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Wie schlecht geht es dem Wald?

Dem deutschen Wald geht es nicht gut. Seit Jahren wird er beobachtet, analysiert und therapiert. Doch Besserung scheint nicht in Sicht. Woran das liegt, ist umstritten, da weder über Anamnese noch Diagnose Einigkeit besteht. Auch die Prognosen waren und sind widersprüchlich. Schon Ende der 1970er-Jahre hieß es: Der deutsche Wald wird sterben.

 

Der Wald stirbt nicht

Die Voraussage war zum Glück falsch. Doch der Waldzustandsbericht 2004 der Bundesregierung attestiert dem deutschen Wald eine schlechte Gesundheit. Die Baumkronen haben sich demnach erheblich gelichtet (Tab. 1).

Wesentliche Ursachen dafür sind nach Aussage des Berichtes der sehr heiße und trockene Sommer des Jahres 2003 und die daraus resultierenden Spätfolgen. Trockenstress und hohe Ozonwerte sind auf Wälder gestoßen, die durch die jahrzehntelangen Säure- und Stoffeinträge aus der Luft erheblich vorbelastet sind. Hinzu kommt die Massenvermehrung des Borkenkäfers in den letzten 18 Monaten, die vor allem bei der Fichte zu hohen Ausfällen geführt hat.

Das ist ein enttäuschendes Ergebnis. Denn zumindest das Bundesimmissionsschutzgesetz sorgt seit 1974 (in den neuen Bundesländern seit 1990) für stetig sinkende Emissionen an Schadgasen in die Luft. Dass Schwefeldioxid (SO2) und Stickoxide (NOX) die Hauptverursacher von Baumschäden sind, wusste man in Deutschland schon im 19. Jahrhundert. Die erste Waldschadenskarte stammt aus dem Jahr 1883. In den Industrierevieren zwischen dem rheinischen Stolwerk und dem oberschlesischen Kattowitz war es in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu flächigem Baumsterben gekommen, dem man erfolgreich mit bis zu 150 m hohen Schornsteinen begegnet ist.

Hypothesen zum Schadmechanismus

Bei den seit Anfang der 1970er-Jahre beobachteten "neuartigen Waldschäden" ist die Verengung auf einige wenige Schadstoffe nicht mehr möglich. Die SO2-Emissionen reichen zur Erklärung nicht aus. Bis heute, nach mehr als 20 Jahren Waldökosystemforschung, ist es nicht gelungen, eine eindeutige Ursache der Waldschäden zu finden. Man fand viele potenzielle Schadensfaktoren und hat, darauf aufbauend, drei Hypothesen entwickelt:

  • Ozonhypothese: Ozon und organische Peroxide, die durch Reaktion der emittierten Stickoxide und ungesättigten Kohlenwasserstoffe mit UV-Licht entstehen, schädigen direkt die Kutikula und die Zellmembranen der Blätter und Nadeln der Bäume.
  • Ökosystemhypothese: Schweflige Säure, Salpeter-, Salz- und Kohlensäure im Regen versauern den Boden. Bei den niedrigen pH-Werten gehen toxische Ionen in Lösung, während Nährstoffe festgelegt werden. Das Feinwurzelwerk und ihre symbiontische Mykorrhiza wird zerstört und damit die Aufnahme von Wasser und Nährsalzen verhindert.
  • Stresshypothese: Der jahrzehntelange Stoffeintrag in den Boden hat die Bäume geschwächt. Der Wald wird anfälliger für Schädlinge.

Inventur mit Folgen

Der Waldzustandsbericht erscheint seit 1984 jedes Jahr. In diesem Jahr wurde zudem der Bericht der zweiten Bundeswaldinventur, die die erste gesamtdeutsche ist, vorgelegt. Die Erhebungen der Inventur sind sehr systematisch und aufwändig und auf Permanenz angelegt. Über den deutschen Wald ist ein geodätisches Gauß-Krüger-Koordinatensystem gelegt worden, das mit vergrabenen Eisenstangen markiert ist, um Manipulationen vorzubeugen. Das Grundnetz hat eine Seitenlänge von 4 km. Entlang dieses Netzes sind nach einem systematischen Muster 44.000 Quadrate mit 150 m Seitenlänge ausgewählt worden. An den Ecken und Linien dieser so genannten Trakte werden insgesamt 400.000 Probenbäume erfasst und für jeden Baum 150 Merkmale aufgenommen.

