Arzneimittel und Therapie

Von Mythen und Märchen

Zur Entstehung und Behandlung einer Verstopfung existieren bei Laien und oft auch in Fachkreisen beharrlich vertretene Vorstellungen - beispielsweise zur allgemeinen Lebensweise -, die in vielen Fällen jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehren. Dies haben internationale Gastro-Experten aufgegriffen und gemeinsam eine Übersichtsarbeit zu den "Mythen und falschen Vorstellungen zur Verstopfung" erarbeitet. Wir sprachen mit dem federführenden Gastroenterologen Prof. Dr. Stefan A. Müller-Lissner, Chefarzt der Abteilung Innere Medizin der Parkklinik Weißensee, Berlin.

 

DAZ

Für den Artikel "Mythen und falsche Vorstellungen über die chronische Obstipation", der im American Journal of Gastroenterology im Januar 2005 publiziert wurde, wurden die Arbeiten der letzten 30 Jahre gesichtet, von denen 105 Daten zum Thema Verstopfung enthielten. Herr Professor Müller-Lissner, was gab Ihnen den Anstoß, diese Übersichtsarbeit zu verfassen?

Müller-Lissner:

In der täglichen Praxis erlebe ich es immer wieder, dass so genannte allgemeine Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind. Verstopfte Patienten erleben einen sehr großen Leidensdruck, sie verspüren ein starkes Unwohlsein und haben Schuldgefühle, weil sie den Fehler bei sich selbst suchen, z. B. falsche Ernährungsweisen als Ursache der Verstopfung ansehen. Als Ziel dieses Übersichtsartikels haben sich die Kollegen aus Amerika, Großbritannien sowie Italien und ich uns gesetzt, die Evidenz verschiedener Aspekte der Obstipation zu hinterfragen und somit Fachkreisen und Laien den wissenschaftlichen Hintergrund dieser Aussagen darzustellen.

DAZ

Welches sind denn diese beharrlich vertretenen Auffassungen zur Entstehung und Behandlung einer Verstopfung?

Müller-Lissner:

Hier sind insbesondere die allgemeinen Maßnahmen wie Ballaststoff- und Flüssigkeitszufuhr sowie körperliche Aktivität zu nennen. Zum einen wird eine Unterversorgung, z. B. eine nicht ausreichende Flüssigkeitszufuhr, als Ursache einer Verstopfung gesehen. Auf der anderen Seite wird auch zur Therapie, also zur Behebung der Obstipation, häufig noch eine gesteigerte Flüssigkeitszufuhr empfohlen.

DAZ

Ist es denn nicht richtig, dass Verstopfung auf eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr zurückzuführen ist und dass durch ausreichendes Trinken eine Besserung erzielt werden kann?

Müller-Lissner:

Das ist genau der Punkt: Wir haben die zur Verfügung stehende Literatur durchgesehen und kamen zu dem Ergebnis, dass der Darminhalt in relevantem Umfang durch eine Veränderung der Flüssigkeitsaufnahme im Bereich von etwa einem halben bis drei Litern nicht beeinflusst werden kann. Außer bei nur wenigen Patienten, bei denen eine Dehydratation zur Obstipation beitragen mag, liegen keine Daten vor, dass eine Verstopfung durch eine Steigerung der Flüssigkeitsaufnahme erfolgreich behandelt werden kann.

DAZ

In der Apotheke gilt beim Kauf eines Ballaststoffpräparates die gängige Empfehlung "mit viel Wasser einnehmen". Ist dies denn wissenschaftlich belegt?

Müller-Lissner:

Das ist genauso ein Mythos. Wahrscheinlich stammt dieser aus Beobachtungen, die an bettlägerigen Patienten gemacht wurden. Bei diesem Personenkreis kann nach der Einnahme von Weizenkleie eine Stuhlimpaktion durch zusammen geklumpte Ballaststoffe beobachtet werden, die aber durch Trinken wohl nicht verhindert werden kann. Der Gastrointestinaltrakt setzt pro Tag ca. sieben Liter Flüssigkeit um. Der Körper erhält ca. ein bis zwei Liter Flüssigkeit aus Getränken, etwa einen Liter Speichel, einen Liter Magensaft, je einen halben Liter Galle und Bauspeichel und vier Liter Dünndarmsaft.

Im unteren Dünndarm wird die größte Flüssigkeitsmenge resorbiert, weitere ein bis zwei Liter werden aus dem Dickdarm in den Körper aufgenommen. Bei diesen Dimensionen spielt es für zusätzlich eingenommene Ballaststoffe im Dickdarm keine Rolle, ob zur Einnahme nun 200 ml mehr oder weniger getrunken wurden.

DAZ

Herr Professor Müller-Lissner, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Ulrika Hinkel, Bad Vilbel

Teil 2 des Interviews lesen Sie in der nächsten Ausgabe der DAZ!

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