Fortbildung

"Blaue Biotechnologie" – Naturstoffe aus dem Meer

Über 70% der Erdoberfläche sind von Wasser Ų überwiegend Ozeanen Ų bedeckt. Während die Arzneipflanzenforschung schon eine sehr lange Geschichte hat, werden Meeresorganismen erst seit 1972 weltweit nach Leitstrukturen für Arzneistoffe erforscht. Dabei zeigte sich eine Vielzahl bioaktiver Substanzen vor allem in Wirbellosen, wie Schwämmen, Manteltieren (Tunicata) oder Schnecken. Die eigentlichen Produzenten der Wirkstoffe sind in vielen Fällen assoziierte oder symbiontisch lebende Mikroorganismen.

Die marine Kegelschnecke Conus magus erbeutet Fische mit Hilfe von hohlen, giftbeladenen Chitinzähnchen, die sie wie Pfeile abschießt. Die Schnecke injiziert dem Fisch quasi einen neurotoxischen Polypeptid-Cocktail und lähmt ihn dadurch. Einige der im Gift enthaltenen Polypeptide greifen auch in die Schmerzübertragung ein. So blockieren die ω-Conotoxine selektiv neuronale N-Typ-Calciumkanäle und unterdrücken damit das Schmerzempfinden. Das ω-Conotoxin MVIIA ist in den USA bereits als Schmerzmittel zugelassen (Ziconotid, Prialt®).

Ähnliche Naturstoffe unterschiedlicher Herkunft

Ein anderer "Star" der marinen Arzneistoffforschung ist Ecteinascidin 743 (ET 743) aus der Seescheide Ecteinascidia turbinata. Das Alkaloid war der spanischen Firma PharmaMar schon vor rund zehn Jahren bei Screeningverfahren für neue Krebsmittel aufgefallen, doch die Seescheiden-Bestände hätten nicht einmal genügend Wirkstoff für die klinische Prüfung hergegeben. Auch die gezielte Anzucht im Meer (Marikultur) reicht nur für 200 g Arzneistoff pro Jahr. Eine Vollsynthese ist zwar möglich, aber teuer.

Erst als mit Safracin B eine strukturverwandte Substanz aus Pseudomonas fluorescens gewonnen wurde, kam eine Lösung des Problems in Sicht. Das Bakterium ist leicht anzüchtbar, sodass jetzt Safracin B in großen Mengen gewonnen und daraus partialsynthetisch Ecteinascidin 743 hergestellt werden kann. Ecteinascidin 743 alkyliert die DNA. Als Antitumormittel hat es die klinischen Prüfungen der Phase II erfolgreich durchlaufen und besitzt in der EU den Orphan-Drug-Status zur Behandlung des Sarkoms (Tab. 1).

Wer ist der eigentliche Naturstoffproduzent?

In den vergangenen Jahren mehrten sich Hinweise darauf, dass häufig nicht die marinen Makroorganismen selbst (meist Wirbellose, wie Schwämme, Manteltiere und Schnecken, s. Tab. 1), sondern mit ihnen assoziierte oder in Symbiose lebende Mikroorganismen, wie Bakterien, Algen oder Pilze, die bioaktiven Naturstoffe produzieren. Allerdings lassen sich solche symbiontisch lebenden Bakterien in den meisten Fällen nicht außerhalb des Wirts kultivieren, sodass der Nachweis, dass sie die eigentlichen Produzenten sind, schwer zu führen ist.

Tab. 1: Marine Naturstoffe, die sich in der klinischen Prüfung zum Arzneistoff befinden (Phase I bis III).

Quelle: SpeziesVerbindungIndikationPhase
Dornhai
Squalus acanthias
Squalaminlactat Krebs II
Manteltiere 
Ecteinascidia turbinata 
Trididemnum solidum
Aplidium albicans
Ecteinascidin 743
Didemnin B
Aplidin 
Krebs
Krebs
Krebs
II/III
II
I/II
Moostierchen
Bugula neritina
Bryostatin IKrebsII
Seehaase (Schnecke)
Dolabella auricularia
Dolastatin 10
LU103793
Krebs
Krebs
II
II
Schnurwurm
Amphiporus lactifloreus
GTS-21Alzheimer/SchizophrenieI
Weichkoralle
Pseudopterogorgia elisabethae
MethopterosinEntzündung/WundeI
Schwämme
Agelas mauritianus
Petrosia contignata
Luffariella variabilis
KRN7000
IPL 576092
Manoalid
Krebs
Entzündung/Asthma
Entzündung/Psoriasis
I
I
I

Alkaloid-produzierendes Bakterium

Bei einigen interessanten Naturstoffen konnte die eigentliche Quelle sicher identifiziert werden: So galten lange Zeit Stämme des Meeresschwamms Xestospongia als Quelle des Alkaloids Manzamin A, das auf seine Wirksamkeit gegen Malaria geprüft wird. Im Schwamm wurden jedoch kürzlich Aktinomyzeten gefunden (Micromonospora Stamm M42), die auch außerhalb des Schwammes kultiviert werden können – und siehe da: Sie produzieren Manzamin A.

