Gesundheitspolitik

Kirsten und Jörg LenneckeKamikaze-Unternehmen Gesun

Lemminge legen ein seltsames Verhalten an den Tag. Aus heiterem Himmel sammeln sie sich in großen Scharen, wandern dann zusammen los, wandern auch, wenn sie an die Küste kommen, noch unbeirrt weiter, geradewegs über die Klippen hinweg und ertrinken schließlich im Meer. Dieses Verhalten, das aller Vernunft widerspricht, ist dem Vernunftwesen Mensch dennoch nicht fremd. Jedenfalls laufen wir, obwohl wir nach unserem Selbstverständnis einen freien Willen haben, seit Jahren tiefer in den Bildungsnotstand hinein, tappen in die Fallen des Gesundheits- und Rentensystems und werden vom Strudel der unprofessionellen Finanzpolitik weiter in die Tiefe gerissen.

Archaisches Verhalten

Viele Menschen, die das irrationale Verhalten der Lemminge beobachten, denken: Gut, dass wir Menschen anders sind. Wir handeln vernünftig. Wären wir einer der Lemminge, würden wir innehalten und überlegen, was wir da tun; wir würden den Unsinn erkennen, uns aus dem Strom der Masse lösen und umkehren. Macht ihr doch, was ihr wollt! Nicht mit mir!

Wir glauben, dass wir vernünftig sind. Doch was unterscheidet uns Menschen vom Tier? Wir glauben, wir hätten einen freien Willen, und stecken doch auch nur in archaischen Verhaltensspiralen von Machtkämpfen und Imponiergehabe, die wir im Tierreich überheblich belächeln.

Dieses Verhalten zeigt sich z. B. in unserem Gesundheitssystem. Hier sind die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Jahren bekannt. Die Gesundheitskosten übersteigen bei Weitem die Mittel der GKV. Seit 1989 werden "umfassende Reformen" der GKV angestrebt. Trotzdem steigen die Kosten und Versicherungsbeiträge weiter, werden allen beteiligten Leistungsanbietern immer mehr Leistungen abverlangt.

Von Jahr zu Jahr dreht sich die Kostenspirale schneller, in immer kürzeren Abständen folgen neue Reformen, neue Regelungen, Gängeleien, Auflagen, Genehmigungsverfahren, Budgets, Rabatte und andere bürokratische Hürden, die eine sinnvolle Arbeit im Gesundheitswesen immer stärker behindern.

Das Einnahmenproblem der GKV – Wer zahlt für wen?

Was sind eigentlich die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung? Die Einnahmen der GKV sind an den Faktor Arbeit gekoppelt. Wer in einem Anstellungsverhältnis arbeitet und ein Gehalt von z. Z. bis zu 45 900 Euro pro Jahr (3530 Euro pro Monat) verdient, ist sozialversicherungspflichtig und zahlt der GKV z. Z. je nach Krankenkasse ca. 14 bis 15% seines Bruttolohns, wobei der Beitrag zur Hälfte vom Arbeitgeber übernommen wird.

Jugendliche und junge Erwachsene fangen heute im Schnitt später an Geld zu verdienen und damit Versicherungsbeiträge zu zahlen als noch vor zwanzig Jahren. Statt direkt nach der 10. Klasse in die Ausbildung und damit ins Berufsleben einzusteigen, beginnen junge Erwachsene oft erst mit Ende 20 ihr Arbeitsleben nach langen Schulzeiten, Auslandsaufenthalten und Studium.

Sie sind ohne Einkommen während ihres Studiums über einen Familienbeitragszahler mitversichert, d. h., sie zahlen keine eigenen Beiträge und erhalten alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.

Das gleiche gilt für den nicht-berufstätigen Ehegatten. Und das gleiche gilt auch für Arbeitslose und Rentner. Letztendlich zahlen nur 20% der Bevölkerung Beiträge an die gesetzliche Krankenversicherung und sollen damit die Gesundheit von fast 90% der Bevölkerung finanzieren.

