Arzneimittel und Therapie

Atomoxetin – eine sichere Alternative zu Methylphenidat?

Mit Atomoxetin (Strattera®) steht jetzt auch in Deutschland eine Alternative zu der etablierten Methylphenidat-Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung zur Verfügung. Welche Vorzüge weist die neue Substanz gegenüber Methylphenidat auf, wann sollte sie eingesetzt werden, welche Probleme können auftreten und wie sind die vor kurzem von der Britischen Arzneimittelaufsichtsbehörde Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) ausgesprochenen Warnungen zu Leberfunktionsstörungen unter Atomoxetin-Behandlung zu bewerten?

Antworten auf diese Fragen gibt Dr. Katja Becker, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Frau Dr. Becker ist kommissarisch leitende Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

DAZ

Atomoxetin ist zugelassen zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern ab sechs Jahren und Jugendlichen. Allerdings ist oft die Diagnosestellung nicht einfach. Wie lässt sich ADHS sicher diagnostizieren? Welche anderen Krankheitsbilder sind auszuschließen?

Becker:

Die Diagnostik der ADHS gehört in die Hände eines Facharztes oder einer Fachärztin und sollte entsprechend der Leitlinien zu Diagnostik und Therapie der Deutschen Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie erfolgen. Die störungsspezifische Diagnostik umfasst eine umfangreiche Befragung der Eltern und des Kindes bzw. des Jugendlichen (zum Auftreten der Zielsymptome; Variabilität usw.), Informationen von Schule oder Kindergarten (mit Eltern-Einverständnis), Verhaltensbeobachtung, körperlich-neurologische Untersuchung und testpsychologische Untersuchungen (auch Intelligenzdiagnostik; bei Vorschulkindern ausführliche Entwicklungsdiagnostik). Laboruntersuchungen sowie die Durchführung eines EEGs sind auch zu empfehlen.

Je nach Anamnese und Befund des jeweiligen Patienten sind weitere Untersuchungen notwendig, um organische Ursachen auszuschließen oder zur Differenzierung anderer psychischer Störungen. Organische Störungen, die AD(H)S-ähnliche Symptome hervorrufen könnten, wären z.B. Schilddrüsenfunktionsstörungen (Hypo- oder Hyperthyreosen) oder Absence-Epilepsien. An psychischen Differenzialdiagnosen sind tief greifende Entwicklungsstörungen (z.B. Autismus), Störungen des Sozialverhaltens, Persönlichkeitsstörungen, depressive Episoden oder Dysthymie, Angststörungen oder Anpassungsstörungen zu bedenken.

Auch können eine nicht der Intelligenz entsprechende Schulform und/oder Teilleistungsstörungen zu Problemen führen. Es muss auch immer bedacht werden, dass verschiedene Störungen und Symptome (z.B. oppositionelle Störungen, Tics, Teilleistungsstörungen wie Lese-Rechtschreibstörung oder Rechenstörungen) zusätzlich zu der ADHS bestehen können und besonderer Intervention bedürfen.

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Der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin soll im Gegensatz zu Methylphenidat kein Psychostimulans sein, aber es ist eine psychotrope Substanz. In der Fachinformation zu Atomoxetin heißt es: "Wie bei anderen psychotropen Substanzen kann die Möglichkeit seltener, aber schwerwiegender psychiatrischer Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen werden." Was bedeutet das? Muss man bei einer Atomoxetin-Behandlung wie bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) und den selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) bei Vorliegen beispielsweise von Depressionen an eine erhöhte Suizidgefahr denken (s. Kasten)?

Becker:

Atomoxetin gehört nicht zur Gruppe der Psychostimulanzien und muss auch nicht auf einem speziellen BtM-Rezept verordnet werden. Es wird insgesamt gut vertragen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind selten und oft nur vorübergehend. Die Zulassung hat Atomoxetin zur Behandlung der ADHS bei Kindern ab sechs Jahren und Jugendlichen, es ist also kein Antidepressivum. Wenn ein ADHS-Patient zusätzlich depressive Symptome aufweist, kann es sein, dass sich diese mit der Reduktion der ADHS-Symptome auch verbessern. Hat ein Patient neben der ADHS zusätzlich eine depressive Episode, also eine manifeste Depression, wäre Atomoxetin in Monotherapie nicht ausreichend, da es kein Antidepressivum ist.

