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Apotheker ohne GrenzenApotheker helfen im Chaos

"Ich bin noch nie mit so viel Elend in Berührung geraten. Ich habe noch nie so viel Chaos erlebt, ein Chaos, das sich auf wundersame Weise immer wieder löste. Ich habe noch nie mit strenggläubigen Moslems zusammengearbeitet und zusammengelebt." Christl Trischler, Apothekerin aus Erzhausen, begleitete im Oktober 2005 einen Katastropheneinsatz der deutschen Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen (AoG) in der vom Erdbeben zerstörten Region um Manshera im Nordosten Pakistans.

Ek subah, ek shaam – das sind die wichtigsten Worte, die Christl Trischler in Pakistan braucht: eine morgens, eine abends. Wenn dann ein Kopfnicken folgt, heißt das, der Patient hat verstanden. Die meisten Menschen sprechen Urdu oder Paschtu, viele sind Analphabeten. Ohne Dolmetscher läuft in dem Team aus drei Ärzten, zwei Apothekern, einem OP-Krankenpfleger, einem Sanitäter sowie Krankenschwestern und einem Koordinator nichts. Wie in früheren Notfalleinsätzen kooperieren die Apotheker ohne Grenzen (AoG) auch in Pakistan mit Humedica. Mit der Hilfsorganisation hatte AoG bereits in Sri Lanka und Indien zusammengearbeitet.

Katastrophe und Improvisation

Am 8. Oktober abends um 10.00 Uhr, wenige Stunden nach dem verheerenden Erdbeben, startet das erste Team nach Islamabad. Die Apotheker folgen am 11. Oktober und lösen sich in Zweierteams bis Ende 2005 ab. Unterstützung erhalten die Deutschen von Pakistan Relief und der PAK Relief & Development Agency, zwei pakistanischen Nicht-Regierungsorganisationen (NRO). "Glücklicherweise war unser Quartier ein Innenhof, in dem wir im Freien nächtigen konnten, und glücklicherweise hat es bei meinem Einsatz nicht geregnet", berichtet Trischler. Die Erde wird fast jede Nacht mal mehr, mal weniger stark von Nachbeben erschüttert. Die Stadt Manshera, circa 70 Kilometer nördlich von Islamabad, dient als Einsatz- und Logistikzentrale für zahlreiche NRO, darunter auch die Vereinten Nationen. Von hier erreichen die Teams die besonders betroffenen Bergregionen per Hubschrauber oder auf frei geräumten Straßen. Viele Obdachlose, Verletzte und Kranke aus den umliegenden Bergen kommen Hilfe suchend nach Manshera.

Das Krankenhaus in Manshera ist stark beschädigt, ein Teil muss abgerissen werden. Helfer evakuieren die Patienten in umliegende Schulen und eine improvisierte Zeltstadt. "Ein Zelt als Dach über dem Kopf, kein Boden, die Leute stellten ihre Betten da einfach rein und lebten sozusagen auf ihrer Schlafstätte", so Trischler. Die sanitären Verhältnisse sind zu Beginn katastrophal. Im Laufe der dritten und vierten Woche nach dem Beben wird der Schutt abtransportiert, die freie Fläche planiert und komfortablere Zelte aufgestellt. Der Abfall der Ambulanzen landet im Straßengraben und wird einmal am Tag abgefackelt. Gebrauchte Nadeln und Verbandmaterial liegen einfach auf der Straße.

Laut, dreckig, staubig

Die Klinik mit 180 Betten versorgte vor dem Beben pro Tag etwa 800 Patienten. Jetzt kommen etwa 1000 Erdbebenverletzte dazu. Viele Mitarbeiter des Krankenhauses müssen zunächst ihre eigene Katastrophe bewältigen und kehren erst langsam an ihren Arbeitsplatz zurück. Direkt neben der Zeltstadt arbeiten die deutschen Apotheker und Ärzte. In einem circa 20 Quadratmeter großen Schulraum bilden Lehrertische drei Arbeitsflächen für Mediziner und Pharmazeuten. Je drei Stühle zusammengestellt, darüber eine Trage, fertig ist der OP-Tisch. Trischler: "Es war laut, dreckig, staubig, ohne fließend Wasser, schlecht beleuchtet. Jeder Arzt versorgte knapp 50 Patienten pro Tag und im Schnitt erhielt jeder Patient zwei Tütchen mit ausgeeinzelten Tabletten oder ein bisschen Salbe. Wir arbeiteten jeden Tag mindestens sieben Stunden. In vier großen Kisten hatten wir unsere Schätze verstaut: Verbandmaterial, Desinfektionsmittel, Salben, Medikamente, OP-Material, Infusionslösungen."