Bei schlechter konjunktureller Lage und hoher Arbeitslosigkeit sinken die Einnahmen der GKV. Aber auch in guter Konjunkturlage haben sich die Einnahmen verringert. Aus Wettbewerbsgründen wird zur Produktivitätssteigerung Arbeit durch Kapital ersetzt, Arbeitnehmer werden ersetzt durch Maschinen und automatische Produktion. Sinkende Wochenarbeitszeiten und Lebensarbeitszeiten belegen diese Entwicklung.

Das größte Problem der nächsten Jahrzehnte ist die demographische Entwicklung der deutschen Bevölkerung (Abb. 1). Eine geringe Geburtenrate und steigende Lebenserwartung werden dazu führen, dass Deutschland im Jahr 2035 die älteste Bevölkerung der Welt aufweist. Auf 100 Personen im Erwerbsalter kommen zurzeit 40 Rentner. Bevölkerungsstatistiker gehen davon aus, dass sich dieses Verhältnis drastisch verschiebt. Für das Jahr 2050 wird mit 80 Rentnern auf 100 Menschen im Erwerbsalter gerechnet.

Das Einnahmenproblem bleibt bestehen, wenn die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht vom Faktor Arbeit entkoppelt werden.

Das Ausgabenproblem der GKV – Unbegrenztes Leistungsangebot

Die gesetzliche Krankenversicherung zahlt bislang die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, die stationäre Versorgung im Krankenhaus, die ärztlich verordneten Arzneien, Heil- und Hilfsmittel, Vorsorge- und Rehabilitationskuren, Zahnersatz und kieferorthopädische Behandlung, Krankengeld und sonstige Leistungen, wie Fahrtkosten, Haushaltshilfen, einige alternative Behandlungsmethoden, Brillen und Kontaktlinsen (Abb. 2). Der Zahnersatz wurde erst in den Siebzigerjahren in den Katalog der Kassenleistungen aufgenommen.

Bei einigen Leistungen müssen sich die Patienten mit Zuzahlungen beteiligen. Ohne Zuzahlung sind bisher die ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen geblieben. Jedes Jahr kommen neue Leistungen in allen Ausgabengebieten hinzu, vor allem im Bereich der ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen, der stationären Versorgung und der Arzneimittel. Alle Versicherungsnehmer haben bisher unbegrenzten Anspruch auf alle Leistungen.

Die nominalen Gesundheitskosten steigen stetig an. Von 1992 bis 2001 stiegen die Gesundheitsausgaben um 38% von 163,2 auf 225,9 Mrd. Euro, pro Kopf entsprechend um 35% von 2020 auf 2740 Euro. Vergleicht man die Entwicklung der Gesundheitsausgaben mit der Entwicklung des Bruttoinlandprodukts, erkennt man jedoch kaum einen Unterschied (Abb. 3). Das heißt, die Gesundheitskosten sind im selben Maß gestiegen wie die Preise anderer Warengruppen.

Von den Gesundheitsausgaben entfielen 138,8 Mrd. Euro auf die GKV (www.destatis.de). Diese verwendet 5,5% davon, nämlich fast 4 Mrd. Euro, für die Verwaltung (Abb. 2), ist aber nicht fähig, ihre Ausgaben weiterhin durch die Einnahmen zu decken.

Medizinischer Fortschritt – Darf es ein bisschen mehr sein?

Hinter dem moderaten Preisanstieg steht ein gewaltiger Leistungsanstieg aller beteiligten Berufsgruppen im Gesundheitssystem.

Von Jahr zu Jahr werden neue Diagnose- und Therapieoptionen entwickelt und angewendet. Neue Arzneimittel werden entwickelt, erforscht und zugelassen. Neue Operationsverfahren werden entwickelt und erprobt.

Es kommen so Jahr für Jahr weitere Leistungen hinzu, die es vorher nicht gab, also kommen zusätzliche Kosten ins Spiel, die vorher nicht zu kalkulieren waren.

Durch neue, effektivere Diagnosemethoden werden heute Krankheiten diagnostiziert, die vor Jahren unerkannt und unbehandelt geblieben wären. Mit dem Einsatz der Röntgentechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann der diagnostische Fortschritt z. B. in Richtung Computertomographie, MRT, Ultraschalluntersuchungen.

