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Getrübte Freude trotz Milliarden-Einsparungen

BERLIN (ks). Auf den ersten Blick ist die Botschaft des diesjährigen Arzneiverordnungs-Reports (AVR) erfreulich: Noch nie konnten die Arzneimittelausgaben so sehr gesenkt werden wie 2004. Auch das alljährlich berechnete Einsparpotenzial ist erheblich gesunken: Die AVR-Autoren beziffern es auf 2,9 Mrd. Euro – 2003 waren es noch 4,5 Mrd. Euro. Doch an diesen Zahlen konnte sich bei der Vorstellung des aktuellen Arzneiverordnungs-Reports am 14. Oktober in Berlin niemand so recht erfreuen. Denn 2005 schnellen die Ausgaben für Medikamente wieder nach oben. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt macht hierfür die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen verantwortlich.

AVR-Herausgeber Prof. Dr. Ulrich Schwabe stellte die Zahlen aus dem Jahr 2004 vor: Der Bruttoumsatz für Fertigarzneimittel ging gegenüber 2003 um nahezu 2,5 Mrd. Euro auf 21,7 Mrd. Euro zurück. Die Anzahl der verordneten Packungen reduzierte sich im Vergleich zum Vorjahr um fast ein Viertel auf 570 Mio. Stück.

Der Anteil der Arzneimittelausgaben an den GKV-Gesamtausgaben sank von 16,7 auf 15,6 Prozent. Ursächlich für diese Entwicklung waren die Maßnahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG): So bescherte den Krankenkassen der Ausschluss rezeptfreier Arzneimittel Einsparungen in Höhe von 1,1 Mrd. Euro. Fast ebensoviel (1 Mrd. Euro) brachte der für ein Jahr auf 16 Prozent erhöhte Herstellerrabatt ein. Zusätzliche 470 Mio. Euro spülten die höheren Patientenzuzahlungen in die Kassen.

Größtes Sparpotenzial bei Analogpräparaten

Trotz dieser positiven Zahlen: Schwabe hat auch in diesem Jahr weitere milliardenschwere Einsparpotenziale entdecken können. Seinen Berechnungen zufolge könnten durch den konsequenteren Einsatz von Generika Reserven von 1,1 Mrd. Euro gehoben werden – das sind 395 Mio. Euro weniger als 2003. Bei Analogpräparaten und umstrittenen Arzneimitteln sank das Einsparpotenzial gegenüber dem Vorjahr zwar noch beträchtlicher – ausgeschöpft ist es dem AVR zufolge aber noch lange nicht. Analoga erreichten mit 785 Mio. Euro die größte Abnahme bei den Wirtschaftlichkeitsreserven, liegen mit einem Wert von 1,2 Mrd. Euro aber noch immer an der Spitze der drei in den Fokus genommenen Arzneimittelgruppen. Bei den umstrittenen Arzneimitteln ist den AVR-Autoren zufolge noch ein Puffer von rund 600 Mio. Euro drin – 2003 errechneten sie hier noch ein Sparpotenzial von einer Mrd. Euro.

Kritik am Pharma-Marketing

Schwabe wies zudem auf Sonderentwicklungen bei COX-2-Hemmern und dem Cholesterinsenker Atorvastatin (Sortis) hin: Durch die Marktrücknahme der COX-2-Hemmer Vioxx (September 2004) und Bextra (April 2005) sind Kosten von rund 170 Mio. Euro ausgefallen. Ebensoviel sparten die Kassen dadurch, dass Pfizer sich weigerte, den Preis für Sortis auf Festbetragsniveau zu senken. Für Schwabe sind dies "nur zwei prägnante Beispiele, die unnötige Nebenwirkungen und Kosten durch gezielte Desinformation von Pharmafirmen aufzeigen". Es gebe noch viele andere Arzneimittel mit nur marginalen Vorteilen zu erheblich höheren Kosten – etwa die neuen Insulinanaloga. Schwabe empfahl den Ärzten ausdrücklich, die Promotion dieser Präparate mit Vorsicht zu genießen und "die Prinzipien der rationellen Arzneimitteltherapie einzuhalten". Vor allem Krankenhausärzte seien gefordert, die "gebotene Distanz zu Herstellerinteressen zu wahren". Um die Marketingmethoden der Hersteller einzuschränken, schlagen die AVR-Autoren unter anderem vor, gleiche Arzneimittelpreise in Apotheken und Krankenhäusern einzuführen und Ärztemuster abzuschaffen.

