Berichte

Teil 1: Bestandsaufnahme GAA-Jahrestagung: Mehr Qualität in der Arzneitherapie

Die 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e.V. (GAA) fand am 16. und 17. Oktober 2003 in Bonn im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) statt. Alle Referate der Jubiläumsveranstaltung befassten sich direkt oder indirekt mit der Verbesserung der Arzneitherapie.

Anwendungsforschung ergänzt die klinischen Studien

Der 1. Vorsitzende der GAA, Prof. Dr. Gerd Glaeske, hob in seinem Einführungsvortrag die Bedeutung der Arzneimittelanwendungsforschung als notwendige Ergänzung zu den klinischen Prüfungen hervor. Denn sie erforscht die "Real life"-Bedingungen, während die klinischen Studien an selektionierten Populationen unter standardisierten Bedingungen durchgeführt werden.

Da sie Missstände in der Arzneitherapie frühzeitig aufdecken kann, trägt sie zum Patientenschutz bei. Allerdings ist dieses Forschungsgebiet in Deutschland bisher noch "ein zartes Pflänzchen", das es zu fördern gilt.

Markttransparenz und Gesundheitsökonomie

Prof. Dr. Bertram Häussler, Berlin, referierte über den therapeutischen Nutzen von Analogpräparaten und ihre ökonomische Bedeutung. Eine vom Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) durchgeführte Untersuchung zeigt, dass die Entwicklung und das Angebot von Analog-Wirkstoffen ("Me-Toos") in den letzten 20 Jahren (Beobachtungszeitraum: 1980 bis 2000) nicht zwangsläufig zu Mehrausgaben bei den Krankenkassen geführt hat.

Eine klinisch-pharmakologische Betrachtung von drei Analog-Wirkstoffen verdeutlichte, dass Analog-Wirkstoffe im Vergleich zum Original einen therapeutischen Fortschritt darstellen können und zum Teil sogar wichtige therapeutische Alternativen bieten.

Dr. Ariane Höer (IGES) präsentierte eine Analyse von Insulinverordnungen aus den Jahren 2000 und 2001 anhand von Rezeptdaten einer Krankenkasse. Im Untersuchungszeitraum nahm die Verordnung von Insulin-Analoga im Vergleich zu natürlichem Insulin in allen Altersgruppen deutlich zu, und zwar besonders stark in den Altersgruppen bis 40 Jahren. Als Grund wurde die höhere Flexibilität des Patienten durch den kürzeren Spritz-Ess-Abstand angenommen.

Gudrun Gottweiss hat die Pharmakotherapie von Typ-2-Diabetikern in einer hausärztlichen Praxis unter ökonomischen Aspekten beleuchtet und aufgezeigt, dass durch eine Praxisanalyse die Therapien optimiert und Kosten gespart werden können.

Thomas Staffeldt vom Bundesverband der BKK befasste sich mit der Bestimmung von Morbiditätsgruppen im Rahmen integrierter Vergütungsmodelle. Im Vergleich mit einem bevölkerungsbezogenen Modell wies ein auf Arzneimitteldaten basierendes Modell einen zuverlässigeren Voraussagewert auf.

Schulung von Ärzten und Apothekern

Dr. Petra Kaufmann-Kolle vom Göttinger Institut für Gesundheitsförderung berichtete über Qualitätszirkel zur Pharmakotherapie für Allgemeinmediziner. Ein Vergleich von Arztpraxen, die in einem Qualitätszirkel eingebunden waren (Interventionsgruppe), mit Arztpraxen ohne Intervention ergab, dass Qualitätszirkel die Qualität und die Effizienz der Arzneitherapie verbessern.

Andreas Grossmann (Bundesverband BKK) stellte ein in Zusammenarbeit mit der kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein durchgeführtes Projekt zur informationsgestützten Pharmakotherapieberatung von Internisten und Allgemeinmedizinern (Interventionsgruppe) vor. Folgende Effekte wurden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Intervention gemessen: Die Ärzte verordneten insgesamt weniger, vor allem weniger Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen. Des Weiteren verordneten sie mehr Generika.

Dr. Martin Schulz berichtete über ein von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände – ABDA initiiertes und organisiertes Pilotprojekt zur Förderung der Beratungsqualität in öffentlichen Apotheken: In teilnahmebereiten Berliner Apotheken tätigten so genannte Pseudo-Customer – in der Regel selbst ein Apotheker oder eine Apothekerin – standardisierte Testkäufe. Im Anschluss wurde eine Schulung der Apothekenmitarbeiter zur Optimierung der Beratungsgespräche durchgeführt.

Off-label-use von Arzneimitteln

Rechtliche Aspekte der Anwendung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation (off-label-use) erläuterte PD Dr. Dr. Christian Dierks, Berlin. Laut Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. 3. 2002 ist der off-label-use zu Lasten der GKV zulässig, wenn

  • es sich um eine schwer wiegende Erkrankung handelt,
  • keine andere Therapie verfügbar ist und
  • aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist.