Neue Therapiemethoden ermöglichten oder verbesserten entscheidend die Behandlung von Krankheiten. Die Substitution von Insulin bei Diabetes Typ 1 und die zytostatische Therapie bei Tumorpatienten sind Beispiele aus der Arzneitherapie; Organtransplantation, Gelenkimplantate, Mikrochirurgie sind Beispiele aus dem Bereich der stationären Versorgung.

Krankheiten können heute durch neue Therapien anders behandelt werden als noch vor Jahren. Hier wird nur selten die alte Therapie durch eine neue ersetzt, meist kommt die neue Therapie ergänzend hinzu (Abb. 4).

All diese zusätzlichen Leistungen werden – wie selbstverständlich – auf dem "Gesundheitsmarkt" angeboten. Alle Versicherten sollen die Möglichkeit erhalten, all diese Leistungen in Anspruch zu nehmen. Bereits minimale Vorzüge einer neuen Therapie gelten als ausreichender Grund, dieses zu bevorzugen und das ältere, vielleicht günstigere Verfahren als "überholt" abzulehnen.

Patienten fordern für sich – als sei es ihr selbstverständliches Recht – die beste, neueste, modernste Therapie. Da sie bislang nicht direkt an den Kosten beteiligt sind, interessiert die Patienten nicht, wie teuer eine Diagnosemethode, eine neue Operationstechnik, ein neues Arzneimittel ist.

Es interessiert sie auch nicht, dass es kostengünstigere Alternativen gibt, die zu ähnlichen Ergebnissen führen. Patienten interessiert es bislang auch nicht, dass sie mit gesundheitsgefährdendem Verhalten, wie Überernährung, Rauchen, Non-Compliance in der Arzneitherapie, den Erfolg der teuren Therapie wieder zunichte machen. Sie erwarten einfach nur das Beste, weil es ihnen "zusteht".

Vergleichen wir den Gesundheitsmarkt mit dem Automobilmarkt: Statt medizinischer Leistungen hätte jeder Versicherte bei Bedarf Anspruch auf ein Automodell. Dann erwarten alle Versicherten, dass ihnen das neueste, größte Mercedes-Modell zusteht. Bei sinkenden Einnahmen der Versicherung möchte niemand auf dieses Luxusauto verzichten – warum sollte gerade er sich mit einem Kleinwagen abgeben?

Aber muss es für jeden Versicherten tatsächlich ein Luxusmodell sein? Reicht nicht oft ein Kleinwagen oder ein Mittelklassewagen, um den Anspruch zu bedienen?

Wie sieht es aus, wenn sich jemand privat ein Auto kaufen möchte? Er lässt sich zunächst aufklären, welche Modelle zu welchen Preisen angeboten werden und welchen Nutzen diese Modelle bieten. Dann entscheidet er sich je nach eigenem Bedarf, eigenen Wünschen und finanziellen Möglichkeiten für ein Modell.

Wenn Patienten sich an den Kosten ihrer Therapie direkt beteiligen müssten, würden sie wie beim Kauf eines Autos den Nutzen und die Kosten gegeneinander abwägen. Der medizinische Nutzen kann nicht das einzige Kriterium sein.

Oft gibt es Behandlungsalternativen, die einen vergleichbaren Nutzen zu günstigerem Preis bieten. Patienten können allerdings nicht allein entscheiden, welche Therapie für sie medizinisch indiziert oder adjuvant sinnvoll ist. Hier brauchen sie die Hilfestellung ihres behandelnden Arztes.

Für solche Kosten-Nutzen-Entscheidungen braucht es kein neues staatliches Institut. Denn Facharztgesellschaften veröffentlichen jetzt schon regelmäßig Leitlinien zur Diagnose und Therapie. Eine Verknüpfung dieser Informationen mit den Kosten der Maßnahmen, z. B. den Tagestherapiekosten, reicht aus, um Ärzten eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben.

Ärzteleistungen im Sommerschlussverkauf

Optimale und maximale Leistung zu minimalen Preisen, das wünschen sich Krankenkassen, Gesundheitsministerien und Patienten. Deshalb werden seit 1989, seit dem Gesundheits-Reformgesetz (GRG), Preise festgesetzt, Honorare abgesenkt, Festzuschüsse und Fallpauschalen eingerichtet.