Höhere Kassenbeiträge zu befürchten

Dass die Arzneimitteldaten des vergangenen Jahres keinen Grund geben, sich in Sicherheit zu wiegen, machte AVR-Mitherausgeber Dr. Dieter Paffrath deutlich. Wenngleich 2004 im verschreibungspflichtigen Segment die Mengen- und die Preiskomponente deutlich zurückgingen (– 9,7 Prozent bzw. – 4,6 Prozent), konnte das GMG der Strukturentwicklung keinen Einhalt gebieten. Die Strukturkomponente schlug im vergangenen Jahr bei den rezeptpflichtigen Arzneimitteln mit + 10,6 Prozent bzw. einer Umsatzsteigerung von 2,2 Mrd. Euro zu Buche. Auch im laufenden Jahr bereitet sie Sorge – derzeit liegt sie bei + 6,5 Prozent. Darüber hinaus steigen die Verordnungszahlen wieder und greifen zeitlich befristete Sparmaßnahmen nicht mehr. Die Folge ist eine Steigerungsrate von derzeit fast 20 Prozent bei den Arzneiausgaben. Paffrath wies darauf hin, dass dies für die GKV Mehrausgaben von etwa vier Mrd. Euro bedeute, was 0,4 Beitragssatzpunkten entspricht. Infolgedessen sieht er "die Gefahr flächendeckender Beitragsatzerhöhungen schon Anfang 2006, wenn nicht noch in diesem Jahr gegengesteuert wird."

Apothekenvergütung und Naturalrabatte prüfen

Um die Ausgaben im Griff zu behalten, schlägt der AVR unter anderem vor, die Apothekenvergütung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Auch wenn die Apotheker durch die im GMG getroffene Neuregelung nicht mehr vom Trend zu teuren Verordnungen profitieren, zeige sich, dass sie zu den "Gewinnern der Reform" gehören. "Über eine Reduzierung des Fixzuschlages sollte daher nachgedacht werden", sagte Paffrath. Ebenso müsse überdacht werden, wie mit dem "Problem überbordender Naturalrabatte bei Apotheken" umgegangen werden sollte. Geht es nach Paffrath, so sollte die Hälfte dieser Rabatte an die Krankenkassen weitergeleitet werden. Als weitere "schnell wirksame Maßnahme" schlug Paffrath vor, dauerhaft einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie zu etablieren – etwa in Form des wieder erhöhten Herstellerrabatts.

Schmidt: Sanktionen sind notwendig

Bundesgesundheitsministerin Schmidt zeigte sich enttäuscht, dass trotz aller gesetzlichen Maßnahmen keine wirkliche Trendwende zu einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis bei den Arzneimittelverordnungen stattgefunden habe. Sie beklagte, dass die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen die gegebenen Instrumente nur eingeschränkt umsetzten. Stattdessen denke man bei den Kassen über höhere Beiträge nach und warte offenbar auf neue Kostendämpfungsgesetze. Wenig Verständnis zeigte die Ministerin auch dafür, dass sich die Ärzteschaft beharrlich weigert, in ihren Zielvereinbarungen mit den Kassen die Möglichkeit einer Sanktionierung unwirtschaftlicher Verordnungsweise aufzunehmen. Sie verwies darauf, dass sich die Selbstverwaltung noch im November letzten Jahres eine Zielgröße von 5,8 Prozent Ausgabenwachstum für das Jahr 2005 gesetzt hatte. Tatsächlich sei diese Zielmarke um mehr als das Dreifache verfehlt worden. Sollte die Selbstverwaltung es nicht schaffen, dieses Problem in den Griff zu bekommen, so müsse der Gesetzgeber "die Strukturen so verändern, dass gesetzte Ziele auch tatsächlich erreicht werden", sagte Schmidt

Ärzte wehren sich gegen Vorwürfe

Dr. Leonhard Hansen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, wehrte sich gegen die Vorwürfe der Ministerin: Jeder habe gewusst, dass die für 2005 mit den Kassen vereinbarte Steigerungsrate von 5,8 Prozent "unrealistisch" gewesen sei. Man habe jedoch "ganz bewusst tief gestapelt", um der Pharmaindustrie nicht das Signal zu geben, sie könne ihre Preise erhöhen. Den AVR-Autoren warf Hansen vor, ihre Berechungen zu den Einsparpotenzialen seien "virtuell". So seien etwa die Machbarkeitsgrenzen beim Einsatz von Generika erreicht. Deutschland sei bereits jetzt Weltmeister bei der Verordnung von generischen Präparaten. Zudem zeige ein nordrheinisches Projekt zur Pharmakotherapieberatung, dass es zwar möglich ist, Ärzte zur Verordnung von mehr Generika und weniger Analoga zu bewegen. Würde man die Beratungen deutschlandweit ausdehnen, ließe sich aber im besten Fall ein Einsparvolumen von 700 Mio. Euro realisieren.

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