Es spricht aber auch nichts gegen eine Kombination von Atomoxetin mit z.B. einem SSRI, außer dass bei einer kombinierten Gabe mit manchen SSRI eine Dosisreduktion von Atomoxetin erfolgen sollte, weil z.B. Fluoxetin ein Inhibitor des CYP2D6-Stoffwechselweges ist und damit den Abbau von Atomoxetin verlangsamt. Grundsätzlich muss bei Patienten mit Depression immer auch an Suizidalität als Symptom gedacht werden, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass Atomoxetin die Suizidgefährdung depressiver Patienten erhöht.

DAZ

Atomoxetin wird über das Cytochrom-P450-System, genauer über CYP2D6 metabolisiert. Bekanntlich gibt es so genannte "extensive metabolizer", also Patienten, die Stoffe über CYP2D6 sehr schnell abbauen, und so genannte "poor metabolizer", die solche Substanzen nur sehr langsam metabolisieren. Sollte im Vorfeld einer Atomoxetin-Behandlung geklärt werden, ob der Patient zu einer dieser Gruppen gehört? Was geschieht, wenn ein "poor metabolizer" mit normalen Dosierungen Atomoxetin behandelt wird?

Becker:

In den doppelblinden Studien wurde der Metabolisierungstyp jeweils analysiert, da es bekannt ist, dass ungefähr 7% der Kaukasier und 2% der Afroamerikaner zu den langsamen Metabolisierern von Arzneistoffen gehören, die über den P450-CYP2D6-Weg verstoffwechselt werden. Es hatte sich aber in den Studien gezeigt, dass der Metabolisierungstyp keine klinische Relevanz hat, da es bei den vorgeschriebenen Dosierungen weder in Hinblick auf die Wirkung noch in Hinblick auf die Verträglichkeit einen Unterschied machte, ob ein Patient ein schneller oder ein langsamer Metabolisierer war. In der Praxis ist also eine Bestimmung nicht notwendig.

DAZ

Metabolisierung über das Cytochrom-P450-System prädestiniert für Interaktionen mit anderen über dieses System zu verstoffwechselnden Substanzen. Bei welchen Substanzen muss an Interaktionen gedacht werden, wie lassen sie sich vermeiden?

Becker:

Relevante Interaktionen gibt es bei Inhibitoren des CYP2D6-Stoffwechselweges, dazu gehören z.B. Fluoxetin, Paroxetin oder Levomepromazin. Hier ist eine Dosisreduktion von Atomoxetin zu empfehlen. Die Medikamentenspiegel der Inhibitoren werden umgekehrt durch die kombinierte Gabe nicht beeinflusst. Neben den CYP2D6-Inhibitoren gibt es Wechselwirkungen mit MAO-Hemmern, die in der Kombination mit Atomoxetin streng kontraindiziert sind! Wenn von einem MAO-Hemmer auf Atomoxetin umgestellt werden sollte, muss ein mindestens 14-tägiges Intervall zwischen den Wirkstoffen eingehalten werden.

Medikamenteninteraktionen sind außerdem zu erwarten bei Albuterol und anderen Beta-2-Agonisten. Es besteht die Gefahr der Potenzierung möglicher kardialer Nebenwirkungen. Ist eine Kombination unumgänglich, sind regelmäßige EKG-Kontrollen zu empfehlen. Auch bei der Kombination mit Medikamenten, die den Blutdruck regulieren, ist Vorsicht geboten. Der Blutdruck muss dann engmaschig kontrolliert werden.