Seit 1996 gilt eine strikte Budgetierung für die Vergütung ärztlicher und zahnärztlicher Leistungen. Für alle Honorare zusammen steht ein "gedeckelter" Betrag zur Verfügung, also ein Topf voll Geld, dessen Füllung nach oben begrenzt wurde.

Die GKV überweist den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Abrechnungsstellen der Kassenärzte, einen bestimmten (niedrigen) Geldbetrag, nämlich das Budget. Das Budget wird am Ende eines Quartals unter den Kassenärzten aufgeteilt. Dabei werden ärztliche Leistungen (Abrechnungspositionen, die mit Punktwerten gekoppelt sind) nicht mit einem absoluten, sondern mit einem relativen Wert in Rechnung gestellt. Je mehr ärztliche Leistungen in Rechnung gestellt werden, desto geringer wird der einzelne Punktwert.

Durch die Anhebung des Punktwertes werden jetzt einige ärztliche und zahnärztliche Leistungen neu bewertet. Da aber das Gesamtbudget weiterhin gedeckelt bleibt, verdienen Ärzte und Zahnärzte nicht mehr Geld, sondern schöpfen nur schneller ihr Budget aus.

Bei diesem System weiß ein Kassenarzt vor der Honorarabrechnung nicht, wie viel seine Leistung wert ist und ob seine Kosten überhaupt gedeckt werden.

Kann man sich vorstellen, dass eine Autoreparaturwerkstatt einen niedrigeren Stundensatz abrechnen würde, wenn in einem Monat besonders viele Reparaturen angefallen sind? Kann man sich vorstellen, dass eventuell sogar Stundensätze abgerechnet werden, die die laufenden Kosten der Werkstatt, wie Personal, Miete, Strom, Finanzierung, nicht decken? Wohl kaum, aber von Ärzten und Zahnärzten wird es erwartet.

Ärzten und Zahnärzten wird vorgeworfen, dass sie sich keine Zeit mehr für ihre Patienten nehmen und ihre Patienten durchschleusen. Das Abrechnungssystem zwingt sie dazu. Wie im Hamsterrad behandeln sie von Quartal zu Quartal mehr Patienten, um ihren Umsatz zu erhalten.

Wie hoch sind eigentlich die Honorare für ärztliche Tätigkeiten? Für eine ärztliche Untersuchung erhält ein Arzt zwischen 6 und 12 Euro, er darf sie aber im Quartal nur einmal pro Patient in Rechnung stellen, gleichgültig wie häufig der Patient ihn aufsucht.

Gibt der Arzt dem Patienten eine intramuskuläre Spritze, so kann er diese Leistung nicht in Rechnung stellen – sie ist im Pauschalbetrag enthalten. Im Vergleich dazu: Ein Ohrloch-Stechen beim Juwelier kostet 10 Euro.

Die Wegepauschale für den Arzt beim Hausbesuch (zwischen zwei und fünf Kilometern) liegt bei 6,50 Euro; die Fahrtkostenpauschale der Telekom beträgt 35 Euro.

Eine künstliche Beatmung kann der Arzt mit ca. 20 Euro in Rechnung stellen.

Andererseits wird den Ärzten vorgeworfen, sie würden "zu viele Behandlungen vornehmen". Diese werden jedoch von ihren Patienten eingefordert. Patienten haben bislang schließlich einen Anspruch auf jede dieser Leistungen.

Der Bedarf könnte gesteuert werden, wenn Patienten finanziell an den Kosten, die sie verursachen, beteiligt würden. Patienten sind es gewohnt, dass sie bei allen Beschwerden, auch bei Bagatellebeschwerden wie Erkältung und Durchfall, zum Arzt gehen können.

Sie nehmen diesen Dienst in Anspruch, weil er kostenlos ist, weil sie nicht wissen, wie viel er "wert" ist. Ansonsten würden sie sich überlegen, ob dieser Arztbesuch sein Geld wert ist oder nicht. Bei leichten Beschwerden stehen genügend Möglichkeiten der Selbstbehandlung zur Verfügung. Patienten können sich in Apotheken zu Möglichkeiten und Grenzen der Selbstmedikation beraten lassen.

