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Rürup: Systemwechsel unwahrscheinlich

DÜSSELDORF (im). Spätestens wenn der Druck auf die Beitragssätze der klammen Krankenkassen wieder steigt, könnten die Gesundheitspolitiker zu schnellen Maßnahmen wie der Erhöhung der Mehrwertsteuer greifen, um die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren. Dass es zu einem Systemwechsel kommt – hin zur Bürgerversicherung oder zur Gesundheitspauschalprämie – hält Professor Bert Rürup für unwahrscheinlich. Denn ideologische Gründe machten die Konzepte von SPD/Grünen und der Opposition unvereinbar, erklärte der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen am 29. Mai auf dem Wirtschaftsforum des Deutschen Apothekerverbands in Düsseldorf.

Mögliche Sofortmaßnahmen

Der Darmstädter Finanzwissenschaftler prognostizierte für die Zukunft rasch umsetzbare Maßnahmen innerhalb des heutigen Gesundheitssystems, da das GKV-Modernisierungsgesetz nicht die Finanzierungsgrundlage der Kassen auf Dauer sichere. Mögliche Schritte könnten neben der Auszahlung des Arbeitgeberanteils als Lohnbestandteil oder der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen mittels höherem Bundeszuschuss die Verdoppelung der Beitragsbemessungsgrenze für Ehepaare sein.

Hinter letzterem Vorschlag verbirgt sich die Tatsache, dass Paare, bei denen beide verdienen, in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für den gleichen Schutz viel mehr zahlen müssen als Paare mit demselben Bruttoeinkommen, aber nur einem Alleinverdiener. Bei einem Bruttolohn von 5000 Euro zahlt der Alleinernährer seine Hälfte des rund 14prozentigen Kassenbeitrags nur einmal bis zur Bemessungsgrenze von derzeit 3525 Euro, verdienen dagegen der Mann und die Frau jeweils 2500 Euro, fällt zweimal der prozentuale Kassenbeitrag an.

Problemlos könnte darüber hinaus eine steuerfinanzierte Kinderversicherung kommen, um die GKV zu entlasten, meinte Rürup, der zu Jahresbeginn zum Vorsitzenden des Sachverständigenrats ("Fünf Weisen") gewählt wurde. Damit würde die negative Entwicklung der letzten Jahrzehnte gestoppt, die gesellschaftliche Aufgaben über Sozialversicherungsbeiträge finanzierte und auf das jetzige Rekordhoch trieb.

Um die "Unwucht" der rückläufigen Steueranteile bei zu hohen Sozialabgaben zu beseitigen und den Faktor Arbeit zu entlasten, könnte zum Beispiel die Mehrwertsteuer gemeinsam mit einer Reform der Unternehmensbesteuerung erhöht werden, schlug Rürup vor, wobei die eingenommenen Mittel nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden dürfen. Für solche Einzelschritte könnte sich jeweils eine informelle große Koalition finden, die wegen der Beteiligung des Bundesrats an größeren Reformen notwendig ist.

Rürup nannte Zahlen zur Schieflage bei der Finanzierung unseres Gemeinwesens: Alle staatlichen Zwangsabgaben erreichen zusammen 860 Milliarden Euro, von denen zur Zeit 55 Prozent auf Steuern und 45 Prozent auf Sozialabgaben entfallen. 1970 lagen der Steueranteil noch bei 70 und die Sozialbeiträge bei 30 Prozent.

Modelle unvereinbar

Wie der Finanzwissenschaftler betonte, sind die entscheidenden Unterschiede der Reformvorschläge zwischen SPD/Grünen und der Opposition ideologisch bedingt. Denn die Vertreter der Regierungsfraktionen als Verfechter der Bürgerversicherung betrachteten Versicherungsschutz und Gesundheitsversorgung als Grundrechte, auf die jeder einen Anspruch hat. Dann sei es konsequent, diese nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit von allen über steuerliche Abgaben finanzieren zu lassen.

Dagegen betrachte die Union als Pauschalprämienanhänger die Gesundheitskosten als Güter, die über Preise finanziert werden und bei denen Einkommensumverteilung keinen Platz hat. Bei diesen beiden Gegenpolen – Steuer versus Preis – gibt es laut Rürup keinen Kompromiss. Wegen der grundsätzlichen Meinungen bei den Fraktionen hält der Ökonom einen Parteiengrenzen überschreitenden Kompromiss für eine große Gesundheitsreform für unwahrscheinlich.

"System hat Vorzüge"

Fundamentalkritik am deutschen Gesundheitswesen lehnte er ab. Es sei falsch, einen drohenden Kollaps an die Wand zu malen. Das deutsche System habe zwar Defekte, zeichne sich aber auch durch viele Vorteile wie den Gesundheitsschutz für die gesamte Bevölkerung, die kürzesten Wartezeiten der Welt und das Fehlen von alters- und einkommensabhängigen Zugangsbarrieren aus. Die entscheidende Schwäche sei allerdings die beschäftigungsfeindliche Finanzierung, die angesichts hoher Arbeitslosigkeit und der Globalisierung ökonomisch falsch sei.

Als unwahr wies Rürup die behauptete Kostenexplosion in der GKV zurück. Vielmehr sei der Anteil der Leistungsausgaben der GKV gemessen am Bruttoinlandsprodukt fast konstant geblieben, nach der Wiedervereinigung habe sich das Niveau nur leicht von sechs auf sieben Prozent verschoben. Allerdings seien die Beitragssätze im gleichen Zeitraum sehr stark von 8,5 Prozent auf 14,3 Prozent gestiegen. Gründe seien sinkende Einnahmen wegen der Arbeitslosigkeit, Frühverrentungsmaßnahmen, aber vor allem "Verschiebebahnhöfe" der Politik zu Lasten der Krankenkassen.

Trügerisch nannte der Finanzwissenschaftler die Hoffung auf Kostensenkungen durch den medizinischen Fortschritt oder die Prävention. Zwar verbessere die Prävention den Gesundheitszustand der Bevölkerung, sie könne aber keine zusätzlichen Mittel für das Gesundheitswesen generieren. Daher müsse eine neue Gesundheitsreform angegangen werden, die klären muss, wie sinnvolle Kapitaldeckung organisiert werden kann, wie die Probleme im Zusammenhang mit der willkürlichen Pflichtversicherungsgrenze entschärft und wie angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und der zunehmenden Zahl Älterer die Beitragsbemessung richtig definiert werden kann.

"Ich weiß, Sie arbeiten intensiv daran, aber auch Ihnen ist es nicht gelungen, die Sterbewahrscheinlichkeit unter hundert Prozent zu senken."

Professor Bert Rürup

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