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Purine – Krankheitsmediatoren und potenzielle Arzneimittel

Purine spielen im Organismus eine wichtige physiologische und pathophysiologische Rolle. Daher besitzen Purinrezeptorliganden auch ein bedeutendes therapeutisches Potenzial. Selektive Purinrezeptorliganden könnten in Zukunft vor Glaukom, Diabetes, Morbus Parkinson, Herzinfarkt und Schlaganfall schützen. Die ersten klinischen Studien lassen hoffen, dass die Umsetzung der tierexperimentellen Forschungsergebnisse in klinische Anwendungen sich in den nächsten Jahren vollziehen wird. Die neuesten Erkenntnisse der Purinforschung wurden im Juni diesen Jahres auf dem 4th International Symposium on Nucleosides and Nucleotides präsentiert und diskutiert, das in Chapel Hill, North Carolina, USA, stattfand.

Purinrezeptoren

Die Forschung auf dem Gebiet der Purine und Purinnukleotide hat in den letzten Jahren explosionsartig zugenommen. In einem Überblicksvortrag spannte Geoffrey Burnstock (University College London, UK), der Nestor der Purinforschung, einen Bogen von den Anfängen der Purinforschung bis hin zu potenziellen therapeutischen Einsatzmöglichkeiten.

  • Purine und deren Nukleotide sind essenzielle Bestandteile aller lebenden Zellen und rufen als wichtige Signalmoleküle verschiedene biologische Effekte hervor. Adenosintriphosphat (ATP) z. B. dient nicht nur als Energiespeicher, Baustein der Nukleinsäuren oder als Substrat für diverse Enzyme, sondern es fungiert auch als Neurotransmitter. Die Wirkungen der Purine werden über spezifische Rezeptoren an den Zelloberflächen vermittelt. Nach der Klassifikation von Burnstock (1978) unterscheidet man
  • die G-Protein-gekoppelten P1-Rezeptoren, nach ihrem natürlichen Liganden auch Adenosinrezeptoren genannt, mit den vier Subtypen A1, A2A, A2B und A3 und
  • die P2-Rezeptoren, deren natürliche Liganden ATP, ADP, UTP und UDP sind. Unter den P2-Rezeptoren gibt es Liganden-gesteuerten Ionenkanalrezeptoren (P2X-Rezeptoren) und G-Protein-gekoppelte P2Y-Rezeptoren, von denen jeweils diverse Subtypen bekannt sind.

Als möglichen therapeutischen Einsatz von Purinrezeptorliganden diskutierte Burnstock u.a. das maligne Melanom. Seine Arbeitsgruppe fand bei Melanomzellen nach Aktivierung ihrer P2Y1- und P2X7-Rezeptoren eine Hemmung der Zellproliferation sowie eine gesteigerte Apoptose. Die Symposiumbeiträge wurden von Christa Müller (Universität Bonn) mit einem Vortrag zu neuen P2Y-Rezeptorliganden eröffnet.

P2X7-Rezeptor - Target zur Glaukomtherapie und Immunmodulation

Einen neuen Ansatz zur Therapie des Glaukoms, der dritthäufigsten vermeidbaren Erblindungsursache, könnten P2X7-Rezeptorliganden bieten. Die Arbeitsgruppe um Claire Mitchell (University of Pennsylvania, Philadelphia, USA) konnte P2X7-Rezeptoren an Ganglienzellen der Retina nachweisen. Durch eine Erhöhung des Augeninnendrucks kommt es zu einer verstärkten Freisetzung von ATP, das an die P2X7-Rezeptoren bindet und dadurch den Untergang der retinalen Ganglienzellen fördert. Im Gegensatz dazu schützt Adeno-sin diese Zellen. Mitchell schlussfolgerte, dass P2X7-Rezeptoren ein neues Target zur Therapie des Glaukoms darstellen könnten.