Der Einwand, der an dieser Stelle immer genannt wird, ist, dass die anteilsmäßige Beteiligung an den Arztkosten zu teuer für die Patienten würde. Sie könnten es sich dann nicht mehr leisten zum Arzt zu gehen. Am Beispiel der Heilpraktiker sieht man jedoch: Patienten sind bereit und in der Lage, für ihre Gesundheit Geld auszugeben.

Ist es nicht eine seltsame Schieflage, dass Patienten gute ärztliche Leistungen wenig wertschätzen, weil sie "kostenlos" sind, während sie für oft fragwürdige Heilmethoden bei Heilpraktikern hohe finanzielle Eigenbeteiligungen leisten?

Arzneimittel zum Schnäppchenpreis!

Seit 14 Jahren sind Arzneimittelpreise im Visier der Sozialpolitiker:

  • 1989 Einführung der Festbeträge für Arzneimittel. Für eine Reihe der wichtigsten Wirkstoffe bezahlen Krankenkassen nur noch maximal den festgesetzten Betrag. Alles, was darüber liegt, bezahlt der Patient aus eigener Tasche. Die Arzneimittelpreise wurden in kürzester Zeit diesen Festbeträgen angepasst, also auf Festbetragsniveau gesenkt. Die Arzneimittelhersteller hielten sich schadlos, indem sie die Preise für andere Arzneimittel, die noch unter Patentschutz standen, stark anhoben.
  • Herausnahme der Arzneimittel zur Behandlung von Bagatellerkrankungen aus der Erstattung. Die vordergründig vernünftige Selbstmedikation, z. B. bei Erkältungskrankheiten, umgehen die Patienten, indem sie ihre Beschwerden – auch bei leichten Symptomen – ärztlich abgeklärt haben möchten. Der Arzt möchte kein Risiko eingehen und behandelt zur Sicherheit auf Verdacht eine Angina, eine Bronchitis, eine Sinusitis, die weiterhin in seinen Zuständigkeitsbereich fallen.
  • Erhöhung der Patientenzuzahlungen (Tab. 1). Mit der derzeit geltenden packungsgrößenabhängigen Zuzahlung wurde erreicht, dass Patienten bevorzugt große Packungen verlangen, weil sie damit am meisten fürs Geld bekommen. Erhöhungen der Arzneikostenzuzahlungen hatten deshalb jeweils nur kurze Effekte auf die GKV-Ausgaben für Arzneimittel (Abb. 5).
  • Reimport und Aut-idem-Austausch von Arzneimitteln. Die Qualität der Arzneimitteltherapie fällt, wenn Patienten, die zur Behandlung mit einem Arzneimittel eingestellt sind, immer wieder andere – wenn auch wirkstoffgleiche – Arzneimittel ausgehändigt bekommen. Schwankende Wirkstoffspiegel, Verträglichkeitsprobleme mit Hilfsstoffen, Verwechslungsgefahr führen zu einem Qualitätsverlust, der eine aufwändigere Beratung erforderlich macht.

Mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG) wurde die Bezahlung für die zu Lasten der GKV verordneten Arzneimittel um 6 bis 10% gekürzt – und damit die Gewinne der Apotheken um ca. 40% geschmälert. Durch Umstrukturierungen wie Versandhandel und Kettenapotheken soll der Preis der Arzneimitteldistribution weiter gesenkt werden.

Dabei haben wir im internationalen Vergleich eine äußerst niedrige Apothekenhandelsspanne von zurzeit 17,9%. Länder mit Versandhandel oder Kettenapotheken haben sogar einen höheren Apothekenanteil am Arzneimittelpreis als Deutschland.

Die Apotheken sollen alle Leistungen, von der schnellen Arzneimitteldistribution bis hin zu Beratung und Betreuung, zu immer geringeren Preisen erbringen. Dabei haben sie keinen Einfluss auf die verordnete Menge der Arzneimittel. Sie sind verpflichtet, alle ankommenden Rezepte zu beliefern und den Patienten in ausreichender Weise zu informieren und zu beraten, gleichgültig, ob sie bei der Abrechnung des Rezepts daran verdienen oder draufzahlen.