DAZ

Atomoxetin ist in den USA seit November 2002 und in Großbritannien seit Juli 2004 auf dem Markt. Schätzungsweise wurden weltweit etwa 2,3 Millionen Patienten mit Atomoxetin bislang behandelt. Anfang Februar dieses Jahres hat die Britische Arzneimittelaufsichtsbehörde Ärzte darüber informiert, dass Atomoxetin zu schweren Leberschäden führen kann. Weltweit sollen Berichte über 41 Leberfunktionsstörungen unter Atomoxetin-Behandlung vorliegen, was einer Häufigkeit von 1:50.000 entsprechen würde. Wie sehen diese Leberschäden aus? Wann muss damit gerechnet werden?

Becker:

Obwohl in klinischen Studien mit etwa 6000 behandelten Patienten keine Hinweise auf Leberschädigungen gefunden worden waren (trotz sorgfältiger Laborkontrollen), zeigten sich in den ersten zwei Jahren nach Markteinführung in den USA und mehr als zwei Millionen behandelten Patienten zwei dokumentierte Fälle mit erhöhten Leberenzym- und Bilirubinwerten unter Atomoxetin-Medikation, ohne dass dafür andere offensichtliche Erklärungen vorlagen.

Bei einem der zwei Patienten trat die Leberschädigung, manifestiert durch erhöhte Leberenzymwerte (bis 40fach über Norm) und der Ikterus (Bilirubin 12fach erhöht) nach vorübergehendem Absetzen und erneuter Gabe wieder auf. In beiden Fällen erholten sich die Patienten nach Absetzen von Atomoxetin wieder vollständig von der Leberschädigung.

Diese (sehr seltenen) Reaktionen können auch einige Monate nach Therapiebeginn auftreten. Bei Patienten, die einen Ikterus entwickeln oder bei denen aufgrund von Laborwerten eine Leber-schädigung nachgewiesen werden konnte, muss Atomoxetin abgesetzt werden. Auch darf bei diesen Patienten die Atomoxetin-Behandlung nicht wieder aufgenommen werden. Die Herstellerfirma hat nach Bekanntwerden dieser zwei dokumentierten Fälle die o.g. Hinweise und Empfehlungen mit in die Verbraucherinformation aufgenommen. Ob zwischen den weltweit 41 Verdachtsfällen ein Kausalzusammenhang mit einer Atomoxetin-Behandlung besteht ist noch nicht geklärt, aber es wird derzeit jedem einzelnen Fall nachgegangen.

DAZ

Die ADHS-Behandlung ist in der Regel eine Langzeitbehandlung. Wie wirkt sich eine Atomoxetin-Behandlung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus?

Becker:

Im Rahmen klinischer Studien gibt es bis dato Kenntnisse über Kinder und Jugendliche mit ADHS, die mindestens ein bis zu drei Jahre mit Atomoxetin behandelt worden waren. Daten über längere Behandlungszeiträume liegen bis jetzt noch nicht vor. Bei den bis zu drei Jahre behandelten Kindern und Jugendlichen mit ADHS zeigte sich insgesamt eine gute Verträglichkeit und Sicherheit. Die Pubertätsentwicklung verlief normal. Die Gewichtszunahme sank initial etwas ab, glich sich aber im weiteren Verlauf wieder der zu erwartenden Gewichtsperzentile an.

Beim Längenwachstum zeigte sich ein ähnliches Bild, allerdings mit einer nach drei Jahren durchschnittlich 0,4 cm kleineren Endgröße als erwartet. Aufgrund dieser Befunde, die zum einen Gruppendurchschnittswerte darstellen, zum anderen bislang nur Aussagen über eine dreijährige Behandlung mit Atomoxetin erlauben, sind im Verlauf der Behandlung regelmäßige Kontrollen von Größe und Gewicht durchzuführen und die Entwicklung dieser Maße anhand alters- und geschlechtsnormierter Perzentilenkurven zu überprüfen.

DAZ

Wie bewerten Sie die therapeutischen Möglichkeiten von Atomoxetin? Wo sehen Sie Vorzüge, wo Nachteile gegenüber der etablierten Methylphenidat-Therapie?

