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Gesundheitskosten: Muss die Zuwendung der Zuteilung weichen?

BERLIN (rw). Beim 7. Novartis Forum am 22. Oktober 2004 in Berlin stand das Thema "Zuwendung oder Zuteilung – wohin steuert die Medizin?" auf dem Programm. Ziel war es, durch eine konstruktive Rückbesinnung auf den Kranken – als bedürftigen Menschen – zu eruieren, wie man das Wünschenswerte, das Notwendige und das Machbare auf einen Nenner bringen kann.

Patienten wünschen sich eine optimale, dem State of the Art entsprechende, gut verträgliche Therapie, eine gute Lebensqualität, Aufklärung über die Therapieoptionen, Zugang zu Informationen, eine verständnisvolle medizinische Betreuung sowie engagierte Ärzte und Pflegepersonen. Dafür, so Dr. Emmanuel Puginier, Vorsitzender der Geschäftsführung, Novartis Deutschland GmbH, sind sie auch bereit, eine angemessene Kostenbelastung auf sich zu nehmen.

Im Jahr 2002 waren 68% der Befragten der Auffassung, die Qualität der medizinischen Versorgung sei eher schlechter geworden, eine tendenzielle Verbesserung gaben 7% an und 25% fanden, diese sei gleich geblieben. Im selben Jahr sprachen sich über 80% der Befragten für einschneidende Reformen mit mehr Wettbewerb, mehr Mitsprache, mehr Wahlfreiheit und mehr Transparenz aus.

Patienten brauchen mehr Zuwendung

Ärzte sind offenbar nicht immer in der Lage, diese Patientenbedürfnisse zu befriedigen, stellte Prof. Dr. Joachim Kugler, Lehrstuhl für Gesundheitswissenschaften/Public Health, TU Dresden, fest. Denn – auch das lehrt die Statistik – die durchschnittliche Gesprächsdauer beim Allgemeinarzt liegt in Deutschland bei 7,6 Minuten, während sich der Arzt in der Schweiz gut doppelt so viel Zeit für die Anliegen der Patienten nimmt.

Als Indikatoren für das Missverhältnis zwischen Angebot und tatsächlichem Bedarf nannte Kugler die breite Inanspruchnahme anderer Hilfsangebote, angefangen von Selbsthilfegruppen über das Internet als Informationsquelle bis hin zu alternativ- und komplementärmedizinischen Angeboten. Immerhin haben sich in Deutschland über drei Millionen Menschen einer der 70.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen angeschlossen. Und 30,5% haben seit Erkrankungsbeginn alternativmedizinischen Heilmethoden vertraut, wobei die Homöopathie, Akupunktur und Bachblütentherapie neben der Anwendung von Vitaminen und Antioxidanzien einen hohen Stellenwert besaßen.

Die momentane Situation beschrieb Kugler folgendermaßen: Erst geht der Patient ins Internet, dann zum Arzt, bekommt er von diesem ein Medikament verordnet, sucht er erneut Rat im Internet und entscheidet dann, ob er das Rezept einlöst und die Therapie durchführt.

Studienwissen und Praxis klaffen auseinander

Sämtliche Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung, nicht nur medikamentöse Therapien, müssen auf den Resultaten rigoros durchgeführter klinischer Studien beruhen. Allerdings schlägt sich das Wissen aus klinischen Studien nur teilweise im ärztlichen Handeln nieder und kommt demnach viel zu wenigen Patienten zugute. Woran liegt das? Dr. Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrum, Freiburg, machte vor allem die schlechte Auffindbarkeit relevanter Literatur, fehlende Zeit, aber auch Probleme beim Lesen und Verstehen dafür verantwortlich, dass eine Zeitspanne von bis zu 15 Jahren vergeht, bis als unwirksam – oder schädlich – erkannte Verfahren dem modernen Kenntnisstand Platz machen. Hinzu kommt eine tief sitzende Abwehr gegenüber der Änderung der eigenen Praxis.

Als eklatantes Beispiel für diesen Missstand führte der Referent den weit verbreiteten Einsatz von Corticosteroiden bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma an: Viele kleine Studien schienen Hinweise für den Nutzen zu liefern, bis eine große klinische Studie (geplant mit 20.000 Patienten) im Mai 2004 nach Einschluss von 8000 Patienten wegen erhöhter Mortalität der mit Corticosteroiden behandelten Patienten abgebrochen werden musste.

Gute Chancen für Hausarztsystem

Das Bismarck-System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat endgültig ausgedient, davon zeigte sich Prof. Dr. Norbert Schmacke, Lehrstuhl am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften, Universität Bremen, und Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses überzeugt. Da es dadurch zu spürbaren Mehrbelastungen der Versicherten gekommen ist, vor allem der chronisch Kranken, mussten viele andere Aspekte des Reformwerks zumindest initial in den Hintergrund treten.

Eine gute Chance räumte Schmacke dem Hausarztsystem und der integrierten Versorgung ein; dasselbe gelte für die elektronische Gesundheitskarte und die sektorenübergreifende Qualitätssicherung. Das im Jahr 2004 etablierte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sei nun gefordert, seine breit gefächerten Aufgaben zum Wohle der Versicherten wahrzunehmen. Ob es den enormen Herausforderungen kurz- und langfristig gerecht werden kann, wird sich zeigen müssen.

Das solidarische Gesundheitwesen – ein realistisches Ziel

Keine Frage, der kranke Mensch braucht Zuwendung. Aber Zuwendung ist zeitaufwändig und Zeit ist Geld. Die primär an betriebswirtschaftlichen Zielen ausgerichteten gesundheitspolitischen Vorgaben machen es dem Arzt zunehmend schwerer, dem Patienten jenes Ausmaß an Zuwendung zu gewähren, das für seine Gesundung so entscheidend sein kann. "Das ausführliche individuelle Gespräch, die Zuwendung zum Patienten, gerät zum betriebswirtschaftlichen Luxus", erklärte Prof. Dr. Eckhard Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, und Leiter des Chirurgischen Zentrums Augsburg.

Zugespitzt habe sich das Ganze durch die zum Jahresanfang eingeführte Fallpauschalen-basierte Vergütung. Dadurch sei die unbefriedigende Situation entstanden, dass sich die medizinischen Möglichkeiten, die Ansprüche der Patienten und die finanziellen Mittel nicht mehr zur Deckung bringen lassen. "Zuwendung in der Medizin – das können wir uns nicht mehr leisten? Wenn wir an diesen Punkt kommen, wäre Geld nicht mehr Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken, sondern die Versorgung von Kranken wäre Mittel zum Zweck der Erzielung und Optimierung von Erlösen", kritisierte Nagel.

Er forderte, dass die Solidargemeinschaft den Ausgangspunkt der gesundheitspolitischen Debatte bilden muss, denn "die Humanität einer Gesellschaft, die unter Kostendruck geraten ist, zeigt sich gerade daran, wie sie mit den schwächsten Gliedern der Bevölkerung umgeht".

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