Falsche Leitsätze

Wir glauben verstandesgemäß zu handeln, doch tatsächlich richten wir uns oft nach falschen Leitsätzen, die seit Generationen im Umlauf sind und einer rationalen Problemlösung immer wieder im Weg stehen:

1. Ärzte und Apotheker handeln aus Idealismus – Geld spielt keine Rolle. Geld scheint in Arztpraxen keine Rolle zu spielen. Die Abrechnung der ärztlichen Honorare findet fast immer über neutrale Abrechnungsstellen statt, sodass der Arzt dem Patienten nicht als jemand entgegentritt, der finanzielle Forderungen stellt. Zahnärzte haben sich seit Jahren aus diesem Spiel ausgeklinkt und sind darin geübt, Kostenreduktionen der Krankenkassen durch Privatabrechnungen auszugleichen.

Auch viele Apotheker möchten, dass Geld keine Rolle spielt. Im Apothekenjargon spricht man nicht vom Verkauf, sondern von der Abgabe des Arzneimittels, von Einlösen und Belieferung des Rezeptes. Apotheker entschuldigen sich immer wieder für die Höhe der Arzneimittelpreise oder der Zuzahlungen mit den Worten: "Wir können nichts dafür, wir haben die Preise nicht festgesetzt."

2. Ärzte und Apotheker, die von Geld reden, arbeiten aus schlechten Motiven. Die konsequente Folge des ersten Verhaltensgrundsatzes ist, dass allen Ärzten und Apothekern, die ihre Kostendeckung, Bezahlung, Honorare einfordern, vorgeworfen wird, sie seien Egoisten. Wer ans Geld denkt, kann kein guter Arzt sein ...

3. Reicher Arzt und reicher Apotheker – das können nur Betrüger sein! Eine weitere Folge dieser Leitsätze ist: Reichtum bei Ärzten und Apothekern ist ein schlechtes Zeichen für deren Arbeit und Charakter. Wenn es einem Patienten schlecht geht, ist er bereit, alles dafür zu geben, um wieder gesund zu werden. Ist er aber geheilt, hat er oft alle Dankbarkeit vergessen und missachtet die Kunst der Behandlung.

Das nächste Mal kauft er sich vielleicht das Arzneimittel im Internet – dafür braucht er Arzt und Apotheker doch gar nicht! Warum musste er als Patient so viel bezahlen? Und warum besitzen Arzt und Apotheker mehr als der Kioskbesitzer an der Straßenecke? Haben sie nicht ihre Patienten schamlos ausgebeutet?

4. Wer mehr hat, der muss abgeben. Diesen Leitsatz lernen Kleinkinder im Umgang miteinander: ein Bonbon abgeben, einen Apfel teilen, ein Spielzeug ausleihen. Auch viele Erwachsene denken so: Wer mehr oder besser verdient, wird oft schräg angesehen. Arbeitgeber sind von vornherein suspekt: Sie benutzen die Arbeitskraft ihrer Arbeitnehmer, um sich zu bereichern. Die freie Marktwirtschaft hat jedoch andere Grundsätze, nämlich: "Wer viel leistet, soll auch viel verdienen. Leistung muss sich lohnen."

5. Streitkultur à la "Schwarzer Peter" Als wenn das nicht genug störende Leitsätze wären, die ein faires Miteinander im Gesundheitssystem erschweren, kommt jetzt noch die fehlende Streitkultur hinzu. Sobald irgendwo Probleme auftreten oder ein Fehler entdeckt wird, heißt es sofort von allen Seiten: "Ich war's nicht! Der andere war's!"

Dieses Verhalten findet sich in Kindergärten und Schulen, in Praxis- und Apothekenteams und auch in der Diskussion um die Gesundheitspolitik. Statt gemeinsam nach rationalen Lösungen zu suchen, schiebt man den "Schwarzen Peter" weiter. So schieben sich Ärzte und Apotheker gegenseitig die Schuld an den zu hohen GKV-Ausgaben zu, anstatt zu erkennen, dass das System an sich krankt und ganz andere Eingriffe erfordert, als es bis jetzt der Fall war.

Für eine Reform mit Qualität

Wir brauchen die Prinzipien der freien Marktwirtschaft für alle Beteiligten des Gesundheitssystems.

Alle Leistungsanbieter müssen dazu stehen, dass eine Praxis, eine Apotheke oder ein Krankenhaus nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen ist. Dazu gehört es, Honorare zu errechnen, die kostendeckend sind, und sie auch in Rechnung stellen zu können.