Auch verschiedene Klassen von Leukozyten exprimieren P2X7-Rezeptoren. Die Arbeitsgruppe um Paul Bertics (University of Wisconsin, USA) fand heraus, dass die Stimulation der P2X7-Rezeptoren zur verstärkten Freisetzung einer Vielzahl von Entzündungsmediatoren, wie TNF-α oder IL-1β, aus Monozyten und Makrophagen führt, während sie die Synthese von antiinflammatorisch wirksamen Zytokinen (z. B. IL-10) unterdrückt. Somit besitzt der P2X7-Rezeptor eine Schlüsselfunktion bei der Modulation des Immunsystems. Die Anwendung von selektiven Antagonisten könnte ein neuer therapeutischer Ansatz bei Erkrankungen mit erhöhten Konzentrationen an proinflammatorischen Mediatoren sein.

A2A-Rezeptor - Target bei Infektionen und Diabetes

Auch Adenosinrezeptoren bieten ein breites Spektrum an therapeutischen Einsatzmöglichkeiten, u. a. bei Entzündungen. Bei Schädigung oder Störungen von Zellfunktionen wird verstärkt Adenosin freigesetzt, das über die Aktivierung von A2A-Rezeptoren die Gewebe- und Gefäßneubildung stimuliert. So wirken A2A-Agonisten protektiv bei Magenulzerationen, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder Sepsis.

Bruce Cronstein (New York University, USA) stellte den neuen A2A-Agonisten 2-[2-(4-Chlorophenyl)ethoxy]adenosin (MRE0094) vor. Er wirkt antiinflammatorisch, indem er die Bildung von Entzündungsmediatoren (z. B. TNF-α) und von reaktiven Sauerstoffspezies (z. B. O2-, H2O2) hemmt, und er fördert die Wundheilung, indem er die Angiogenese, Proliferation von Endothelzellen und Neubildung von Granulationsgewebe in den dermalen Wunden steigert. Großes Interesse fand die Hypothese, dass die Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen ein regulatorischer Rückkopplungsmechanismus des Organismus sein kann, der die Expression und Funktion der A2A-Rezeptoren stimuliert, um die Entzündung schnell einzudämmen.

Die Arbeitsgruppe um Mark Okusa (University of Virginia, USA) experimentierte mit dem neuartigen A2A-Agonisten ATL303. Auch diese Substanz bewirkte eine Verminderung der TNF-α-Konzentration. Durch Modulation der Immunantwort und Wiederherstellung von Endothelfunktionen zeigte ATL303 gute Wirksamkeit bei Nierenschädigungen. Wegen seiner immunmodulatorischen Effekte ist es möglicherweise auch bei Organtransplantationen einsetzbar. Okusa konnte zeigen, dass ein weiterer A2A-Rezeptoragonist ATL146e bei diabetischen Ratten die Albuminexkretion und die TNF-α-Produktion herabsetzt sowie funktionelle und morphologische Schäden vermindert.

A2A-Rezeptor - Target bei Parkinson und Alzheimer

Coffein ist ein unspezifischer Adenosinrezeptorantagonist. Michael Schwarzschild von der Harvard Medical School (Boston, USA) berichtete über epidemiologische und tierexperimentelle Studien, denen zufolge Coffein das Risiko der Entwicklung der Parkinsonschen Erkrankung vermindert. Coffein und insbesondere selektive A2A-Rezeptorantagonisten verhinderten die Degeneration von dopaminergen Neuronen. Das symptomatische Erscheinungsbild und die Lebensqualität der Parkinson-Patienten verbesserte sich. Bei ihnen könnte die Dosis von L-Dopa durch eine Komedikation von A2A-Antagonisten, die sich bereits in klinischer Erprobung befinden, reduziert werden. Mäßiger Kaffeekonsum verringert das Risiko an Morbus Parkinson zu erkranken, zuviel Kaffee ist jedoch ungesund.

Rodrigo Cunha von der Universität Coimbra (Portugal) berichtete, dass A2A-Rezeptoren an Nervenendigungen im Hippocampus, nicht aber im Striatum lokalisiert sind und dass diese vor allem bei chronischen Krankheitszuständen aktiviert werden. Eindrucksvoll belegte er, dass TNF-α die Desensibilisierung dieser Rezeptoren verhindert. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten, in die neuro-immunologische Regulation bei degenerativen Erkrankungen einzugreifen. A2A-Antagonisten hemmen die Bildung von toxischen β-Amyloid-Proteinen im Gehirn und schützen dadurch möglicherweise vor einer Alzheimer-Demenz.