Beim BfArM wurde eine "Expertengruppe Off-Label" eingesetzt, die jedoch noch kein Statement abgegeben hat. Deshalb muss ein off-label-use jeweils individuell beurteilt werden.

Ein Argument sind z. B. Forschungsergebnisse, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Um einen Regress seitens der Krankenkassen zu vermeiden, empfiehlt Dierks den Ärzten, sich von der betreffenden Krankenkasse den Verzicht auf Antrag zur Feststellung eines sonstigen Schadens bescheinigen zu lassen.

Über den off-label-use von Clenbuterol zur Wehenhemmung (Tokolyse) berichtete Dr. Veronika Lappe vom Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) in München. Sie wertete die Verordnungsdaten eines Jahres einer großen gesetzlichen Krankenkasse aus und fand, dass ca. 25% aller ≠β-Sympathomimetika-Verordnungen für Schwangere auf Clenbuterol entfielen, wobei große regionale Unterschiede festzustellen waren.

Clenbuterol wird wegen seiner besseren oralen Resorption und seiner längeren Halbwertszeit als Alternative zu Fenoterol, das zur Tokolyse zugelassen ist, eingesetzt. Doch gemäß einer Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sind ≠-Sympathomimetika als Tokolytika nur 24 bis 48 Stunden signifikant wirksam und sollten daher lediglich in Notsituationen während der Entbindung i.v. gegeben werden. Die Langzeitanwendung – auch oral – bringt keinen therapeutischen Nutzen, sondern ist mit einem Risiko verbunden und gilt daher als obsolet.

Prof. Dr. Bernd Mühlbauer, Direktor des Institutes für Klinische Pharmakologie Bremen, stellte die geplante Änderung des Arzneimittelgesetzes im Hinblick auf die klinische Prüfung von Arzneimitteln bei Kindern und Jugendlichen vor.

Künftig ist eine klinische Prüfung bei Kindern auch dann gestattet, wenn ein so genannter Gruppennutzen vorliegt, aber ein individueller Nutzen für die betreffende Person nicht erwartet werden kann (z. B. Blutentnahme zur Bestimmung von Plasmaspiegeln). Voraussetzung ist in jedem Fall die Einwilligung der Eltern und gegebenenfalls die des Kindes. Derzeit ist ein Großteil der Arzneimittel nicht für die Anwendung bei Kindern zugelassen und wird im off-label-use eingesetzt, was mit gewissen Risiken verbunden ist.

Detlef Schröder-Bernhardi von IMS Health, Frankfurt/Main, analysierte den off-label-use in niedergelassenen Praxen mit dem IMS® Disease Analyzer mediplus, einer Datenbank, die 18 Millionen Verordnungen von 400 Ärzten für 1,5 Millionen Patienten in den letzten drei Jahren zusammenfasst.

Beispielsweise zeigte sich, dass die Verordnung von Omeprazol für die nicht zugelassene Indikation Gastritis nach Ablauf des Patentschutzes deutlich zunahm und dass diese Zunahme zugleich einen Schubeffekt auf die Verordnung anderer Protonenpumpenhemmer bei Gastritis auslöste.

Dr. Dr. Dieter Hager von der Bio-Medizinischen Klinik in Bad Bergzabern berichtete über den off-label-use von Lithiumcarbonat bei Krebspatienten mit einer chronischen Leukozytopenie nach Chemo- oder Radiotherapie. Lithiumcarbonat ist zur Behandlung und Prophylaxe manisch depressiver Erkrankungen zugelassen und verursacht häufig eine Leukozytose.

In der Beobachtungsstudie (n = 100) wurde eine Zunahme der Leukozytenzahl nach fünf bis zehn Behandlungstagen gemessen, während der Einfluss auf die Lymphozyten nicht signifikant war. Der Referent plädierte für den off-label-use in der medizinischen Forschung, um den Zugang zu neuen Therapieoptionen zu erleichtern.

Der off-label-use wirft bekanntermaßen haftungsrechtliche und sozialrechtliche Probleme auf. Doch nicht immer ist der off-label-use dem behandelnden Arzt bewusst, wie Ulrike Müller, AWD.pharma Dresden, berichtete.

Sie zeigte, dass ein off-label-use anhand der jeweiligen Fachinformation leicht zu erkennen ist, da sie in den Abschnitten Anwendungsgebiete, Gegenanzeigen, Art der Anwendung und Dosierung teilweise genauere Angaben liefert als die Rote Liste. Die Fachinformation (insbesondere die Abschnitte Warnhinweise, Wechselwirkungen, Notfallmaßnahmen, Symptome und Gegenmittel) kann weiterhin dazu genutzt werden, Risiken des off-label-use zu minimieren.

