DAZ-Feuilleton

Hilfsorganisation Calcutta Rescue – den Atem Indiens erfahren

Wohl jedermann zittern die Knie bei der ersten Fahrt vom Flughafen in den scheinbar grenzenlosen, sich jeder Beschreibung entziehenden Moloch Calcutta (seit 2000 amtlich: Kolkata). Auf der rund einstündigen Fahrt mit dem Taxi kann ich meinen Blick kaum von dem wild chaotischen Straßenbild lösen. So viele Menschen! So viele Fahrzeuge aller Art, die hupen, hupen, hupen, klingeln Ų dagegen ist Berlin-Mitte ein Kurort!

Herausforderung: im Chaos überleben

Da ist er, der Atem Indiens – gleich vom ersten Moment an: dieser Geruch, diese Farben, dieser Krach. Alles von unerträglicher Neuheit. Wo ist oben – wo ist unten? Das wissen auch die schon eingelebten Volontäre der Hilfsorganisation Calcutta Rescue nicht zu sagen. Aber immerhin wissen sie, wie man lebendig die Straße überquert! Dies – und noch viel mehr – werde ich in den nächsten Wochen zu lernen haben. Es klingt so simpel: Die größte Herausforderung dieses Aufenthaltes ist das Überleben im indischen Alltag. Wie gut, dass ich da "meine Familie" – die übrigen europäischen Volontäre – habe. Wir essen, arbeiten, feiern, reisen zusammen, pflegen uns bei Krankheit gegenseitig (an manchen Tagen fragen wir uns scherzhaft, ob wir im Hotel oder in einem Krankenhaus wohnen!).

Da sind die Krankenschwestern aus England, Frankreich, Deutschland und Holland; die Fußpflegerin und die AdministratorInnen aus England; die deutschen und irischen ApothekerInnen. Dazu immer wieder "exotische" Unterstützung aus nicht gesundheitsrelevanten Berufsgruppen: Englischlehrer, KünstlerInnen für "Art classes", SchülerpraktikantInnen, Computerspezialisten. Es ist ein buntes fideles Völkchen – habe ich jemals so ausgelassen gefeiert? – und zugleich ein eingeschworenes Team – habe ich jemals so hart gearbeitet?

Ein Arbeitstag beginnt mit dem Aufstehen um halb acht. Dann Frühstück in Curd's Corner. U-Bahnfahrt (oh himmlische Ruhe!) in den Norden der Stadt. Ein kurzer Fußweg, der es in sich hat: Er allein kostet dich 25% deiner Tagesenergie – welch ein unbeschreibliches infernalisches Verkehrschaos bei 35 °C, 97%iger Luftfeuchtigkeit und unvorstellbaren Menschenmassen.

Oase Apotheke

Aber dann, mit Pasolini im Herzen, dem Mutschler im Arm und dem Martindale im Regal, sitze ich in einem kleinen Kämmerchen, das sie hier "Pharmacy" nennen, und bin glücklich. Dies ist die kleine Oase der Ruhe – und Ordnung, bester Apothekerordnung. Hier weiß ich, wo oben und unten ist. Hier stehen rundum säuberlich beschriftete Regale mit sauber eingeordneten Medikamenten auf vielleicht 16 Quadratmetern. Dazu gibt's einen echten Computer, einen Drucker und sogar ein Telefon!

Natürlich ist Indien nicht Europa. Auch im Apothekenwesen ist vieles anders als daheim in Berlin. Mit ist gleich klar: Hier werden Arzneimittel und Apotheker unter nicht immer optimalen Bedingungen "gelagert". Ohne den riesigen, leistungsstarken Ventilator ginge gar nichts. Die Lagertemperaturen liegen aber trotzdem über 25 °C.

Der Schweiß fließt unaufhörlich. Unschön ist die in kürzester Zeit alles überziehende und ruinierende Schicht aus Staub und Feuchtigkeit – doch kein Putzen der Welt kommt gegen sie an! Auch nicht gegen die Mäuse, die Kakerlaken, die Termiten. Dazu das Damoklesschwert des Stromausfalles, das immer wieder zustößt. Während meines Aufenthaltes fallen der Kühlschrank und der Computer mehrmals aus – Impfstoffe und wichtige Daten gehen verloren.

Und dennoch: Dies ist – davon bin ich überzeugt – eine der besten Apotheken der Region: Es gibt alle notwendigen Medikamente – weit mehr, als die WHO list of essential drugs vorsieht – und einen schnellen kompetenten Service. Dafür sorgen seit Jahren (hauptsächlich deutsche) freiwillige ApothekerInnen, die diese kleine Apotheke als Teil des Armenhilfeprojektes Calcutta Rescue aufgebaut haben und ständig weiterentwickeln.

Leute, die helfen wollen

Was sind das für Leute, die so etwas tun? Das war eine meiner dringlichsten Fragen in der Vorbereitungszeit. Nun, in meinen acht Monaten habe ich mit folgenden ApothekerInnen zusammengearbeitet:

  • Meine Berliner Vorgängerin Inga (28) hat mich vier Wochen lang eingearbeitet, bevor sie zurück nach Deutschland ging, wo sie jetzt in einer öffentlichen Apotheke arbeitet.
  • Der 1-Monats-Volontär Andreas (25) ging kurz nach meiner Ankunft nach England, um dort seinen Ph. D. zu machen.
  • Dann kam Verstärkung aus dem Süden: Elisabeth ließ sich von ihren 50 Jahren nicht davon abhalten, Indien zu erleben – und mich zwei Monate lang zu unterstützen.
  • Jutta (25) war drei Monate da – jetzt sitzt sie in Tübingen und arbeitet an ihrer Doktorarbeit.
  • Nachdem ich ein paar Wochen "allein" gewesen war, wurde es mit dem Iren Brian (24) zünftig. Er hatte sein Deutsch bei einem Praktikum in einer Münchener Brauerei gelernt!
  • Und schon war auch meine Nachfolgerin Ruta (28) da, die nun ich zwei Monate lang einarbeiten konnte ...