Freiwillige, die als Dolmetscher einspringen, helfen den Ansturm der Leute zu bändigen. Mehrmals müssen die Deutschen einen Polizisten oder das Militär zu Hilfe rufen, weil sich Leute um die Behandlung streiten. Der Alltag in der Krankenstation: Verbandwechsel, chirurgische Wundreinigung, meist unter Narkose, Schmerzbehandlung, Therapie von Infektionskrankheiten wie Bronchitis und Lungenentzündung sowie in zunehmenden Umfang auch Wurmerkrankungen und Krätze. Einige chronisch Kranke hoffen dank deutscher Ärzte und Medikamenten auf eine Wunderheilung.

Chaotisches Arzneilager

Basis für die Arzneimittelversorgung bilden essenzielle Medikamente, zusammengestellt in so genannten WHO-Emergency-Kits sowie einige nur zum Teil sinnvolle Arzneimittelspenden aus Deutschland, Großbritannien und Pakistan. Die Ärzte sollen eigentlich nach den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) behandeln und auch nur die vorgeschlagenen Medikamente verordnen. Das ist aber nicht immer möglich. "Einige unserer Wirkstoffe gingen sehr schnell zur Neige. Deshalb suchten wir nach Möglichkeiten, Ersatz zu organisieren. In unserer Nähe befand sich ein Arzneimittellager. Als ich das zum ersten Mal sah, standen mir die Haare zu Berge", erinnert sich die deutsche Helferin. "In der großen Halle liegt in der einen Ecke ein Haufen weiße Leichentücher, in der anderen ein Berg voll Abfall mit wild durcheinander gewürfelten Ampullen, Tablettenpackungen, Spritzen, Verbandsmaterial, Infusionsbestecken und Kathetern. Die meisten NRO suchen sich hier heraus, was sie gerade benötigten. Eine Sisyphusarbeit, das zu ordnen", so Trischler.

Bevor Spenden entsorgt werden müssen ...

Wie auch nach der Tsunami-Katastrophe werden die Apotheker wieder mit einer völlig unkontrollierbaren Spendenflut konfrontiert. Über das ganze Erdbebengebiet verstreut befinden sich solche Lager. WHO-Kits stehen unberührt einfach so unter irgendeinem Vordach. Keiner weiß, wo was zur Verfügung steht. Es besteht die Gefahr, dass nach einem Jahr ein großer Teil dieser Spenden als Arzneimittelmüll teuer entsorgt werden muss.

Die Apotheker ohne Grenzen fühlen sich verpflichtet, hier etwas zu unternehmen. Die deutschen Apothekerinnen Kaja Hederich und Kirsten Neidhardt suchen nach einem erdbebensicheren Raum und bestellen Regale. Sie haben bereits Kontakte zur UNICEF, und stellen einen Notfallplan auf, um die katastrophale Arzneimittelversorgung zu koordinieren. Thomas Bergmann, der später den Einsatz der deutschen Hilfsorganisation vor Ort leitet, sucht Kontakt zu Klinikdirektoren, Computerspezialisten, die in Kürze ein einfaches Programm zur Verwaltung des Lagers zur Verfügung stellen können. Auch zahlreiche andere Hilfsorganisationen suchen den Kontakt zu den deutschen Pharmazeuten.

Wenn der Glaube im Weg steht

Religiöse Vorschriften machen den Helfern im Fastenmonat am meisten zu schaffen. Alle Leute in Manshera halten sich strengstens an die muslimischen Fastenregeln. Nachmittags um fünf verschwinden die meisten Patienten. Fahrer und Dolmetscher werden nervös und wollen nach Hause zum Gebet und zum anschließenden Fastenbrechen. Nachts ertönen laute Gesänge und temperamentvolle Predigten der Mullahs. Ein Mann mit eitriger Angina weigert sich, sein Amoxicillin dreimal täglich einzunehmen. Obwohl die Regeln Schwangeren, Stillenden, Kranken und Reisenden das Essen und Trinken erlauben, fühlen sich viele angesichts der Katastrophe besonders verpflichtet, streng zu fasten.