Das bedeutet z. B. für Arzneimittel einen preisunabhängigen Aufschlag auf jedes Medikament, der sich aus der mittleren Beratungszeit und der Kostenstunde eines Apothekers ergibt. Die Rechnungen müssen vom Patienten beglichen werden, unabhängig davon, was ihm seine Krankenkasse erstattet.

Für die Bewertung des Nutzens einer Therapie braucht niemand ein zusätzliches staatliches Institut. Ärzte entscheiden sich schon heute nach Empfehlungen und Leitlinien ihrer Fachgesellschaften, die aktuelle Studien beurteilen und – wenn möglich – evidenzbasierte Entscheidungshilfen vorgeben. Der behandelnde Arzt soll auch weiterhin entscheiden, welche Therapieoptionen für jeden einzelnen Patienten in Frage kommen.

Die anfallenden Kosten einer jeden Leistung im Gesundheitssystem müssen offengelegt werden. Der Patient muss an Hand der Abrechnung den Wert seiner Behandlung erkennen können. Die Kosten müssen – mit Ausnahme von Notfällen – vor Beginn der Behandlung bekannt gegeben werden. Im Fall der Arzneitherapie sollten Arzt und Apotheker neben deren medizinischem Nutzen auch die Kosten darlegen können, um gemeinsam mit dem Patienten eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen.

Um zu einer realistischen Kosten-Nutzen-Rechnung zu kommen, muss der Patient an allen anfallenden Kosten prozentual beteiligt werden. Er rückt aus seiner Rolle als "Gesundheitskonsument" heraus und bekommt zum ersten Mal die volle Verantwortung für sein Handeln.

Die motivierte Mitarbeit des Patienten ist in der ambulanten Behandlung oft entscheidend für den Therapieerfolg. Je erfolgreicher die Therapie verläuft, desto geringer sind die Kosten für Patient und Gesundheitssystem. Wenn er aber z. B. teure Arzneimittel auf Vorrat holt und hortet, wenn er seine Arzneitherapie sporadisch oder nach selbst gewählten Dosierungen durchführt, wenn er die Therapie unterbricht, verhält er sich gesundheitsschädigend und verursacht unnötig Kosten.

Bei seiner Therapie braucht der Patient begleitende Unterstützung bei allen Zweifeln, Fragen und therapiebezogenen Problemen, die im Verlauf der Behandlung auftreten können. Eine Betreuung dient auch als Qualitätskontrolle. Bei nicht ausreichender Wirksamkeit oder totalem Therapieversagen kann die Therapie frühzeitig korrigiert werden.

Qualität in der Therapie bedeutet nicht, das Therapieangebot generell zu beschränken, sondern gute Therapieergebnisse zu erzielen.

Lemminge – wie geht's weiter?

Seit Jahren sind die Probleme des Gesundheitssystems bekannt, und trotzdem laufen wir mit halbherzigen, unsinnigen Reformgesetzen weiter ins Verderben. Nach GRG (1989), GSG (1993), Beitragssatzentlastungsgesetz (1997) und BSSichG (2002) geht es weiter; eine echte Reform ist nicht in Sicht.

Das Bundesgesundheitsministerium hält unser Gesundheitssystem wegen Über-, Unter- oder Fehlversorgung für völlig ineffektiv. Die Patienten hingegen schätzen die Leistungen ihrer Ärzte und Apotheker. Nicht nur aus Kostengründen kehren sie im Notfall zur ärztlichen Behandlung aus dem Urlaub nach Deutschland zurück, anstatt sich im Ausland behandeln zu lassen.

Qualitätskontrolle ist ein Schlagwort neuer Reformvorhaben. Doch es geht dabei weniger um Qualitätsverbesserung als um Leistungsbeschränkung und Kosteneinsparung. Dem geplanten "Deutschen Zentrum für Qualität in der Medizin" dient das britische NICE (National Institute for Clinical Excellence) als Vorbild.

Dahinter stehen neue Kontrollinstanzen, neue Bürokratie, weniger Zeit und Geld für medizinische Leistungen. Big Brother und das Ministerium für Wahrheit aus George Orwells Roman "1984" lassen grüßen.