Eines der wesentlichen Ergebnisse der Inventur ist, dass der Wald gedeiht. In den alten Bundesländern liegt der Holzzuwachs seit der ersten Inventur 1987 bei 12 Kubikmetern je Hektar und Jahr. Damit wächst in jeder Sekunde ein Holzwürfel der Kantenlänge 1,44 m zu. Das ist mehr, als erwartet wurde. Der Anteil der Laubbäume, vor allem der Buche, hat zugenommen, während der Anteil der Fichten zurückging. Ein nachhaltig zu bewirtschaftender Mischwald ist im Entstehen begriffen. Dieses positive Ergebnis wird mit dem Aufruf an Wirtschaft und Verbraucher verbunden, mehr einheimisches Holz zu verwenden. Der Holzabsatz soll um 20% gesteigert werden.

Die Ergebnisse der Bundeswaldinventur widersprechen in gewisser Weise denen des Waldzustandsberichtes. Darüber hinaus gibt es massive Kritik am Waldzustandsbericht, unter anderem von der Kommission für Ökologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Auf ihrer Sitzung am 14. Januar 2005 hat sie das Verfahren der Erhebung selbst in Frage gestellt. Das Kriterium der Verlichtung beziehe sich auf einen fiktiven Normalzustand für jede Baumart, den es gar nicht geben könne.

Aufgrund unterschiedlicher Standorte sei das natürliche Aussehen der Wälder – und auch das von Bäumen derselben Art – so vielfältig, dass man den gesundheitlichen Zustand der Wälder nicht allein über die Verlichtung der Baumkronen ableiten könne. Dies gelte vor allem dann, wenn die Verlichtung unterhalb von 40 bis 50% liegt.

Verlichtung kein absolutes Kriterium

Die Kommission in Bayern fordert Untersuchungen über potenzielle Ursachen der Verlichtung, denn ein Zusammenhang mit der allgemeinen Bodenversauerung sei durch Langzeitstudien des Bayerischen Umweltministeriums in den Nordalpen widerlegt worden. Auch hätten die Kalkungen eines Drittels der westdeutschen Waldflächen den Zustand der Baumkronen nicht verbessert.

Darüber hinaus gebe es für Fichte und Kiefer zwischen 1984 und 2004 keinen zeitlichen Trend der Kronenverlichtung. Bei Buche und Eiche steige sie im Bundesgebiet an (Tab. 1), nicht aber in Bayern. Dieses Ergebnis sei nicht mit den stetig zurückgehenden Emissionen an SO2 und NOX zu erklären.

Dagegen seien alle im Jahr 2004 registrierten Schäden in Süddeutschland mit natürlichen Faktoren beschreibbar:

  • Plötzliches Aufreißen der bis dahin geschlossenen Nadelbaumbestände durch Stürme.
  • Nachwirkung des heißen Sommers 2003, verbunden mit vorzeitigem Blattfall und Vertrocknen der Feinwurzeln.
  • Anstieg des Borkenkäferbefalls bei Fichte und Tanne und des Befalls der Laubbäume mit Fraßinsekten.
  • Geringe Blattmassenbildung im Jahr 2004 als Folge zu geringer Vorräte an Reservestoffen aus dem Vorjahr und/oder starke Frucht- und Samenbildung.

Die Kommission empfiehlt deshalb, die wenig aussagekräftige bundesweite Inventur der Kronenverlichtung aufzugeben oder sie auf eine geringe Zahl sorgfältig ausgewählter Probebestände zu beschränken, aus deren Vergleich auf die Ursachen von Unterschieden oder auf zeitliche Veränderung dieses Merkmals geschlossen werden kann. Besser wäre es allerdings, sich auf die fortlaufende Kontrolle repräsentativer Wälder zu konzentrieren und diese umfassend zu beschreiben. Dazu gehöre neben dem Kronenzustand unter anderem der Holzzuwachs, die Frucht- und Samenbildung, die Witterung, der Schadstoffeintrag, der Schädlingsbefall sowie die Veränderungen der Bodeneigenschaften und der Bodenvegetation.

Umdenken?

