass die 1878 im italienischen Piemont erstmals beschriebene Seuche eher durch TV-Teams und Veterinäre von Stall zu Stall transportiert wurde als durch Zugvögel.

Das Ausbleiben der Katastrophe hat diesem bürokratie-geplagten Land neben einem Hauen und Stechen um die rettenden Medikamente sicher auch so manches neue Schnellschuss-Gesetz erspart. Man denke nur an politisch-juristische Kreationen wie die Tamiflu-Verteilungs-Verordnung (TamVertV), das Im-Internet-besser-jetzt-nicht-Arzneimittelbestellungs-Gesetz (IIbnABG), die TV-Team-Hühnerhof-Betretungsver-bots-Verordnung (TTHBVV), die Blesshuhn-Sicherheitsabstands-Verordnung (BSAV) oder die Totschwan-Meldeverordnung (TSMV) ...

Der nächste Winter und damit eine neue Pandemie-Panikmache kommen bestimmt. Wovor sollen wir uns übergangsweise in den Sommermonaten fürchten? Da das Leben als solches hoch riskant ist, haben wir eine reiche Auswahl – vom heimtückischen Chikungunya-Fieber in Ferienparadiesen über Erdbeben und U-Bahn-Mörder bis hin zu Verkehrsunfällen. Zuvor absolut furchtresistente Zeitgenossen sollen schon nach der Lektüre des Beipackzettels eines Medikaments ihre Krankheit vergessen und unzählige neue Risiken entdeckt haben.

Dass Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, der Himmel nicht auf den Kopf fallen möge, wünscht Michael Schmidt.

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