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Friedrich von Schiller, ein Schnüffler?

Wenn am 23. April 2005 im Marbacher Schiller-Nationalmuseum eine große Schau eröffnet wird, so stehen dort – im Gegensatz zu einer Präsentation in Weimar – materielle Lebenszeichen des vor 200 Jahren verstorbenen Dichters im Mittelpunkt. Gezeigt wird auch ein Paar mehrfach gestopfter brauner Strümpfe. Schiller stammte schließlich aus bescheidenen Verhältnissen und musste lange Jahre – im Gegensatz zu Goethe – sehr sparsam leben.

 

Inspiration durch faule Äpfel

Fehlen werden in der Marbacher Ausstellung aus Gründen mangelnder Haltbarkeit die berühmt-berüchtigten faulen Äpfel, die, wie nachstehend glaubhaft gemacht werden kann, in Schillers Leben eine essenzielle Rolle gespielt haben.

"Eine Luft, die Schillern wohltätig war, wirkte auf mich wie Gift. Eines Tages setzte ich mich an seinen Arbeitstisch um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so dass ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete fand ich zu meinem Erstaunen, dass sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohltue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne."

Kein Geringerer als der andere Weimarer Dichterfürst wurde von solchem Übelbefinden "überschlichen", als er sich in Schillers Wohnung befand und auf ihn wartete. Die Geschichte von den faulen Äpfeln ist also keine erfundene Anekdote, sondern kann wörtlich im dritten Teil von Johann Peter Eckermanns "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens" nachgelesen werden (Goethe am 1. Oktober 1827 zu Eckermann).

Berauscht durch Schnüffeln

Was brauchte Schiller, um schreiben und leben zu können? Was produzierten die faulen Äpfel? Es war das Ethylen, heute als Ethen bezeichnet, das ihn stimulierte, wenn er es einatmete.

Schnüffeln oder Sniffen (engl. to sniff) nennt man das Inhalieren von gasförmigen oder leichtflüchtigen organischen Substanzen wie Hexan, Benzin, Aceton, Trichlorethylen (Ethylentrichlorid), Lackverdünner, Lösemittel für Klebstoffe, Haarsprays, Deodoranzien, Essigsäureester (Alkylacetate) oder Salpetrigsäureester (Alkylnitrite). Von Letzeren wollen wir absehen, weil wir ansonsten vielleicht bei Goethe landen, und zwar über ein Zitat aus Faust I: "Frau Nachbarin, Euer Fläschchen!".

Schnüffeln, das besonders unter Jugendlichen verbreitet ist, erzeugt kurz andauernde Rauschzustände. Es kann bei wiederholter Anwendung zu Abhängigkeit und Sucht führen. Doch wollen wir mal mit Schiller nicht so streng ins Gericht gehen. Es steht nicht fest, ob er bereits als Jugendlicher gesnifft hat. Denkbar und verzeihbar wäre das schon gewesen, wenn man an die acht harten Jahre in der Militärakademie denkt, die der absolutistisch regierende Herzog Carl Eugen (1728 – 1793) dem oft kränkelnden Knaben ab seinem vierzehnten Lebensjahr aufgezwungen hatte.

Was Sie immer schon über Ethylen wissen wollten

Wenden wir uns konkreten Fragen zu, die zu Schillers Zeiten nur dürftig hätten beantwortet werden können und die ihn nur marginal interessiert hätten. Dagegen wäre die Beantwortung der dritten Frage für Goethe, der ja naturwissenschaftliche Ambitionen hatte und sich besonders mit der Urpflanze beschäftigte, von besonderer Bedeutung gewesen.

  • Was ist Ethylen?
  • Woher kommt es?
  • Was macht Ethylen?
  • Wozu dient es?

Ethylen (Ethen) ist aus zwei Kohlenstoff- und vier Wasserstoff-Atomen aufgebaut, hat eine symmetrische Struktur und stellt das Anfangsglied der homologen Reihe einfach ungesättigter Kohlenwasserstoffe dar. Es ist ein farbloses Gas von schwach süßlichem Geruch, das an der Luft mit rußender, leuchtender Flamme brennt und mit Luft explosive Gemische bildet. In Wasser ist es praktisch unlöslich, mit unpolaren, organischen Lösemitteln in jedem Verhältnis mischbar.

