Feuilleton

Rezensionen - Reportagen aus Deutschland

Der Gifttod der kleinen Anna B. im Jahr 1993 wurde nie aufgeklärt. Betroffen und verdächtig waren Angehörige einer angesehenen Stuttgarter Apothekerfamilie. Der Fall ging durch alle Medien. Die Verurteilung der angeklagten Tante und ihr überraschender Freispruch durch den Bundesgerichtshof dient immer wieder neu als Zeitungsthema, und auch ein Fernsehkrimi verfilmte Annas Schicksal in leicht abgewandelter Form.

Annas Geschichte ist festgehalten als eine von insgesamt 19 Reportagen über Menschen in Deutschland, die sich aus dem Bereich der bürgerlichen Normalität entfernt haben und damit meistens auf der Verliererseite landen. Bruno Schreps Berichte sind gründlichst, fast akribisch recherchiert. Er nimmt die Stelle des absolut neutralen Beobachters ein, dem es gelingt, sachlich und objektiv auch brodelnde menschliche Abgründe zu beschreiben.

Ein junges Mädchen wird erwürgt, was brachte den Mörder dazu, was geschieht in den Familien von Opfer und Täter? Ein Dorf wehrt sich gegen Einbrecher mit organisiertem Misstrauen gegen jeden Fremden durch das stets wachsame Nachbar-Auge, dem aber auch nichts Nachbarliches entgeht. Ein Pfarrer sieht sich als von Gott autorisierten Moralhüter und verrennt sich dabei in der gnadenlosen Selbstdemontage seiner Person.

Ein abgestürztes Sportflugzeug ohne Pilot gibt Rätsel auf. Ein ehemaliger Weinkeller wird geschäftstüchtig zur heilkräftigen Wundergrotte, als zweites Lourdes, umgewandelt. Ein promovierter Theologe kämpft verbissen und kompromisslos gegen Abtreibung und gerät in die soziale Isolation. Warum ist Mallorca für Rentner das Paradies?

Ein Chirurg dreht beim Operieren durch; ein Grenzgänger erschießt zwei Schweizer Zöllner. Drei Frauen erscheint die Jungfrau Maria und macht sie und ihr Städtchen zum Wallfahrtsziel. Ein Stadtteil von Hamburg verkommt zum Drogenplatz; ein anderer wird von Asylanten bewohnt, die sich dem Hass der Deutschen ausgesetzt sehen.

Eine Frankfurter Hauptschule bietet als Vielvölkerschule Unterricht auf kleinstem gemeinsamen Nenner an. Graffiti sprayen als zwanghafte Lebensverwirklichung, Rechtsradikalismus in Eberswalde, Polizistinnen-Selbstmorde in Neuss, Straßenrennen im Weserbergland – stand alles schon in den Zeitungen.

Bruno Schrep macht sichtbar, welche Schicksale und Tragödien hinter knappen Pressemeldungen verborgen sein können. Sein Buch erzeugt eine lang anhaltende Nachdenklichkeit, regt die Phantasie an, in der Begegnung mit unbekannten Mitmenschen sich Hintergründe für deren Verhaltensweisen auszudenken.

Besonders eindrucksvoll ist die Geschichte der Marianne B., die nach außen als gepflegte, modisch gekleidete Frau ein völlig normales, angepasstes Leben führt, aber ihre Wohnung von Müll überquellen lässt. Als sie stirbt, vermisst sie keiner. In der Zeitung steht dann, dass eine Tote monatelang in ihrer Wohnung unentdeckt blieb.

Jede einzelne der Reportagen gäbe ein spannendes Drehbuch für einen aufregenden Film, der aber auch im Kopf des Lesers lebhaft und farbig ablaufen kann.

Kasten

Alle meine Rosen sind blau. Reportagen aus Deutschland. Von Bruno Schrep. 224 Seiten. 19 Abbildungen. Hirzel Verlag, Stuttgart 2001. Euro 19,40. ISBN 3-7776-1087-9

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.