Recht

Chance ergreifen statt Urteil kleinreden

Donnerwetter: Gut zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Urteils des Kammergerichts in dieser Zeitung – und knapp drei Monate nach Verkündung der Entscheidung! – äußert sich Lutz Tisch, ABDA-Geschäftsführer fürs Apotheken- und Arzneimittelrecht, erstmalig in der Berufsöffentlichkeit zu dem Aufsehen erregenden Urteil des Kammergerichts Berlin. 

Aber wie? Mit "Fakten", die nicht nur Schlimmes für die weiteren Schritte der ABDA und ihrer Rechtsabteilung befürchten lassen müssen, sondern auch eindrucksvoll unter Beweis stellen, dass man in der Jägerstraße offensichtlich immer noch nicht die Dimension des Berliner Urteils begriffen hat.

Kein Wort zu den zentralen Aussagen des Kammergerichts, die sich eben gerade nicht nur auf den konkreten Beklagten des Verfahrens beziehen, sondern auf alle niederländischen Versandapotheken, die apothekenpflichtige Arzneimittel nach Deutschland versenden. Dass Urteile in Zivilverfahren formal immer nur die konkreten Beteiligten (Kläger und Beklagten) binden, ist eine Binsenwahrheit des deutschen Zivilrechts. Damit den Eindruck erwecken zu wollen, dass eine Gerichtentscheidung deshalb keine generelle Bedeutung haben könne, ist grob irreführend.

Die Urteilsgründe des Kammergerichts ergingen nicht nur auf der Grundlage des GKV-Modernisierungsgesetzes einschließlich der aktuellen Versandhandelsregelungen, sondern berücksichtigen ausdrücklich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im DocMorris-Urteil. Das Berliner Urteil gipfelt in der Feststellung des Gerichts: "Die Tathandlungen (Anm.: nämlich der grenzüberschreitende Arzneimittelversand von den Niederlanden nach Deutschland) des Beklagten bzw der DocMorris N.V. (!) sind auch nach der Neuregelung des GMG (!)...verboten."

Wo, liebe ABDA-Juristen, hat man jemals klarere Aussagen in einem Urteil zum Versandhandel gelesen? Noch einmal: Die Berliner Entscheidung des Kammergerichts lässt sich 1:1 auf die Versandhandelspraktiken aller niederländischen Apotheken zu übertragen. Darin liegt die Sprengkraft der Entscheidung, die es nunmehr zu zünden gilt.

DocMorris hat dies – im Gegensatz zur ABDA – übrigens sehr schnell erkannt und nach Veröffentlichung des Urteils in der DAZ eine rege Presse- und Lobbytätigkeit in Gang gesetzt. Warum hätten die Herren Däinghaus & Co. dies tun sollen, wenn sie das Berliner Urteil gar nicht betreffen würde? Der Skandal ist, dass sich der smarte Niederländer dabei nahtlos auf die Statements von Rechts- und Öffentlichkeitsabteilung der ABDA (wie groß ist denn jetzt die Phalanx?) und die standeseigene PZ beziehen kann. Von Teilen der allgemeinen Presse wurde dies natürlich ebenso verwundert wie süffisant zur Kenntnis genommen.

Auch die weiteren aufgetischten "Fakten" vernebeln mehr als dass sie zur Klärung beitragen: Möglicherweise kann DocMorris in Deutschland in der Tat eine Versandhandelserlaubnis beantragen (das Kammergericht lässt diese Frage im Hinblick auf das "Territorialitätsprinzip" ausdrücklich unbeantwortet). Aber auch wenn dies der Fall sein sollte, läge darin eine neue Qualität. Eine Erlaubnis darf von der zuständigen deutschen Behörde nämlich nur dann erteilt werden, wenn die Vorgaben des deutschen Arzneimittel-, Apotheken- und Verbraucherschutzrechts erfüllt sind.

Auch preisrechtlich würde mehr Wettbewerbsgleichheit erreicht – von den Konsequenzen für die Zusammenarbeit der Gesetzlichen Krankenkassen mit niederländischen Versandapotheken ganz zu schweigen.

Und was soll der säuselnde Hinweis, dass das Verfahren des Deutschen Apothekerverbandes vor dem Landgericht Frankfurt/Main "Gelegenheit bietet, die Argumentation des Kammergerichts zu berücksichtigen"? Na, hoffentlich, ist man geneigt zu ergänzen.