Ethylen ist eines der wichtigsten Produkte der Petrochemie und wird heute überwiegend durch thermisches Cracken von Erdöl gewonnen. Ethylen ist aber auch ein häufig anzutreffender sekundärer Naturstoff. Es wird von reifen und überreifen Früchten ausgeschieden. Die Biosynthese in der Pflanze geht von Methionin aus, das an Adenosin zu S-Adenosyl-Methionin gebunden wird. Folgeprodukt ist die 1-Amino-cyclopropan-1-carbonsäure, die bei Einwirkung einer spezifischen Oxidase Ethylen freisetzt.

Kleines Molekül mit großer Wirkung

Was macht Ethylen? Das Einatmen von Ethylen führt zu Übelkeit, Schwindel und Bewusstlosigkeit. Goethe lag also mit der etwas übertrieben anmutenden Beschreibung seines Zustandes in Schillers Arbeitszimmer gar nicht so falsch. Er beobachtete und beschrieb auch das rasche An- und Abfluten der Wirkung, das für Inhalationsnarkotika typisch ist. Von den genannten Symptomen abgesehen, ist keine spezifische Giftwirkung von Ethylen bekannt.

Ethylen ist ein Phytohormon, das die Entwicklung und Alterung von Pflanzen beeinflusst. Als gasförmiger Stoff befindet es sich hauptsächlich in Interzellularräumen. Zu seinen Funktionen gehören das Wurzelwachstum, die Blütenentwicklung, die Fruchtreifung, der herbstliche Abwurf der Blätter (Abszission) und das Absterben von Pflanzenteilen (Seneszenz). Der wachstumssteigernde Effekt auf die Wurzeln war bei Pflanzen aufgefallen, die in der Nähe defekter Stadtgasleitungen wuchsen und ein ungewöhnliches Wachstum zeigten.

Von besonderer Bedeutung für die phytohormonellen Funktionen des Ethylens ist die enorme Steigerungsfähigkeit der verfügbaren Menge. Sie kommt dadurch zustande, dass bereits kleine Ethylenmengen katalytisch auf die weitere Biosynthese einwirken und damit für die weitere Freisetzung von Ethylen sorgen (s. o.). So ist auch erklärbar, dass eine Frucht in allen ihren Teilbereichen zugleich reift.

Eine weitere pflanzenphysiologische Bedeutung besitzt Ethylen als Signalstoff bei Verwundungen oder Schädlingsbefall von Pflanzen. Im Zusammenspiel mit anderen Wirkstoffen verursacht es in solchen Fällen das Absterben des betroffenen Gewebes und stimuliert die Produktion von Abwehrgiften.

Anwendungsmöglichkeiten früher und heute

Wozu dient Ethylen? In der chemischen Industrie ist es Ausgangsstoff für die Synthese zahlreicher Petrochemikalien. Technisch wird es auch als Brenngas eingesetzt. Wegen seiner narkotischen und muskelentspannenden Wirkung wurde Ethylen bis vor wenigen Jahren als Inhalationsanästhetikum gebraucht. Die erste therapeutische Anwendung erfolgte 1923 in Chicago. Heute ist es in diesem Zusammenhang obsolet, und zwar wegen seiner geringen therapeutischen Breite, seiner relativ schwachen Wirkung, der Brennbarkeit und des unangenehmen Geruchs.

Sieht man von der chemisch-industriellen Nutzung des Ethylens ab, so liegt seine größte Bedeutung heute in der Lebensmittelbranche. Geläufig ist sein Einsatz in der Landwirtschaft, um unreif geerntete Früchte wie Ananas, Bananen oder Tomaten nachträglich, z. B. nach dem Transport über weite Strecken, zum Reifen zu bringen. Dazu ist nicht unbedingt die Gabe von synthetischem Ethylen vonnöten. Unreife Tomaten können beispielsweise auch "gereift" werden, wenn man einige reife Tomaten zu ihnen legt. Umgekehrt lässt sich der Reifungsprozess von Früchten verzögern, indem man das von ihnen gebildete Ethylen durch geeignete Vorrichtungen absaugt.

Ein synthetischer Ethylenbildner ist Camposan® (2-Chlorethylphosphonsäure, Ethephon), das zur Blüteninduktion, zur Reifebeschleunigung im Obstbau, aber auch zur Verbesserung der Halmfestigkeit von Getreide eingesetzt wird. Solche Erkenntnisse hätten Goethe wahrscheinlich stark interessiert. Schiller hätten sie vermutlich nur dazu veranlasst, einige weitere faule Äpfel in seine Schieblade zu legen, denn er war tatsächlich ein Ethylen-Schnüffler – und dies zum Segen der Menschheit.

 

Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c. Hermann J. Roth Friedrich-Naumann-Str. 33, 76187 Karlsruhe
www.h-roth-kunst.com

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