"Arzneimittel-Atlas" entzaubert Strukturkomponente

BERLIN (ks). Seit einigen Jahren findet sich in jedem Frühherbst eine wiederkehrende Schlagzeile in den Zeitungen: Die gesetzlichen Krankenkassen könnten Milliardenbeträge sparen, wenn Ärzte wirtschaftlicher verordnen würden. Den Medizinern wird vor allem angekreidet, zu viele teure Analogarzneimittel ohne therapeutischen Zusatznutzen zu verschreiben. Diese Aussage stützt sich auf die alljährlich von den Autoren des Arzneiverordnungs-Reports (AVR) berechnete Strukturkomponente der Arzneimittelausgaben. Ärzten und forschenden Pharmaherstellern hat dieses Pauschalurteil noch nie gefallen. Dass ein differenzierter Blick auf die Strukturkomponente andere Schlüsse zulässt, zeigt der frisch erschienene "Arzneimittel-Atlas" des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES).

Im Auftrag des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) hat das IGES die Ausgabenveränderungen im Arzneimittelbereich im Jahr 2005 unter die Lupe genommen. Die neue Konkurrenz zum AVR stellte IGES-Chef Prof. Dr. Bertram Häussler am 27. September in Berlin vor. Ausgangspunkt der Arbeit war eine kritische Auseinandersetzung mit dem methodischen Konzept der AVR-Autoren. Häussler kritisierte insbesondere, dass zur Berechnung der Strukturkomponente alle Arzneimittel rechnerisch in einen Topf geworfen würden. Dabei werde beispielsweise ein Rückgang der Verordnung von Venensalben und eine Zunahme von Verordnungen von Interferonen als Austausch betrachtet.

Der Arzneimittel-Atlas analysiert hingegen die Strukturveränderungen in 22 ausgewählten Indikationsgruppen, um die Unterstellung unsinniger Substitutionsbeziehungen zu vermeiden. Ausgewählt wurden solche Indikationsgruppen, in denen der Umsatz um mindestens 40 Prozent ab- oder zunahm - sie decken zusammen 86 Prozent aller Umsatzveränderungen ab. Auch bei der Mengenentwicklung verfolgt IGES einen präziseren Ansatz: Es stützt sich auf die Veränderungen von Tagesdosen (DDD) und nicht, wie der AVR, lediglich auf die Anzahl der Verordnungen. Denn ein Rückgang von Verordnungen ist nicht zwingend ein Indiz für Wirtschaftlichkeit – es kann auch ein Umstieg auf eine größere Packungsgröße dahinter stecken. Nicht zuletzt wird der Beitrag von zehn medizinischen, epidemiologischen und wirtschaftlichen Faktoren zu den jährlichen Ausgabenveränderungen bestimmt.

Über 7% der Umsatzsteigerungen lässt sich streiten

Der Arzneimittel-Atlas kommt zu dem Ergebnis, dass die Mehrausgaben von 1,943 Mrd. Euro in den 22 betrachteten Indikationen in erster Linie auf einen gestiegenen Verbrauch zurückzuführen sind. Dieser wird mit 1,854 Mrd. Euro beziffert. Vor allem die Versorgung Schwerkranker schlägt ins Gewicht, erklärte Häussler. Dabei spielten auch die politisch gewollten Verschiebungen vom stationären in den ambulanten Sektor ein Rolle. Der Wechsel zu einem anderen Therapieansatz verursachte Mehrausgaben von 405 Mio. Euro. Ein solcher Wechsel folgt den Studien-Autoren zufolge überwiegend medizinischen Empfehlungen.

Strukturverschiebungen zwischen Wirkstoffen innerhalb derselben Wirkstoffklasse führten zu einem Mehrumsatz von lediglich 140 Mio. Euro (sieben Prozent der gesamten Umsatzsteigerung) – dahinter steckt der umstrittene Bereich der "Scheininnovationen". Andere betrachtete Einflussfaktoren – darunter solche, die in den Verantwortungsbereich der Apotheker fallen – sorgten für einen Umsatzrückgang: So etwa die Substitution von Originalen durch Parallelimporte und Generika sowie der Austausch von höherpreisigen durch niedrigpreisige Generika. Insgesamt wurde das Umsatzvolumen durch diese drei Maßnahmen um 181,5 Mio. Euro reduziert.

VFA: Politik wurde jahrelang falsch beraten

Für Andreas Krebs, VFA-Vorstandsmitglied und Geschäftsführer der Wyeth Pharma GmbH, ist der Arzneimittel-Atlas ein Beleg dafür, dass Analogpräparate zu Unrecht beschuldigt werden, die Ausgabentreiber in der GKV zu sein. Nun werde deutlich, dass die Ausgabensteigerungen in erster Linie durch eine bessere Versorgung von Patienten entstehen. "Politik und Öffentlichkeit wurden offensichtlich jahrelang falsch beraten", sagte Krebs. Er und Häussler setzen darauf, dass mit Hilfe des Arzneimittel-Atlas künftig sachgerechtere Entscheidungen auf dem Gebiet der Arzneimittelversorgung getroffen werden. Geplant ist, die neue Studie künftig jährlich erscheinen zu lassen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass IGES auch in Zukunft die für die Analyse notwendigen Daten von INSIGHT health erhält.

Ob dies nach der anstehenden Gesundheitsreform noch der Fall sein wird, ist unklar. Der Arbeitsentwurf sieht vor, dass die Verordnungsdaten nur noch sehr begrenzt weitergegeben werden sollen - dadurch soll verhindert werden, dass Pharmaunternehmen die Daten nutzen, um ihren Außendienst gezielter einzusetzen.

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