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Soll man glauben, was man liest? (Außenansicht)

Bei den meisten Patienten wirken Arzneimittel nicht. So zu lesen im britischen "Independent" vom 8. 12. 2003. So gesagt von Dr. Allen Roses, einem Chef-Wissenschaftler bei GlaxoSmithKline. In dem der Zeitung gegebenen Interview heißt es unter anderem, dass mehr als 90 Prozent der Arzneimittel nur bei 30 bis 50 Prozent der Patienten wirken, oder anders ausgedrückt, dass weniger als die Hälfte der Patienten von den ihnen verschriebenen teuren Medikamenten irgendeinen Nutzen haben. Angegeben werden unter anderem prozentuale Wirkungsraten von 30% bei Alzheimer, 60% bei Asthma, 60% bei Herzrhythmusstörungen, 57% bei Diabetes, 52% bei akuter Migräne, 60% bei Schizophrenie und 25% in der Onkologie.

Weiß Dr. Roses eigentlich, was er da behauptet? Vermutlich nicht, sonst hätte er es nicht getan. Denn seine Aussagen müssen – selbst wenn man unterstellt, dass nicht alles so gemeint war wie es zu lesen ist – zwischen gefährlich und unsinnig eingestuft werden.

Gefährlich, weil Dr. Roses nicht ein Irgendjemand und auch nicht ein Pharmakritiker ist, sondern ein angesehener Forscher aus der wissenschaftlichen Führungsriege eines großen und bedeutenden Unternehmens der forschenden Pharmaindustrie.

Was soll die Öffentlichkeit, an die die Botschaft zumindest indirekt gerichtet war, zu solchen Äußerungen sagen? Sie wird sagen, endlich einmal ein Insider, der das Schweigen bricht und mit der Wahrheit herausrückt. Und bei vielen Patienten, denen Medikamente noch nicht oder nicht genügend helfen, trifft die Botschaft auf offene Ohren.

Was sollen die Ärzte denken? Dass 50 Prozent ihrer bisherigen therapeutischen Bemühungen sinnlos waren? Sie denken es nicht, denn sie wissen es besser. Was sollen die Apotheker denken? Dass 50 Prozent ihrer abgegebenen verschreibungspflichtigen Medikamente Schrott sind? Sie denken es nicht, denn sie wissen es besser. Aber können Ärzte und Apotheker dies auch den Patienten glaubhaft machen?

Auch ohne die von Dr. Roses für notwendig gehaltene Aufklärung über die Unwirksamkeit von Medikamenten wissen wir seit langem, dass ein und dasselbe Arzneimittel bei verschiedenen Menschen unterschiedlich wirken kann, dass jeder Mensch ein Unikat ist und dass keiner genetisch dem anderen gleicht.

Es ist uns bewusst, dass Arzneimittel nach wie vor nicht für das Individuum, sondern für den "Durchschnittsmenschen" entwickelt werden, und dass daran vermutlich noch lange nichts zu ändern sein wird.

Aber auch wenn wir heute noch nicht über maßgeschneiderte Medikamente verfügen, so können wir doch davon ausgehen, dass die Vorhandenen bei den meisten Menschen wirken und weitgehend unbedenklich sind. Millionen Menschen verdanken täglich ihren Arzneimitteln Krankheitserleichterung und Lebensbewahrung.

Alle Industriestaaten verfügen über Arzneimittelgesetze, die vom Hersteller den Nachweis der Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutischen Qualität seiner Produkte verlangen. Während in der klinischen Prüfung die Unbedenklichkeit (das Risiko) nur unzureichend eingeschätzt werden kann, lässt sich die Wirksamkeit hingegen relativ gut beurteilen. Wenn die Zulassungsbehörde einem neuen Mittel in seinem Zulassungsbereich Wirksamkeit bestätigt, dann ist es auch wirksam, sonst würde es gar nicht zugelassen.

Ob diese Wirksamkeit für den Patienten auch gleichzeitig einen Nutzen bedeutet – wovon man früher immer stillschweigend ausgegangen ist -, lässt sich durchaus in Frage stellen. Deshalb fordert die evidenzbasierte Therapie weniger die Wirksamkeit als vielmehr den Nutzen eines Medikaments in den Focus zu rücken.

Abhängig vom Anwendungszweck und der erforderlichen Methodik erfordern evidenzbasierte Studien Zeit und sehr viel Geld, weswegen sie auch nicht für alle Medikamente durchgeführt werden können, aber auch nicht für alle nötig sind.

Denn wenn beispielsweise mit einem Hochdruckmittel der erhöhte Blutdruck über längere Zeit wirkungsvoll gesenkt werden kann, dann kann auch davon ausgegangen werden, dass die Wirkung für den Patienten einen Nutzen hat, es sei denn, man bezweifelt die Relevanz einer Blutdrucksenkung – beispielsweise zur Infarktprophylaxe – überhaupt.

Dr. Roses ist auf dem neuen und eines Tages vielleicht auch viel versprechenden Forschungsgebiet der Pharmakogenetik tätig. Ihr Ziel ist es unter anderem, mittels einfacher Teste die individuelle Empfindlichkeit eines Menschen für pharmazeutische Wirkstoffe herauszufinden. Leider sind wir von diesem Ziel noch ziemlich weit entfernt.

Und um die Wirksamkeit eines Hochdruckmittels zu beurteilen, braucht man keinen Gentest, da genügt ein Blutdruckmessgerät.

Leider wird auch bei diesem Interview das in den Wissenschaften nicht unbekannte Phänomen deutlich, dass Forscher ihre eigene Arbeit für derart wichtig halten und die eigene Leistung derart hoch einschätzen, dass sie die bisher geleisteten Forschungsarbeiten und ihre Ergebnisse für vernachlässigbar erachten.

Verwunderlich aber ist, dass Dr. Roses den Ärzten vorwirft, sie würden bei der Behandlung ihrer Patienten immer noch die "Versuch-und-Irrtum"- Methode anwenden. Dabei vergisst er, dass ärztliches Handeln – wie übrigens jedes wissenschaftliche Tun – immer auch auf Versuch und Irrtum beruht, denn die Methode gibt uns nichts weniger als die Gelegenheit, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen.

Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisemanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" befasst sich Heilmann mit Themen der Pharmazie und Medizin aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen.

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