Eine zusätzliche Schwierigkeit: Viele Frauen lassen sich nicht von einem Arzt untersuchen, auf keinen Fall in Gegenwart junger Dolmetscher und Soldaten. Krankenschwestern müssen das Stethoskop führen, Ärzte hören mit abgewandtem Gesicht die Herztöne ab. Trischler: "Wie soll ein junger Pakistani einer Frau erklären, wie sie Ovula anzuwenden hat, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken und ohne die Frau zu beschämen? In dem Fall verzichtete ich auf seine Hilfe und mit Gesten und Gelächter gelang es uns beiden, der Patientin und mir, ohne Dolmetscher auszukommen."

Hilfe für Bergregionen

In der vierten Woche, kurz vor dem Ende der Ramadanzeit entspannt sich die Lage in der Ambulanz. Es kommen immer weniger Schwerverletzte. Die Deutschen entscheiden, die Ambulanz zu schließen. Die Apotheker ohne Grenzen sortieren, erfassen und verpacken alle übrig gebliebenen Arzneimittel, um Schäden durch unsachgemäßen Gebrauch zu verhindern.

In den Bergregionen dagegen gibt es noch jede Menge zu tun. Zwar fliegen Hubschrauber die meisten Schwerverletzten aus. Aber in den vielen kleinen unzugänglichen Tälern, die schon in Normalzeiten nur auf schlechten Straßen oder zu Fuß zu erreichen sind, gibt es kaum ärztliche Versorgung. Zwei Tage lang begleitet Christl Trischler ein kleines Team aus Ärzten, einer Krankenschwester und einem Dolmetscher in ein enges Hochtal. Auf den letzten zehn Kilometern eskortieren bewaffnete Soldaten den Trupp. Die meisten der weit über die steilen Hänge verstreuten kleinen Lehmhütten sind zerstört. Notunterkünfte bestehen aus Plastikfolien und Planen, Wellblech sowie Maisstrohballen. Es gibt kaum winterfeste Zelte. Ein Hubschrauber kann hier nicht landen und für Lkw ist die Straße zu schmal. Vor allem Kinder, Frauen und alte Männer hoffen auf die deutschen Helfer.

Nur langsam zurück in die Normalität

"Unser Arzt behielt die Ruhe und half während der anderthalb Tage etwa 150 geduldig wartenden Patienten. Unsere Krankenschwester, eine wahre Künstlerin im Anlegen von Verbänden, reinigte und verband unermüdlich Wunden." Etwa jeder fünfte Patient leidet unter Durchfall und Erbrechen. Trischler: "Für mich galt es, orale Rehydratationslösungen in großen Mengen herzustellen. Das Problem gegen Abend war ein akuter Trinkwassermangel. Wir opferten unsere eigene Reserve im Vertrauen darauf, dass uns das Militär am nächsten Morgen wieder Trinkwasser spendierte."

Die Menschen in dem Tal finden nur langsam in ihren Alltag zurück, beginnen aufzuräumen, Holz zu sammeln. Jeden Tag gibt es mehr oder weniger heftige Nachbeben. Trotzdem wollen viele der Bergbewohner hier bleiben, und nicht in einer der großen Zeltstädte landen. Christl Trischler fällt es schwer, dieses Tal wieder zu verlassen und in das laute, hektische Manshera zurückzukehren.

Christl Trischler kehrt im November zurück nach Deutschland. Sie will auch in Zukunft Hilfseinsätze der Apotheker ohne Grenzen begleiten. Die in Pakistan gemachten Erfahrungen wird sie so schnell nicht vergessen.

Der Sitz des Vereins befindet sich im Deutschen Apothekerhaus in Eschborn. 1. Vorsitzender ist Apotheker Ulrich Brunner, Oberaudorf Kontaktdaten: Telefax: 07 00-26 42 64 10 E-Mail: info@apotheker-ohne-grenzen.de Internet: www.apotheker-ohne-grenzen.de

Projekte in der Region Manshera

Nach Abschluss der Katastrophenhilfe sind die Apotheker ohne Grenzen auch weiterhin in den Erdbebengebieten Pakistans tätig. Seit Januar 2006 betreuen zwei deutsche Pharmazeuten ein mittelfristiges Projekt in der Region Manshera. Schwerpunkt des Engagements in Zusammenarbeit mit Caritas Pakistan bildet die sachgerechte Versorgung mehrerer Kliniken und Ambulanzen mit Arzneimitteln.

Spenden

Zur Finanzierung unserer Projekte sind wir dringend auf Ihre Spenden angewiesen. Denn nur private Spender ermöglichen es uns, unmittelbar nach Katastrophen schnell einen Einsatz zu starten.

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