Schlichtweg falsch ist es, nunmehr an verschiedenen Stellen (ADBA-Rundbrief, Leserbrief, Statements in der Presse) zu behaupten, dass die vom BMSG zu veröffentlichende "Länderliste" nach Auffassung des Kammergerichts "zu einer abweichenden rechtlichen Bewertung führen könne". In dem Urteil des Kammergerichts heißt es dazu wörtlich: "Die für die Listenführung nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AMG zuständige Behörde mag sich mit weniger offenkundigen EG-ausländischen Regelungen begnügen können, wenn ein hinreichender Informationsfluss mit den EG-ausländischen Behörden verlässlich abgesprochen ist. Im vorliegenden gerichtlichen Verfahren kann davon aber nicht ausgegangen werden."

Im Übrigen – und auf diesen entscheidenden rechtlichen Gesichtspunkt weist Dettling in seinem Aufsatz hin – wären deutsche Gerichte wohl nicht an die "Listen-Vorgaben" des Bundesministeriums gebunden, sondern ihrerseits zur Überprüfung der Gleichwertigkeit der in- und ausländischen Versandhandelsregelungen verpflichtet.

Was ist jetzt zu tun?

Es müssen schnellstens – am besten vom Berliner Apotheker-Verein (oder auch – stellvertretend – durch einzelne Apotheker) – alle niederländischen Versandapotheken, die nach Deutschland Arzneimittel liefern, abgemahnt und vor dem Landgericht Berlin auf Unterlassung ihrer Versandhandelstätigkeit mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln verklagt werden. Spätestens in der Berufungsinstanz wird dort mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entscheidung des Kammergerichts Berlin vom 4.11.2004 bestätigt werden (nämlich wiederum durch das Kammergericht selbst).

Dass das Urteil des Berliner Kammergerichts aufgrund der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision noch nicht rechtskräftig ist, ist hierfür ohne Bedeutung. Im Gegenteil: Sollte es nicht zu denken geben, dass sich die Pressesprecherin des Kammergerichts (!) in einer öffentlichen Stellungnahme verwundert gezeigt hat, dass dort bis zum 20. Januar keine (weitere) Klage auch gegen DocMorris eingegangen war? (Inzwischen hat der Verband Sozialer Wettbewerb (!) eine weitere Klage erhoben.)

Parallel dazu ist die ABDA aufgerufen, mit Nachdruck nunmehr auch alle anderen Versandhandelsregelungen des EU-Auslands unter die Lupe zu nehmen, um fundiert begründen zu können, ob das dortige nationale Recht dem "deutschen Apothekenrecht im Hinblick auf die Vorschriften zum Versandhandel entspricht". Nur soweit dies der Fall ist, dürfen von ausländischen Apotheken apothekenpflichtige Arzneimittel nach Deutschland versendet werden.

Es gibt also Einiges zu tun. Mit beschwichtigenden Rund- und Leserbriefen ist es nicht mehr getan, ebenso wenig mit einer auf Linie gebrachten Pharmazeutischen Zeitung, deren Berichterstattung und Kommentierung passagenweise eher DocMorris-Pressemitteilungen gleicht ("Schade, schade. Um ein Haar hätte DocMorris vor dem Kammergericht Berlin eine schwere Schlappe einstecken müssen...Deshalb ist das Urteil auch keine hohe Wellen schlagende Sensation") oder kreiert juristisch originelle Bildunterschriften ("Nicht gesetzeskonform aber auch nicht illegal. Päckchen von DocMorris").

Mit "fundierter Sachpolitik", die Tisch für sich reklamiert, hat dies nichts zu tun. Eher mit dem durchsichtigen, gleichwohl untauglichen Versuch, das lange Schweigen zu dem – Originalton PZ – "Urteil mit gravierendem Schönheitsfehler" (!) zu exkulpieren, indem die Entscheidungsgründe des Berliner Urteils im Nachhinein kleingeredet und bagatellisiert werden. Dass damit eine große Chance vertan wird, nehmen Teile des ABDA-Apparats dabei offensichtlich billigend in Kauf.

Christian Rotta

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