Keine Zufalls-WG: Moostierchen und Bakterien

Bryostatin I, ein Polyketid-Derivat aus dem marinen Moostierchen Bugula neritina (Bryozoa), ist als mögliches Antitumormittel von Interesse. Auch hier scheiterte die Entwicklung lange Zeit an der zu geringen Ausbeute: Aus 1 kg Biomasse erhält man durch Extrahieren und Fraktionieren nur 1 mg Bryostatin (Verhältnis 1 : 1 Mio.).

Kürzlich wurde ein mit den Moostierchen symbiontisch lebendes, taxonomisch noch nicht endgültig bestimmtes Bakterium entdeckt (Candidatus Endobugula sertula). Zieht man die Moostierchen in antibiotikahaltigem Medium heran, sinkt nicht nur die Zahl der symbiontisch lebenden Bakterien, sondern auch der Gehalt an Bryostatin. Die Gene für die Polyketid-Synthase vom Typ I wurden nur im Bakterium und nicht im Wirtsgewebe gefunden – ein weiterer Hinweis für die entscheidende Rolle des Bakteriums bei der Produktion des Bryostatins.

Der Kampf ums Überleben

Werden Naturstoffe aus Meeresorganismen auf eine Antitumorwirkung untersucht, ist die Trefferquote hoch – viel höher als bei der Testung sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe. Woran liegt es, dass marine Wirbellose und ihre assoziierten Mikroorganismen so viele hochwirksame Naturstoffe produzieren? Weil sie als "chemische Kampfstoffe" im Kampf ums Überleben dienen.

Die meisten Wirbellosen sind sesshaft und müssen ihren Platz gegen Angreifer behaupten. Überleben können nur die, die sich wirksam – mit harten Schalen oder abschreckenden Substanzen – vor Fressfeinden schützen. In der Karibik beispielsweise wird jeder Quadratmeter eines Korallenriffs etwa 100.000-mal am Tag von Fischen beknabbert.

 

Chemische Verteidigung bei Schwämmen

Meeresschwämme der Gattung Oceanapia, die in Mikronesien auf Korallen in flachem Wasser wachsen, werden von den meisten Fischen nicht angerührt. Die Schwämme enthalten Pyridoacridinalkaloide, insbesondere Kuanoniamin C und D, die auch für die rote Farbe des Schwamms verantwortlich sind. Feldversuche mit Futterwürfeln, in die Schwammextrakte bzw. die Naturstoffe eingearbeitet wurden, zeigten die fraßhemmende Wirkung von Kuanoniamin C und D. Die Alkaloide befinden sich hochkonzentriert in dem ins Wasser ragenden, also gefährdeten Teil des Schwammkörpers, dagegen deutlich niedriger konzentriert in den im Sand verborgenen Teilen.

Mittelmeerschwämme mit Wundschutz

Über eine Art Wundschutz verfügen der im Mittelmeer heimische Goldschwamm (Aplysina aerophoba) und die verwandte Art Aplysina cavernicola. Die Schwämme akkumulieren bromierte Isoxazolinalkaloide, die fraßhemmend wirken. Ist das Schwammgewebe verletzt, wird dort eine enzymatische Reaktion in Gang gesetzt, bei der niedermolekulare antibakteriell wirksame Substanzen entstehen. Die Reaktion verläuft sekundenschnell und ist spezifisch für Aplysina.

Rund 40% der Biomasse von Aplysina machen übrigens Bakterien aus, davon viele bislang noch nicht wissenschaftlich beschrieben. Die Lebensgemeinschaft zwischen Schwamm und Bakterien ist sehr stabil; auch bei künstlichem Transfer in andere Meerestiefen bleibt sie bestehen. Im Aquarium kann man Aplysina bis zu 6 Monate lang am Leben erhalten; hier verschwinden die Bakteriengesellschaften jedoch allmählich – sie werden möglicherweise vom Schwamm verdaut – und es werden schließlich keine Alkaloide mehr gebildet.

Pilze: mit Salz ganz andere Naturstoffe als ohne Salz

Auch marine Pilze produzieren biologisch aktive Verbindungen. Die interessantesten Naturstoffproduzenten unter ihnen leben in Assoziation mit Meeresschwämmen oder Meeresalgen. Überraschenderweise synthetisiert der fakultativ marine Schimmelpilz Aspergillus niger, der auch vom terrestrischen Habitat bekannt ist, im Meer ganz andere Naturstoffe als zu Lande, beispielsweise die Pyranol[3,2-b]pyrrole Pyranonigrin A bis D und die 4-Benzyl-6-pyridinone Aspernigrin A und B. Aspernigrin B wirkt möglicherweise neuroprotektiv, indem es den Calciumeinstrom in die Nervenzelle hemmt.

Susanne Wasielewski, Münster

Marine Pilze 

Als marine Pilze werden Pilze bezeichnet, die bei Salzkonzentrationen, wie sie im Meer vorkommen, wachsen und sich vermehren. Man unterscheidet obligat marine Pilze, die nur in Gegenwart von Salzwasser leben und sporulieren, von fakultativ marinen Pilzen, die auch im salzfreien Medium leben können. Die größere Gruppe bilden die fakultativ marinen Pilze.

Quelle 
Vortrag „Marine Organismen als Quellen bioaktiver Naturstoffe“ von Prof. Dr. Peter Proksch, Düsseldorf, auf einer Veranstaltung der DPhG am 8. November 2005 in Münster/Westf. 
Weitere Informationen bei: www.uni-duesseldorf.de/HHU/Jahrbuch/2003/Proksch.

 

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