Becker:

Da Methylphenidat zwar in 75% der Fälle gut wirkt, in 25% der Fälle aber nicht oder nicht ausreichend, ist es gut, nun eine zusätzliche für die Indikation ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassene Substanz mit anderem Wirkmechanismus zur Hand zu haben. Die Vorteile von Atomoxetin sind, dass es nicht nur bis zum Nachmittag, sondern auch abends und am nächsten Morgen vor der nächsten Medikamenteneinnahme noch wirkt und es sicher keine Tics verstärkt. Möglicherweise wirkt Atomoxetin besser bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS, die zusätzlich emotionale oder affektive Symptome haben.

Auf keinen Fall verursacht Atomoxetin Reboundphänomene. Es hat auch kein Sucht- oder Abhängigkeitspotenzial und eignet sich nicht zum Verkauf an Drogenkonsumenten. Der Nachteil ist, dass die Wirkung von Atomoxetin nicht so schnell eintritt wie die Wirkung von Methylphenidat. Eltern und Patienten sollen deswegen darüber aufgeklärt werden, dass es unter Umständen zwei Wochen dauern kann bis eine Wirkung sichtbar wird und sich im Verlauf die Wirkung noch weiter verbessert.

DAZ

Frau Dr. Becker, wir danken Ihnen für das Gespräch!

SSRI und SNRI - Erhöhtes Suizidrisiko bei Kindern

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) stehen in dem Verdacht, bei Kindern und Jugendlichen das Suizidrisiko zu erhöhen. Speziell für Paroxetin hatte der wissenschaftliche Ausschuss (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) in London im Dezember 2004 Empfehlungen zur Änderung der Fachinformation von Paroxetin ausgesprochen. Diese Änderungen umfassen:

  • Einen Warnhinweis, dass Paroxetin nicht bei Kindern und Jugendlichen angewendet werden sollte. Paroxetin ist in der EU nicht für diese Patientengruppe zugelassen. Informationen aus klinischen Prüfungen führten zu Bedenken hinsichtlich suizidalen und feindseligen Verhaltens. Weiterhin haben Daten aus klinischen Prüfungen eine Wirksamkeit in diesen Altersgruppen nicht ausreichend belegt.
  • Einen Warnhinweis an die verordnenden Ärzte, dass Patienten mit einem hohen Risiko suizidalen Verhaltens engmaschig überwacht werden sollten. Dies betrifft vor allem Patienten mit suizidalem Verhalten in der Vorgeschichte oder suizidalen Intentionen zu Beginn der Behandlung, möglicherweise aber auch junge Erwachsene generell.
  • Verordnende Ärzte und Patienten sollten vor möglichen Absetzerscheinungen bei Beendigung der Behandlung gewarnt werden. Im Allgemeinen sind diese leicht bis mittelschwer und kurzdauernd. Bei manchen Patienten können sie aber auch ausgeprägter oder länger anhaltend sein. Im Rahmen der Bewertung von Paroxetin hatte das CHMP neben klinischen Studien mit SSRI und SNRI auch Studien mit dem selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin überprüft. Dabei ergab die Auswertung der klinischen Studien zu Atomoxetin keinen Hinweis auf ein erhöhtes Suizidrisiko.

Atomoxetin – Arzneimittel im Gespräch

Weitere Informationen zu Atomoxetin bietet die Videopharmausgabe 3/2005. In der Rubrik "Arzneimittel im Gespräch" erläutert die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Katja Becker von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, wo die Vorzüge von Atomoxetin liegen können, wie Atomoxetin zu handhaben ist und worauf bei einer Atomoxetin-Behandlung zu achten ist.

Videopharm kann über den Deutschen Apotheker Verlag, Postfach 10 10 61, 70009 Stuttgart, bezogen werden. Einzelpreis pro Ausgabe: 98, Fortsetzungspreis für Bezieher: 76 Euro Themenausgabe: 89, Fortsetzungspreis für Bezieher: 76 Euro Abonnement (4 Ausgaben): 304 Euro Abonnenten der Videopharm-VHS-Ausgaben können die DVD-Ausgaben zum Sonderpreis von je 10 Euro erwerben.

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