"German Medical Science"

PD Dr. Ludwig Richter vom Deutschen Institut für Medizinische Information und Dokumentation (DIMDI) in Köln stellte "German Medical Science", ein neues, frei zugängliches Online-Journal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) vor: www.german-medical-science.de

Das Editorial Board und die Gutachter stammen aus den Reihen der AWMF. Die redaktionelle Arbeit wird von der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin übernommen, und das DIMDI übernimmt die technische Implementierung sowie die Archivierung. Die Zeit zwischen Einreichen und Veröffentlichung eines Beitrags im Online-Journal soll etwa sechs Wochen betragen. Ein großes Anliegen der Initiatoren ist es, die internationale Wahrnehmung deutscher medizinischer Fachzeitschriften zu steigern.

Schwangere, Kinder und alte Menschen

Die Arzneimittelanwendung in der Schwangerschaft ist in Deutschland weit verbreitet. Über die Faktoren, die die Verordnung beeinflussen, ist aber bisher nur wenig bekannt. Eine Studie, über die Dr. Veronika Lappe (IBE, München) berichtete, analysierte die Medikation von 40 000 weiblichen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse, die zwischen dem 1. 6. 2000 und dem 31. 5. 2001 entbunden haben.

98,8% dieser Frauen haben Arzneimittel während der Schwangerschaft verordnet bekommen. Im Durchschnitt waren es 8,2 verordnete Medikamente. Ältere Schwangere und Sozialhilfeempfängerinnen wendeten deutlich mehr Arzneimittel an. Auch regional gab es teilweise gravierende Abweichungen. So wurden saarländischen Schwangeren doppelt so häufig Arzneimittel verordnet wie schwangeren Frauen in Hessen.

Wie Prof. Dr. Hans-Ulrich Melchert vom Robert-Koch-Institut in Berlin berichtete, gibt es bei Kindern und Jugendlichen alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede der Arzneimittelverordnung vor allem bei den Psychoanaleptika und bei den Schilddrüsen-Präparaten. Die Hauptphase des Nationalen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys, an dem insgesamt rund 18 000 Kinder und Jugendliche teilnehmen werden, wurde im Frühjahr diesen Jahres gestartet.

Dr. Ingrid Schubert, Leiterin der Forschungsgruppe Primärmedizinische Versorgung an der Universität Köln, stellte die Ergebnisse einer versorgungsepidemiologischen Analyse zur Behandlung des hyperkinetischen Syndroms vor. Als Datengrundlage dienten pseudonymisierte Verordnungsdaten und Diagnosen der Jahre 1998 bis 2001 von über 60 000 GKV-Versicherten (3 bis 15 Jahre alt) aus Hessen.

3,8% der Jungen und 1,0% der Mädchen hatten laut ambulanter Diagnose ein hyperkinetisches Syndrom. Der Anteil der medikamentös therapierten Kinder mit hyperkinetischem Syndrom stieg im Beobachtungszeitraum von 24% auf 32%. Methylphenidat war der meistverordnete Wirkstoff (Anstieg von 15,9% auf 25,2%).

Prof. Dr. Sebastian Harder vom Institut für Klinische Pharmakologie in Frankfurt/Main referierte eine Untersuchung über die Medikation älterer, multimorbider Patienten vor und nach der Entlassung aus dem Krankenhaus (n = 425, 63 bis 89 Jahre alt, mindestens zwei chronische kardiovaskuläre oder neurologische Erkrankungen).

Es wurde festgestellt, dass die Medikation an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung nur selten verändert wird, dass die Zahl problematischer Verordnungen, z. B. von Benzodiazepinen, jedoch zunimmt. Harder meinte, dass noch mehr Hausärzte die Medikation auf Generika umstellen könnten.

Erfassung von UAW

Die systematische Erfassung unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) ergänzt das bisher nur in einem geringen Umfang genutzte Spontanerfassungssystem. Dr. Elisabeth Bronder vom Institut für Pharmakoepidemiologie und Technologiebewertung IPTA Berlin berichtete über die Berliner Fall-Kontroll-Surveillance FAKOS zur Erfassung schwerer hämatologischer UAW.

Hierzu wurden Patienten mit einer schweren hämatologischen Erkrankung (immunhämolytische Anämie, akute idiosynkratische Agranulozytose, aplastische Anämie, Immunthrombozytopenie, hämolytisches urämisches Syndrom, heparininduzierte Thrombozytopenie) in einem standardisierten, persönlichen Interview zu ihrem Arzneimittelgebrauch, zum Lebensstil und zu beruflichen Expositionen befragt. Ihre Blutproben wurden pharmakogenetisch untersucht. Bis April 2003 wurden dem BfArM 195 Fälle gemeldet.

Website der GAA www.awmf.org/fg/gaa

Abstracts der 10. GAA-Tagung www.egms.de/de/meetings/gaa2003/index.shtml

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