Die Kronenverlichtung galt von Anfang an als provisorisches Kriterium, ist aber heute in vielen Ländern der EU eingeführt. Vorteilhaft sind die einfache Durchführung und Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Wissenschaftlich gesehen, ist das Verfahren oberflächlich, da es nur die aktuelle Vitalität zu beschreiben versucht und keine Rückschlüsse auf Ursachen und Zusammenhänge zulässt. Allerdings drängen vor allem die Umweltverbände, die Methode beizubehalten. Sie scheinen zu befürchten, dass das Waldsterben "weggeforscht" werden könnte. Im europäischen Vergleich liefert die Methode sehr widersprüchliche Ergebnisse. Beispielsweise sind in Polen die Schäden von 20% im Jahr 1988 auf 55% im Jahr 1994 angestiegen. Dagegen haben sie in Österreich zwischen 1989 und 1994 von 11% auf 8% abgenommen.

Bereits 1989 wurden in Kiel, Göttingen und Bayreuth die ersten Ökosystemforschungszentren gegründet. Sie lösen die klassische Ursache-Wirkung-Forschung ab und lassen hoffen, dass die widersprüchlichen Beobachtungen über den Wald einmal eine rationale Erklärung finden. Es ist zum Beispiel noch nicht geklärt, welcher Grad der Kronenverlichtung als physiologisch normal anzusehen ist. Immerhin können Bäume mit starker Verlichtung wieder zur vollen Belaubung zurückfinden. Ein Laubbaum kann je nach Witterung und Standort bis zu drei Viertel weniger Blätter tragen als ein gleich alter Artgenosse. Bei Nadelbäumen beträgt die Schwankungsbreite zwei Drittel.

Dies scheint es notwendig zu machen, die Schadstufeneinteilung zu überdenken. Auch sind die vielbeklagten SO2- und NOX-Immissionen in den Wald nicht in jedem Fall negativ für die Bäume. Das hängt jeweils von der Konzentration und den verfügbaren Nährstoffen und vor allem Spurenelementen im Boden ab. Sind sie im Überschuss vorhanden, ist der Wald vital. Im Übrigen ging der Trend der Nadelverluste seit 1984 bei Kiefer und Fichte eher nach unten; 1992 kehrte der Trend sich vorübergehend um und nun abermals.

Das Jahr 2004 stand vollkommen unter dem Eindruck des extremen Sommers des Vorjahres und könnte deshalb ein statistischer Ausreißer sein. Die Fichten scheinen besonders unter dem SO2 zu leiden, während die Eichen eher von parasitischen Wurzelpilzen geplagt werden. Bei der Buche trug die starke Fruchtbildung der letzten Jahre, die stets mit einer Verlichtungszunahme einhergeht, zu den schlechten Ergebnissen bei.

Pauschaldiagnosen führen bei der Suche nach den Ursachen der Waldschäden nicht weit. Die Bundesregierung will nun eine Expertenkommission einberufen, die klären soll, ob und wie die bisherigen Beurteilungskriterien verbessert und erweitert werden können. Ein Wald ist ein Beziehungsgefüge, das an Komplexität schwerlich übertroffen werden kann. Trotz aller Debatten wird es auch in Zukunft keine einfachen Antworten auf die Frage geben, ob der Wald dahinsiecht, auf dem Weg der Besserung ist oder ob nach der drastischen Reduktion der Schadstoffemissionen in die Luft langsam Normalität in den Wald zurückkehrt.

 

Dr. Uwe Schulte

Händelstraße 10,
 71640 Ludwigsburg
 schulte.uwe@t-online.de

 

Literatur

Helmut Jäger: Einführung in die Umwelt- geschichte. Wissenschaftliche Buchgesell- schaft, Darmstadt, 1994.

 

 

Zitate

Das Waldsterben ist gestoppt. Wir haben den Trend umgekehrt. Der Baumbestand ist gesünder geworden. 

Ministerin Renate Künast, 2003

 

Mit dem diesjährigen Waldzustandsbericht liegen alarmierende Zahlen über den Gesundheitszustand des Waldes auf dem Tisch. 

Ministerin Renate Künast, 2004

 

Mit jedem Wachstums- und Regressionsschub in Bevölkerung, Technik und Wirtschaft ändern sich Menge und Art der auf die Umwelt einwirkenden Kräfte. Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr erhöht. Die räumliche Reichweite der Prozesse, die die Umwelt verändern, ist stark gestiegen.

 Helmut Jäger

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