Ein volles Haus

Bisher war nur von Europäern die Rede. Gab es auch Kontakt zu Indern? Ja, natürlich, und zwar reichlich und bereichernd! Das Haus No. 10, in dem die Apotheke untergebracht ist, ist vor allem eine Schule für 120 wuselige Slumkinder. Überall sitzen Schülergruppen herum und lernen. Direkt vor der Apothekentür wird für sie in einem Riesentopf jeden Morgen stundenlang gekocht, später essen sie dann in Schichten – für viele ist es die einzige volle Mahlzeit des Tages. Danach putzen sie unter strenger Aufsicht die Zähne. Eine Lehrerin drückt jedem Schüler Zahnpasta auf seine Bürste ...

In der Schule arbeiten auch eine Kinderärztin, diverse Hilfskräfte und der sehr agile Hausmeister Singh. Eine Lieblingsbeschäftigung von Herrn Singh ist das Versprühen von Insektengift. Großzügig nebelt er alles ein, was ihm unter die Finger kommt – und wer einmal nichts ahnend einen Karton geöffnet und statt der Kontrazeptiva nur ein weißes widerliches Gewimmel (Termiten!) vorgefunden hat, der ist fast geneigt ihm zuzustimmen.

Und natürlich – wir sind in Indien – sind da noch alle möglichen alten, blinden oder sonst wie ausgestoßenen Leute, die in diesem Haus ihr Asyl gefunden haben und im Laufe der Jahre untrennbar mit ihm verwachsen sind. Keiner kann sich mehr erinnern, woher sie kommen, seit wann sie da sind. Sie sitzen den ganzen Tag irgendwo auf ihrem Stuhl, in einer Ecke, einem Gang. Sie passen auf oder machen sich sonst irgendwie nützlich. So hat ein Mann mit einem verkrüppelten Fuß die Aufgabe, die Schulglocke zu läuten – ein sehr verantwortungsvoller Posten, der ihn voll ausfüllt. Mehr Leute, als man glauben kann, wohnen im Haus. Irgendwo liegt ihre Matte, die sie nachts ausrollen. Auch sie bekommen ihre Mahlzeit in No. 10.

Hilfe durch Ausbildung

In den Jahren zuvor waren alle Versuche gescheitert, einen festen indischen Mitarbeiter für die Apotheke – in einer der PKA vergleichbaren Position – zu finden. Er sollte Kontinuität bringen und den Apotheker von Routineaufgaben entlasten. Ich hatte den Auftrag, einen neuen Bewerber auszuwählen und mit seiner Ausbildung zu beginnen. Diese Aufgabe lag mir, denn das Wissen, das ich würde vermitteln können, würde bleiben und vielleicht eines Tages einen europäischen Entwicklungshelfer überflüssig machen, ganz entsprechend der Philosophie moderner Entwicklungshilfe (Stichwort: Nachhaltigkeit).

Das Abenteuer begann: Ein bis zwei Tage in der Woche kam Robin in die Apotheke. Ausgestattet mit wenigen Jahren indischer Schulbildung und mageren Englischkenntnissen, aber mit höchster Motivation und dieser so indischen Sanftmut und Geduld, lernte er die Lagerkontrolle mittels Computer einschließlich Verfalldatenüberwachung, die Auswahl des günstigsten Anbieters bei Bestellungen, die Grundlagen der Pharmakologie, Wissen über Gefahrstoffe – und ach so vieles mehr. Mir hat es Spaß gemacht – es war eine unvergessliche Erfahrung.

Calcutta Rescue

Die Hilfsorganisation Calcutta Rescue unterhält seit 1979 in und um Kalkutta vier ambulante Kliniken, drei Schulen sowie Berufsbildungseinrichtungen. Calcutta Rescue verbessert die Gesundheits-, Ausbildungs- und Lebensbedingungen mittelloser benachteiligter Menschen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Kaste. Die Organisation finanziert sich ganz überwiegend aus Spenden aus Europa.

Kontakt: Calcutta Rescue, Johann-Karg-Straße 4 d, 85540 Haar www.calcutta-rescue.de

Zitat

In jedem Augenblick gibt es diesen Geruch und diese Farbe, dieses Gefühl, das Indien bedeutet – jedes auch noch so unbedeutende Merkmal birgt eine Last fast unerträglicher Neuheit. Pier Paolo Pasolini, "Der Atem Indiens"

Aktuell

Calcutta Rescue sucht eine Apothekerin oder einen Apotheker ab Mitte Oktober 2003 für etwa neun Monate als neuen Mitarbeiter in Kalkutta. Interessenten wenden sich bitte an: Katrin Mielck, Tel. 0 30 – 7 86 27 63 Cornelia Witzel, Tel. 03 41 – 5 64 17 36

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