DAZ aktuell

TeGenero – was ist ein kritischer Wirkstoff? (Außenansicht)

Der Arzneimittelzwischenfall in London ist nicht nur eine Katastrophe für Betroffene und Angehörige, sondern auch für die Entwickler, Hersteller und Prüfer des neuen Wirkstoffs, vor allem aber eine für die gesamte klinische Forschung.

Der von dem Biotech-Startup-Unternehmen TeGenero zur Behandlung von Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis und bestimmte Leukämien entwickelte Wirkstoff TGN1412 erhielt 2005 von der europäischen Arzneimittelbehörde die Anerkennung als "Orphan Drug", das Paul-Ehrlich-Institut hatte die Genehmigung zur Erprobung von TGN1412 gegeben.

Die Herstellung des humanisierten, monoklonalen Antikörpers für die klinische Prüfung übernahm (gemäß den Anforderungen der Zulassungsbehörden in Europa und den USA) Boehringer Ingelheim. Mit der klinischen Phase-I-Studie wurde die auf solche Untersuchungen spezialisierte US Firma Parexel International beauftragt.

Während die sechs jungen Männer, die TGN1412 injiziert bekamen und lebensgefährlich erkrankten, nun erste Zeichen der Erholung zeigen, bleibt die Ursache der Katastrophe noch im Dunkeln.

Menschliche Fehler sind denkbar, etwa eine versehentlich zu hohe Dosierung. Von produktionsbedingten Ursachen wird gesprochen, was von Boehringer Ingelheim vehement zurückgewiesen wird und bei diesem mit der Herstellung von Antikörpern erfahrenen Unternehmen auch äußerst unwahrscheinlich ist. Mängel in den präklinischen Studien werden diskutiert, jedoch stellt sich die Frage, warum eine toxische Reaktion in den tierexperimentellen Studien unbemerkt blieb. Britische Experten tippen auf eine anaphylaktoide Reaktion, also eine allergische Reaktion auf Bestandteile des humanisierten Antikörpers (oder anderer Inhaltsstoffe), wobei ungewöhnlich wäre, dass alle Teilnehmer erkrankten.

Bevor es nun aber Sinn macht, überhastet Konsequenzen zu fordern, muss man versuchen, Klarheit über die Ursachen und Zusammenhänge zu bekommen. Technische Zwischenfälle und Katastrophen wie sie in Tschernobyl oder mit Contergan passierten, können wir zukünftig nur vermeiden (genauer: zu vermeiden versuchen), wenn aus den Ereignissen die richtigen Lehren gezogen werden.

Einige Experten kritisieren die übliche (nicht verbotene) Praxis, einen potenziell gefährlichen Wirkstoff allen Probanden gleichzeitig zu geben, andere weisen darauf hin, dass sie noch nie erlebt haben, dass alle Teilnehmer einer Phase-I-Studie schwer erkrankten (was in den letzten Jahrzehnten auch nicht passiert ist). Und doch ist es nun geschehen.

Wenn jetzt der Vorschlag gemacht wird, risikoreiche Wirkstoffe nur noch nacheinander an Menschen zu testen, dann leuchtet dies zunächst ein. Doch neben der praktisch relevanten Frage, welcher Proband bereit ist, sich als erste Testperson zur Verfügung zu stellen, erhebt sich doch vor allem die Frage, welcher Wirkstoff ein "kritischer Wirkstoff" ist.

Die Antwort lautet: Im Vorhinein wissen wir es von keinem. Was wir wissen ist, dass etwa 70 Prozent der am Tier (mit herkömmlichen Substanzen) gefundenen Nebenwirkungen auch beim Menschen auftreten und dass von etwa 80 Prozent der bereits im Tierversuch ausgeschlossenen Nebenwirkungen später auch die Patienten verschont bleiben.

Die Experten haben also auf Grund des in den Tierversuchen ermittelten substanzeigenen Wirkungsspektrums bestimmte (meist auch zutreffende) Vorstellungen vom Risikopotenzial einer neuen Substanz. Ob diese Einschätzung aber richtig ist, wissen sie erst, wenn sie sie am Menschen eingesetzt haben. So gesehen müssen wir eigentlich alle Substanzen zunächst einmal als "kritische Wirkstoffe" ansehen. Erinnern wir uns an Thalidomid. Diese Substanz wurde von niemandem in Phase I als "kritischer Wirkstoff" eingestuft und hat erst als zugelassenes Medikament die Contergan-Katastrophe ausgelöst.

Erkennen wir also, dass jede Anwendung einer neuen (hier: wirklich innovativen) pharmazeutischen Substanz ein Experiment ist. Das hängt damit zusammen, dass man Probleme nicht lösen kann, bevor man sie erkannt hat.

Der TeGenero-Zwischenfall ist für alle in der Arzneimittelforschung Tätigen eine Katastrophe, vor allem aber auch für die Patienten, die in diese Forschung ihre Hoffnungen setzen und auf ihre Ergebnisse angewiesen sind.

Mögen aus dem Arzneimittelzwischenfall in London vernünftige Konsequenzen gezogen werden!

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.