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BSN medical Forum Gesundheit: Wieviel Gesundheit braucht die Gesellschaft?

HAMBURG (tmb). Der Reformbedarf im Gesundheitswesen ist unbestritten. Doch soll das bestehende solidarische System weiterentwickelt oder ein ganz neues Modell geschaffen werden? Was ist noch ein solidarisches Konzept, und wo beginnt ein neues System? Diese Fragen diskutierten Experten und Funktionäre im Rahmen des "BSN medical Forum Gesundheit" am 21. Januar in Hamburg.

Der weltweit tätige Hilfsmittelhersteller will unter diesem Titel eine neue Plattform schaffen, um kontroverse Themen im Gesundheitswesen offen diskutieren zu können, und so einen konstruktiven Beitrag zur Reform des Gesundheitswesens leisten. Die erste Runde stand unter dem Motto "Der Wert der Gesundheit".

Für Dr. Manfred Lütz, Köln, den Moderator der Diskussion, hat sich die Gesundheit in unserer Gesellschaft zu einer Ersatzreligion entwickelt. Im Gesundheitswesen würden Rituale praktiziert, die an die Religionsausübung in früheren Zeiten erinnern. Die Gesundheit gelte als satirefreie Zone, der Blasphemie-Schutz sei von der Religion auf die Gesundheit übergegangen.

Entgegen der philosophischen Tradition werde die Gesundheit als höchstes Gut bezeichnet und dürfte demnach gegen nichts abgewogen werden. Die logischen Konsequenzen wären maximale Therapie und ständige Prophylaxe gegen alle nur erdenklichen Gesundheitsschäden.

System reformieren oder revolutionieren?

Diese hohe Wertschätzung der Gesundheit erschwert die öffentliche Debatte im Gesundheitswesen. Darum haben Expertenkommissionen nach Einschätzung von Dr. Ellis Huber, Vorstand der Securvita BKK, Hamburg, den Zweck, die Wahrheiten zu kommunizieren, die Politiker mit Rücksicht auf Wahlen nicht eingestehen wollen. Leider fehle in der Gesellschaft ein kooperativer Geist zu einer offenen Diskussion dieser Themen.

Es bestehe eine Chance, ein für Europa vorbildliches System aufzubauen, in dem permanent an einer menschendienlichen Lebenskultur gearbeitet werden sollte. Das derzeitige System sei jedoch am Ende.

Gegen diese Behauptung wandte sich Prof. Dr. Fritz Beske, Fritz-Beske-Institut für Gesundheitssystemforschung, Kiel, entschieden. Er wies die immer wieder geäußerten pauschalen Behauptungen, es gebe im System große Effizienzreserven, zurück. Dies sei bisher nicht wissenschaftlich belegt worden. Stattdessen verwies er auf die im internationalen Vergleich vorbildlichen Versorgungsleistungen. Daher solle das bestehende solidarische System weiterentwickelt werden.

Allerdings bedeuteten Qualitätsverbesserungen, Transparenz und Prävention, wie sie von der Regierung immer wieder gefordert werden, Investitionen und würden daher Geld erfordern, aber nichts einsparen.

Verzichten statt fordern

Zum Begriff der Solidarität gehört für Peter Buschmann, Vorstandsvorsitzender der AOK Schleswig-Holstein, Kiel, nicht immer nur zu fordern, sondern in manchen Situationen auch zu verzichten, wofür es genügend ethische Ansätze gäbe. Außerdem solle das System europatauglich gemacht werden. Für Veränderungen sieht er durchaus Freiraum, da die Politik Neuerungen toleriere und nur dann abwürge, wenn sie sich nicht bewährten. Auch für die Patienten sei Freiwilligkeit sinnvoller als Regelungswut. Dazu gehöre ein gesellschaftlicher Konsens, dass man sich nicht alles leisten kann.

Im Vergleich zu einem Verzicht sind nach Auffassung von Jürgen Bauschke, Geschäftsführer der BSN medical, Hamburg, unterschiedliche Optionen weitaus besser vermittelbar. Im Sinne eines stärkeren Wettbewerbs müssten die Patienten selbst mehr Verantwortung tragen. Zur Umstrukturierung des Gesundheitswesens schlug Huber vor, den Wandel der industriellen Produktion nachzuvollziehen und von der Industrie zu lernen. Hierarchien sollten durch Prozessmanagement ersetzt werden.

Beske wandte sich gegen einen Wettbewerb im Sinne einer Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen, denn es gebe keine wissenschaftlich gesicherte Möglichkeit, Leistungen in dieser Weise zu differenzieren. Dies sei zudem an Sozialgerichten nicht durchzusetzen.

Für Bauschke spricht dies aber nicht gegen administrative Wahlansätze, beispielsweise mit oder ohne freie Arztwahl. Er machte deutlich, wie sich die Industrie weg von der Orientierung an Produkten zu einer prozessorientierten Denkweise entwickelt habe. So würden Produkte heute als Mittel zur Vereinfachung von Prozessen vermarktet.

Beske forderte die Politik auf, rückhaltlos zu diskutieren, wie künftig mit dem medizinischen Fortschritt umgegangen werden solle. Wenn bahnbrechende neue Arzneimittel gegen häufige Krankheiten auf den Markt kommen sollten, sei die Gesellschaft auf diese Herausforderung nicht vorbereitet. Lütz konstatierte in der Runde einen Konsens zu mehr Wahlfreiheit im System, doch sei zu diskutieren, wie dieser organisiert werden soll.

Was bringt ein Hausarzt-Modell?

Ein weiterer Aspekt der Reformdiskussion ist die Verzahnung der Gesundheitsversorgung. Hierbei würde jetzt zwischen Haus-, Fach- und Klinikärzten polarisiert, meinte Dr. Siegfried Götte, Vorsitzender des Berufsverbandes der Ärzte für Orthopädie, Berlin. Doch habe jede Arztgruppe ihre berechtigte Funktion, und wenn jeder Patient sofort zur angemessenen Versorgung komme, spare dies sogar Geld.

Entgegen den sonst vielfach von AOK-Vertretern präsentierten Vorstellungen äußerte sich auch Buschmann skeptisch gegenüber dem Hausarzt-Modell. Man müsse die ärztliche Qualität beachten, die nicht überall gleich sei. Wenn man die Sektoren auflöse, werde das System selbst sinnvolle Anreize ausbilden. Ein weiteres Problem sei die kameralistische Finanzierung der Krankenkassen.

Aufgrund der aktuellen Situation ging Götte auf mögliche Ärztestreiks ein. Diese seien nicht sinnvoll, denn die Diskussion solle nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden. Allerdings sei im Verband der Orthopäden kürzlich beschlossen worden, an bestimmten Tagen umsonst, d. h. ohne Einlesen der Chipkarten, zu behandeln.

Insgesamt bot die Diskussion durch die Offenheit der Teilnehmer eine breite Übersicht über die Probleme und Potenziale einer anstehenden Gesundheitsreform.

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