A1- und A3-Rezeptoren - wichtig bei Ischämie

Herz- und Hirninfarkt zählen in den Industrienationen zu den häufigsten Todesursachen. Aufgrund einer zerebralen oder myokardialen Ischämie kommt es in den betroffenen Geweben zu einem Sauerstoffmangel, darauf steigt die Adenosinkonzentration im extrazellulären Raum. Adenosin wirkt durch die Aktivierung von A1- und A3-Rezeptoren neuro- und kardioprotektiv, doch seine kurze Halbwertzeit und seine Unfähigkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, schränken seine Wirksamkeit ein und lassen es auch für den therapeutischen Einsatz ungeeignet erscheinen. Eine Alternative könnten stabile A1- und A3-Rezeptorliganden darstellen, die bereits untersucht wurden. Als Wirkmechanismen wurden antioxidative Effekte, die Aktivierung des Proteinkinase-C- oder Phospholipase-C-Signalweges und die erhöhte Bildung von NO postuliert; auch mitochondriale KATP-Kanäle könnten an der Wirkung beteilig sein (John Headrick, Griffith University, Australien; Karen Nieber, Universität Leipzig).

Kenneth A. Jacobson (National Institutes of Health, Bethesda, USA) wies darauf hin, dass die bekannten A3-Rezeptoragonisten wegen fehlender Selektivität nicht bei Ischämie einsetzbar sind. Er präferiert stattdessen Neozeptoren und Neoliganden. Neozeptoren sind Rezeptoren mit gezielten Mutationen in der Aminosäurensequenz, die durch Gentransfer z.B. im Herzen angesiedelt werden können.

Maßgeschneiderte selektive Liganden (Neoliganden), die nur die Neozeptoren, aber nicht die natürlichen Rezeptoren aktivieren, könnten dann in sehr geringen Dosen zum Schutz gegen einen Herzinfarkt verabreicht werden.

A2B-Rezeptor und chronische Atemwegserkrankungen

Adenosin ist dafür bekannt, dass es bei Asthmatikern, nicht aber bei gesunden Probanden zu einer Bronchokonstriktion führt. Diese Wirkung beruht auf einer akuten Aktivierung von Mastzellen, aus denen Histamin, Leukotriene und andere chemotaktische Stoffe freigesetzt werden. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine Stimulation des A2B-Rezeptors an diesem Prozess maßgeblich beteiligt ist, weshalb der Einsatz von selektiven A2B-Rezeptorantagonisten eine Therapieoption darstellen könnte (Igor Feoktistov, Vanderbilt University, Nashville, USA).

Tierexperimentelle Studien zeigten, dass hohe Adenosinspiegel aufgrund eines Defektes am Adenosin-abbauenden Enzym zu einer verstärkten Entzündung der Atemwege führen, so Michael Blackburn von der University of Texas (Houston, USA). Demnach könnte das Enzym Adenosindeaminase ein neues Target bei der Therapie entzündlicher Atemwegserkrankungen sein.

Coffein und Schmerzmittel

Der unspezifische Adenosinrezeptorantagonist Coffein wird häufig in fixen Kombinationen mit nichtsteroidalen Antiphlogistika zur Behandlung von Schmerzen eingesetzt. Grundlage hierfür ist die Annahme, dass Coffein die analgetische Wirkung verstärkt. Die Arbeitsgruppe von Susanna Hourani (University of Surrey, Guildford, UK) konnte jedoch in Untersuchungen an Mäusen diese Annahme nicht bestätigen. Im Gegenteil, sie fand, dass in Anwesenheit von Coffein die schmerzlindernde Wirkung von Paracetamol signifikant abgeschwächt ist. Falls sich diese Ergebnisse in Humanstudien bestätigen, müsste über den Einsatz von Kombinationsanalgetika mit Coffein neu nachgedacht werden.

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