Mehr Wettbewerb ist ein anderes Schlagwort der Politiker – gemeint ist aber nicht freier Wettbewerb für alle Teilnehmer des Gesundheitssystems, sondern gemeint sind Verträge der Krankenkassen mit einzelnen Ärzten und Apothekern. Dadurch würde ein Franchise-System installiert, das einem staatlichen Gesundheitssystem gleichkommt.

Arzt und Apotheker bekämen ein Fixum wie ein Angestelltengehalt, tragen aber das volle wirtschaftliche Risiko ihres Unternehmens. Sie wären in ihren Entscheidungen nicht mehr frei, sondern der Willkür von Politik und Krankenkassen ausgeliefert.

Beitragssatzsenkung lautet seit Jahren das Ziel der Reformvorhaben. Dieses Ziel wird ständig verfehlt, doch bringt das irgend jemanden dazu, dieses Ziel zu hinterfragen? Oder gar für falsch zu halten?

Von den Leistungserbringern im Gesundheitswesen wird Jahr für Jahr eine höhere Produktivität erwartet. Doch das Ende des Weges ist bald erreicht.

Also, sind wir Lemminge? Springen wir ins Wasser? Oder halten wir endlich an, schütteln verwundert den Kopf, dass wir so weit kommen konnten, und suchen uns einen neuen Weg? Einen gangbaren Weg, auf dem Patienten nur die Leistungen einfordern, die notwendig und bezahlbar sind. Einen vernünftigen Weg, auf dem Ärzte, Zahnärzte, Apotheker bei fairer Honorierung die vom Patienten anerkannten Leistungen erbringen.

Die grundsätzlichen Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit Jahren bekannt. Seit 1989 werden "umfassende Reformen" angestrebt, die jedoch nur an den Symptomen kurieren und an den Strukturfehlern des Systems kaum etwas ändern. Die Ansprüche der Patienten steigen, die Leistungsanbieter werden durch Budgets, Rabatte und Regelungen immer mehr gegängelt, die Versicherungen machen immer mehr Schulden. Sind wir wie die Lemminge, die geradewegs ins Verderben laufen? Unsere Autoren meinen: Es ist höchste Zeit für eine wirkliche Reform

Wie die Lemminge … Lemminge (Lemmus lemmus) sind Meerschweinchen-ähnliche Nagetiere von knapp 15 cm Länge. Sie gehören zur Familie der Wühlmäuse und leben in Skandinavien, Grönland und Russland. Alle vier Jahre vermehrt sich die Population der Lemminge explosionsartig, sodass das Nahrungsangebot für die Tiere knapp wird.

Bei Nahrungsknappheit wandern viele Lemminge los, um sich ein neues Territorium zu suchen. Dabei folgen sie wie unter Zwang immer einer Richtung. Viele Lemminge sterben unterwegs an Erschöpfung, als Beute ihrer Fressfeinde oder in Gewässern, wenn sie das andere Ufer vor Schwäche nicht mehr erreichen. Dass sie sich über die Klippen ins Meer stürzen, gilt allerdings als Märchen.

Langer Weg zur Niederlassung Vor seiner Approbation hat ein Arzt fünfeinhalb bis sechs Jahre lang studiert, ein praktisches Jahr absolviert und anderthalb Jahre als Arzt im Praktikum gearbeitet, also mindestens acht Jahre weitgehend auf ein eigenes Einkommen verzichtet. Erst nach der anschließenden vier- bis fünfjährigen Weiterbildung kann er eine Facharztpraxis eröffnen.

So kann es nicht sein {te}Ärzte und Apotheker arbeiten nur, weil sie anderen Menschen helfen wollen. Allein der glückliche Blick des Geheilten gibt ihnen die Bestätigung, es richtig gemacht zu haben, und die Kraft, weiterzumachen und sich dem nächsten Patienten zu widmen. Sie (be-)handeln einzig und allein aus Altruismus und Nächstenliebe.

In der Politik gibt es eine goldene Regel: Der Name einer Einrichtung steht fast immer für das Gegenteil dessen, was sie bewirkt.

Stephen Pollard, in: "Rationierung statt Erstklassigkeit in der Medizin", FAZ Nr. 144 vom 25. Juni 2003, S. 12

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.